Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Entwicklungsland“ hören? Vielleicht an ungleich verteilten Wohlstand, an eine ineffektive Bürokratie und Regierung sowie an ein Heer der Armen, abgehängt und ohne soziale Absicherung? Oder womöglich auch an Aufbruch und Hoffnung, hohe Wachstumsraten, junge Gesellschaften mit der Vision von einer besseren Zukunft. Bangladesch, noch vor Kurzem eines der ärmsten Länder der Erde, ist ein solches Land der Gegensätze – aber auch ein Land im Aufwind, das in wenigen Jahrzehnten eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht hat. Doch wie können auch die Ärmsten der Armen davon profitieren, dass Wirtschaft, Lebenserwartung und Bildungsstand mit Riesenschritten gewachsen sind – anstatt Opfer wachsender Ungleichheit zu werden?
In Konstanz stellt man diese Frage am besten Viola Asri, Postdoktorandin und Spezialistin für Entwicklungsökonomie. Sie hat gemeinsam mit einem internationalen Forschungsteam ein Projekt zur Verbesserung der sozialen Alterssicherung in Bangladesch aufgebaut und dafür in den letzten Jahren zahlreiche Forschungsaufenthalte in dem südasiatischen Land verbracht. Seit 2019 wird das Projekt vom Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ der Universität Konstanz gefördert.
Das Projekt
Viola Asri arbeitet schon seit Jahren zu Rentensystemen in Südasien. In Bangladesch führt das Forschungsteam ein Projekt zur Erforschung der Verteilung staatlicher Sozialhilfen für ältere arme Menschen durch, das maßgeblich der Konstanzer Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ finanziert. Im Projektteam wirken drei Konstanzer Forschende mit, neben Viola Asri auch Sebastian Fehrler und Urs Fischbacher. Ebenfalls Teil des internationalen Teams sind Kumar Biswas von der Weltbank, der zum Oktober 2020 an die Universität Konstanz kommen wird, Katharina Michaelowa von der Universität Zürich und Atonu Rabbani von der University of Dhaka.
Die Forschenden möchten mit ihrem Projekt nicht nur wissenschaftliche, sondern auch praktische Erkenntnisse sammeln, um zur Abmilderung von Altersarmut in dem Entwicklungsland beizutragen. Am Anfang steht dabei die Frage: Warum bekommen nicht diejenigen eine sogenannte Social Pension (eine Art Grundsicherung im Alter) vom Staat Bangladesch, die darauf einen Anspruch haben? Das Projektteam hat in einem früheren Forschungsprojekt gezeigt, dass neben Korruption vor allem die begrenzten Kapazitäten und Ressourcen der örtlichen Amtsträger eine Rolle spielen (Asri et al. 2020). Hier setzt das aktuelle Projekt an: Zwei simple Maßnahmen sollen dazu beitragen, dass die Vertreter der Lokalregierungen diejenigen als Rentenempfänger auswählen, die eine Rente besonders dringend brauchen und die Berechtigungskriterien erfüllen. Gelingt dies, dann können die Ergebnisse des Projekts dem Staat Bangladesch als Modell für flächendeckende vergleichbare Maßnahmen dienen.
Ein Land im Aufwind
In den vergangenen Jahrzehnten hat Bangladesch eine Entwicklung durchgemacht, die nur als erstaunlich bezeichnet werden kann. Von einem der ärmsten und am wenigsten entwickelten Länder der Erde (Einstufung der UN unter den Least Developed Countries – LDC) ist Bangladesch zu einem Entwicklungsland geworden. Seine 160 Millionen Einwohner genießen einen Anstieg von Bildungsstand, Lebenserwartung und Durchschnittseinkommen im Eiltempo, während Familiengrößen, Kindersterblichkeit und Armut mit Riesenschritten abnehmen.
Die durchschnittliche Lebenserwartung in Bangladesch ist in den letzten 50 Jahren von 46 auf 72 Jahre gestiegen, das Durchschnittseinkommen pro Kopf von 120 auf fast 2.000 Dollar im Jahr (zum Vergleich: In Deutschland lag das Durchschnittseinkommen pro Kopf 2019 bei 48.500 Dollar). Die Kindersterblichkeit sank im selben Zeitraum von über 200 pro 1.000 Geburten auf unter 30 – und das, während sich die Bevölkerung im selben Zeitraum annähernd verdreifacht hat. Noch vor zehn Jahren konnte nur jeder zweite Erwachsene in dem nach Bevölkerungszahl achtgrößten Land der Erde lesen und schreiben – heute sind es rund drei Viertel.
Auf der Website der Weltbank können Sie weitere Daten einsehen.
Ungleichheit im Entwicklungsland
Vom wirtschaftlichen Wohlstand eines Landes profitieren selten alle Bevölkerungsteile gleichermaßen. Es ist daher eine der wichtigsten Aufgaben von Staaten, durch Umverteilung für die soziale Absicherung ihrer Bürger zu sorgen. Dies dient nicht nur der Abmilderung von Ungleichheiten und Spaltungen in der Gesellschaft, sondern trägt in Bangladesch dazu bei, extreme und chronische Armut zu verringern.
