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„Es gab eine klare politische Priorität. Es gab einfach keine Alternative dazu.“

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Titel: „Es gab eine klare politische Priorität. Es gab einfach keine Alternative dazu.“

Das Coronavirus zwang die öffentliche Verwaltung zu einer Digitalisierung aus dem Stegreif heraus. Wie gut ist ihr das gelungen? Die Konstanzer Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin Prof. Dr. Ines Mergel schildert im Interview, welche Kompetenzen nun besonders gefordert sind und was entscheidend ist, um den Digitalisierungsschub in die Zeit nach der Krise zu übertragen.

Prof. Dr. Ines Mergel ist Professorin für Public Administration an der Universität Konstanz. In ihrer Forschung und Lehre analysiert und begleitet sie die digitale Transformation in der öffentlichen Verwaltung.

Prof. Mergel, die öffentliche Verwaltung war durch das Coronavirus gezwungen, sich aus dem Stegreif in einen digitalen Modus zu versetzen. Wie gut ist ihr das gelungen? 

Ines Mergel: Wo die E-Akte eingeführt war, ging alles relativ problemlos. Da sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einfach los, haben sich ihre Laptops und docking stations genommen und sich zu Hause eingestöpselt, hatten teils auch bereits flexible Arbeitszeiten. 

Wo die E-Akte hingegen nicht eingeführt war, wo auch überhaupt keine Flexibilität in Sachen Home Office vorab schon bestand, war ein großer Lernprozess nötig. Da gibt es teils noch immer Behelfslösungen und es ist holprig – weil die Kommunen nicht darauf ausgelegt waren, ihren Beschäftigten parallel einen Arbeitsplatz zu Hause einzurichten. Da ging es dann am Anfang vermehrt darum: „Wie bekommen wir die physischen Akten aus der Poststelle nach Hause?“ Es wurden tausende von Laptops angeschafft.

 

Die Herausforderung bestand also darin, die etablierte Präsenzkultur der Verwaltung zu überwinden.
 

Ines Mergel: Richtig, in der deutschen Verwaltung ist ja zunächst alles physisch vorhanden: Wir haben physische Akten, müssen physisch in das Gebäude gehen, physisch unsere Unterschrift bei einem Verwaltungsakt hinterlassen. Es gibt bestimmte Verwaltungsakte, die einfach nicht online durchzuführen sind, zum Beispiel Trauungen: Da müssen einfach beide vor dem Standesbeamten stehen.

Wie kann das dann von einem Tag auf den anderen funktionieren, dass eben die gesamte Verwaltung gemäß Coronaverordnung ins Home Office geschickt wird? Was ich da erlebt habe, ist, dass die Mitarbeitenden unglaublich kreativ sind. Sie lassen sich auf ad hoc-Lösungen ein. Prioritäten wurden geändert, Workarounds gefunden. Beispielsweise hat es die Rentenversicherung geschafft, ihre Beratung jetzt als Videoberatung anzubieten, Unterlagen konnten als Anhang per E-Mail eingereicht werden. Bei all dem wäre es vorher undenkbar gewesen, darüber überhaupt zu sprechen – diese Kanäle gab es in der Verwaltung einfach nicht. Sie hätte eher auf ein Fax verwiesen, als die E-Mail als Medium zu nutzen.

Was wir aber auch gesehen haben, ist, dass es vor allem Insellösungen gibt: Jedes Ministerium trifft seine eigene Entscheidung, hat seine eigenen Tools. 

https://www.youtube.com/watch?v=eDwIBbCrD4w&feature=youtu.be
Video 1 - Bedingungen

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Audio-Statement: "Ganz wichtig war der politische Druck, der aufgebaut wurde."

Europaweit stieß auf Beachtung, wie schnell in Deutschland die Hilfsgelder ausgezahlt wurden.
 

Ines Mergel: Quasi über Nacht hat die deutsche Verwaltung eine Soforthilfe geschaffen, und das im buchstäblichen Sinne. So konnten die Bürgerinnen und Bürger am Freitag den Antrag stellen und hatten am Montag das Geld auf dem Konto. Da gab es unterschiedliche Gründe, warum das funktionieren konnte. Entscheidend war: Es gab eine ganz klare politische Priorität. Es gab einfach keine Alternative dazu, den Menschen das Geld zu geben, damit sie einkaufen und ihre Miete bezahlen können. Die Alternative wären soziale Unruhen gewesen.

Ähnlich wie in der Flüchtlingskrise 2015 wurde politischer Druck aufgebaut und gesagt: „Wir mobilisieren jetzt alle Ressourcen, die wir haben.“ Die Budgets gab es schon. Die Digitalisierungsbudgets mussten auf Bundesebene also nicht überbelastet oder aufgestockt werden. Der Bund hat sich mit den Ländern koordiniert, das Bestehende genommen, darin die Prioritäten geändert und Entscheidungen sehr pragmatisch getroffen. Das heißt aber auch, dass andere Projekte auf die lange Bank geschoben wurden. 

Das Interessante ist, dass nicht wie üblich auf Risikominimierung gesetzt wurde. Die deutsche Verwaltung hat ja sonst diese Null-Fehler-Kultur, es wird geschaut: „Was sind mögliche Ausnahmen, die wir noch mit einem zusätzlichen Formular abdecken müssen?“ Dabei wurden Risiken in Kauf genommen, zum Beispiel wurde auf Nutzertests verzichtet. Das kann jetzt natürlich zu Lasten der Nachhaltigkeit gehen, weil diese Systeme eben nicht für die Ewigkeit gebaut sind.

Im europäischen Vergleich gilt Deutschland als langsam und zögerlich, was die Digitalisierung der Verwaltung angeht. Trotzdem steht die Deutsche Verwaltung auf einen Schlag im Rampenlicht der EU-Mitgliedsstaaten. 


Ines Mergel: In der Presse wurde geschrieben, dass es so erstaunlich sei, wie Deutschland jetzt auf einmal eine „Effizienzmaschine“ geworden ist. Ich glaube ganz fest, dass das gar nicht so sehr einen technologischen Grund hat. Entscheidender waren der politische Wille und der politische Druck. 

Ich fand auch vorher bereits, dass die öffentliche Verwaltung in Deutschland sehr gut gearbeitet hat. Das zeigt sich daran, dass wir der Verwaltung im Grunde sehr vertrauen. Checks und Balances, Accountability und Rechenschaftspflicht – so etwas funktioniert einfach. Die Verwaltungsprozesse sind sehr belastbar, sie funktionieren im Großen und Ganzen – und was offline funktionierte, konnten wir mit relativ wenig Mühe online bereitstellen.

Im Vergleich zu Ländern wie Estland, Dänemark oder Österreich sind wir nur eben relativ langsam mit der Einführung der E-Akte – und wir machen das mit reichlich Präzision: Alle müssen ein Mitspracherecht haben und es müssen alle Eventualitäten abgebildet sein. Das führt dazu, dass es eben bisher relativ langsam gelaufen ist. 

"Deswegen glaub ich auch, dass Deutschland im Mittelfeld einsortiert werden kann, was die Digitalisierung angeht: Wir sind berechtigt gutes Mittelmaß."
 

- Prof. Dr. Ines Mergel, Professorin für Public Administration an der Universität Konstanz

Welche Rolle spielte das Online-Zugangsgesetz (OZG) in der Krise?
 

Ines Mergel: Das Online-Zugangsgesetz ist die rechtliche Grundlage, mit deren Hilfe 575 öffentliche Dienstleistungen digitalisiert werden. Ein unglaublich umfangreiches Reformvorhaben, das aus meiner Sicht kein anderer Staat so umfassend gemacht hat. Die 575 Dienstleistungen wurden nach Lebenslagen kategorisiert, diese Lebenslagen wurden wiederum jeweils in 14 Digitallaboren deutschlandweit abgebildet. Was da gelernt wurde, sind neue Formen der Zusammenarbeit mit verwaltungsexternen Zielgruppen – wie unterschiedliche Stakeholder aus der Zivilgesellschaft, Wirtschaft und weiteren Sektoren mit eingebunden werden können, so dass Verwaltungsdienstleistungen nicht mehr nur aus der internen Sicht der Verwaltungsmitglieder gestaltet werden. Aus meiner Sicht war die OZG-Umsetzung eine gute Übung für den Ernstfall jetzt.

Die Digitalisierung der Verwaltung ist nicht allein eine technische Frage.

Ines Mergel: Aus meiner Sicht ist die digitale Transformation der Verwaltung kein technisches Problem, sondern eher eine kulturelle Herausforderung. Natürlich brauchen wir die technische Ausstattung, aber das sind relativ niederschwellige Hürden. Was wir erreichen müssen, ist, die organisationale Bereitschaft und das richtige „Mindset“ dafür aufzubauen. Die Organisationen müssen den Kontext, also die richtigen Rahmenbedingungen für digitale Arbeitsweisen schaffen: Dass es flexible Arbeitszeiten gibt, dass das Home Office tatsächlich auch als offizieller Dienstort anerkannt wird, aber auch Tarifverträge und Arbeitsanweisungen, die dies unterstützen. 

Welche persönlichen Kompetenzen sind entscheidend?

Ines Mergel: Natürlich müssen die Organisationen auch den internen Kernkompetenzausbau vorantreiben. Es scheitert aus meiner Sicht nicht daran, dass die Beschäftigten nicht wissen, wohin sie klicken müssen. Es mangelt meistens an der Führungskompetenz.

Für die digitale Arbeitskultur benötigen wir eine Führungskompetenz, die sich eher in Richtung servant leader verschiebt: Also eine unterstützende oder „dienende“ Führungskraft, die eher dafür da ist, um die richtigen Bedingungen für die täglichen Problemlösungen zu schaffen.

"Ein wichtiges Thema ist die Mitarbeiterführung im Home Office, also die Vertrauenskultur. Wenn diese vorher nicht angelegt war, dann fällt es natürlich schwer, wenn eine Führungskraft ihre Mitarbeitenden nicht mehr täglich sieht."

- Prof. Dr. Ines Mergel, Professorin für Public Administration an der Universität Konstanz

Wie sieht es auf Ebene der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus?

Ines Mergel: Im Bereich der individuellen Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist es wichtig, die „digitale Gewandtheit“ oder „digital fluency“ herzustellen: Gemeint ist die Bereitschaft, neue Tools auszutesten, eher lösungsorientiert an Probleme heranzugehen und nicht zu sagen: „Ich hab das einmal so gelernt, das muss so bleiben.“

Benötigen wir eine Reform der Verwaltungsausbildung? 

Ines Mergel: In der traditionellen Verwaltungsausbildung, die vor allem von Verwaltungshochschulen geleistet wird, ist das Thema Digitalisierung an sich gar nicht verankert – es ist eine sehr homogene Ausbildung. Das muss im historischen Kontext gesehen werden: Gewünscht ist ja Verwaltungspersonal, das sehr gut darin ausgebildet ist, die Gesetze zu interpretieren und den eigenen Handlungsspielraum zu kennen – so dass wir uns darauf verlassen können, dass jeder sehr ähnliche Entscheidungen trifft und die Bürger hoffentlich überall gleich behandelt werden. Dadurch wurde eine sehr gestreamlinte Ausbildung geschaffen, was im Grundsatz zunächst sehr gut ist.

Was ich mir wünsche – auch für unsere Verwaltungsausbildung an den Universitäten – ist, dass wir diese Krise nutzen. Dass wir die Digitalisierungsbestrebungen, die ja schon seit ein paar Jahren andauern, in das Curriculum miteinbinden. Nicht nur als Außenseiter-Wahlfach, das alle zwei Jahre mal angeboten wird, sondern fest integriert in die bestehenden Lehrinhalte. Wenn wir die Digitalisierung zum integralen Bestandteil der Gesamtausbildung machen, dann bereiten wir unsere Studierenden auch optimal darauf vor, was sie im Verwaltungs- oder Consulting-Alltag erwartet. 

Die Universität hat jüngst ihren „Advanced Data and Information Literacy Track“ (ADILT) auf den Weg gebracht – ein studienbegleitendes Lehrprogramm zur Daten- und Informationskompetenz für alle Studierenden.
 

Ines Mergel: Ich glaube, dass wir mit dem Track eine gesamtgesellschaftliche Veränderung anstoßen können. Das hört sich jetzt erst mal ein bisschen pathetisch an – aber dadurch, dass wir mit dem Track flächendeckend ansetzen und die Themen auch in die Lehrerausbildung mit hineinbringen, haben wir den Hebel, dass wir die Inhalte an die Schülerinnen und Schüler weitergeben. So dass sie, wenn sie später dann ein Studium beginnen, bereits ein wesentlich höheres Niveau mitbringen, was Informations- und Datenkompetenzen betrifft. 

Die Ausgangsfrage lautet für uns: Welche Kompetenzen brauchst du, um welche Probleme zu lösen? Es geht im ADILT nicht allein um Data Science, sondern um kombinierte Themen. Beispiel Onlinezugangsgesetz und seine Umsetzung: Da hilft der Programmierkurs allein nicht weiter, da ist es wichtig, sich zugleich mit Gesetzgebung auszukennen, aber auch mit der Implementierung der Gesetze in Verwaltungsstrukturen. Solche kombinierten Themen erfordern breitgefächerte Informationskompetenzen, und das adressiert der ADILT mit seiner disziplinübergreifenden Ausrichtung. 

https://www.youtube.com/watch?v=4oMXkf6HerA&feature=youtu.be
Video 2 - Möglichkeiten

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Audio-Statement: Wie kann die Verwaltung auch weiterhin von diesem Digitalisierungsschub profitieren?

Wird die deutsche Verwaltung den Digitalisierungsschub aus der Krise in ihren Normalbetrieb überführen können?
 

Ines Mergel: Ich würde mir wünschen, dass wir nicht einfach wieder zurück zum Normalbetrieb gehen. Wir hätten wenig aus der Krise gelernt. Worauf ich hoffe, ist ein Mittelweg zwischen der extremen Digitalisierung, in der alle nur noch im Home Office sitzen, und dem Zurück zur Präsenzkultur. Dass ganz konkret evaluiert wird: Wie können wir das, was wir ad hoc und vielleicht auch mit der heißen Nadel gestrickt umgesetzt haben, in die Nachhaltigkeit überführen? Wo sind persönliches Vorsprechen und eine physische Signatur noch notwendig, wo kommen wir auch ohne physische Aktenberge aus? Können wir vielleicht ganz auf die E-Rechnung umstellen, da wir sie nun schon akzeptiert haben? Wichtig wäre, dass auch seitens der Bürger der Druck weiter aufrecht gehalten und gesagt wird: „Wir wissen, ihr könnt es – lasst es uns doch bitte so weitermachen.“

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