Soziale Spaltungen – zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie- und Agrargesellschaft, zwischen hochgebildeten, westlich orientierten Eliten und traditionell lebenden Gemeinschaften – finden sich in Entwicklungsländern oft in besonders scharfer Ausprägung. Viele von ihnen stehen daher vor enormen Herausforderungen bei der Eindämmung sozialer Ungleichheit. Hinzu kommt: In einem wachsenden, sich rasch verändernden Land staatliche Hilfen für die sozial Schwächsten zu organisieren, ist eine enorme Herausforderung für nationale, regionale und lokale Regierungsinstitutionen. Staatliche Strukturen leiden teils an rechtsstaatlichen Mängeln oder Korruption, vielfach aber auch an schlichter Überforderung: Die Ausführung staatlicher Aufgaben ist oft sehr anspruchsvoll und die vor Ort verfügbaren Ressourcen begrenzt.
Social Pension
Von Pensionszahlungen über Kindergeld bis hin zu Hilfsleistungen für Behinderte – solche Leistungen halten wir in Deutschland für selbstverständlich. Normalerweise muss man dafür nur einen Antrag beim zuständigen Amt einreichen und eine gut eingespielte Bürokratie erledigt zuverlässig ihren Job.
Anders in Entwicklungsländern wie Bangladesch: Hier ist es bereits eine große Herausforderung, überhaupt festzustellen, wer berechtigt wäre, eine Social Pension zu erhalten. Auch hier gibt es klare Gesetze mit Auswahlkriterien für Empfangsberechtigte, Regelungen der Zuständigkeit lokaler Amtsträger, die Verwendung von Antragsformularen. Bewegt man sich jedoch aus den Ministerialbüros hinaus in die Dörfer, aufs Land, stellt man recht schnell fest, dass die Praxis anders aussieht.
Häufig werden alle diejenigen, die eine Social Pension für ältere arme Menschen beziehen wollen, zu einem bestimmten Termin vor dem lokalen Amtsgebäude zusammengerufen. Zuständige lokale Regierungsvertreter treffen dann an Ort und Stelle eine Auswahl, und berücksichtigen dabei oft vor allem das Alter. In einigen Fällen findet die Auswahl nicht einmal in der Öffentlichkeit statt, sondern wird von den Mitgliedern des Komitees vereinbart bzw. von einzelnen Mitgliedern durchgesetzt. Im ersten Fall bevorzugt das Verfahren augenscheinlich Ältere; im zweiten dagegen diejenigen mit persönlichen Verbindungen zu örtlichen Regierungsvertretern. Beide Gruppen sind nicht notwendigerweise die Bedürftigsten.
Viola Asri: „Ist eine blinde Frau mit erwachsenen, berufstätigen Kindern, die sie unterstützen, bedürftiger als die kinderlose Nachbarin, die ihren kranken Mann pflegt, aber ein Eigenheim besitzt? Solche Entscheidungen müssen die Amtsträger ständig treffen, und die Bewertung der individuellen Situation kann dabei sehr unterschiedlich ausfallen. Klar hängt das dann auch mal davon ab, wie gut die Entscheidungsträger die persönliche Situation der Betreffenden kennen, und natürlich kann es auch illegitime Beweggründe geben, bestimmte Personen auszuwählen.“
Das aktuelle Projekt
Viele Menschen sollten nach den in Bangladesch vorgeschriebenen Richtlinien eigentlich von Social Pensions profitieren, erhalten die staatliche Unterstützung aber nicht. Andere wiederum erfüllen die Kriterien nicht oder nur teilweise, erhalten aber bereits Zahlungen vom Staat. Die Gründe dafür sind vielfältig. „Das fängt bei ganz praktischen Problemen an“, erklärt Viola Asri. „Nicht jede und jeder kann aus eigener Kraft den Versammlungsplatz aufsuchen, an dem die Auswahl der Leistungsempfänger geschieht.“
Und dann ist da der Auswahlprozess selbst. Bei diesem sind gesetzlich zwar bestimmte Kriterien klar vorgegeben. Die lokalen Regierungsvertreter müssen aber ohne weitere Anleitung abwägen, wie sie zur Anwendung kommen.
Das Ziel des Projektes ist, zu einem besseren Verständnis beizutragen, wie die Auswahl der Rentenempfänger in Bangladesch verbessert werden kann. In einer ersten Phase hatte das Projektteam daher untersucht, in welchem Ausmaß und aus welchen Gründen Social Pensions an die falschen Empfänger fließen. Mit den Erkenntnissen aus dieser Projektphase konnten die Forschenden eine sogenannte Intervention für die Auswahl der Rentenempfänger in Bangladeschs ländlichen Regionen vorbereiten. Bei einer solchen Intervention handelt es sich um Veränderungen, die in den Prozess eingebracht werden, um ihre Auswirkungen zu untersuchen – natürlich in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium, lokalen Regierungsvertretern und Beamten.
Konkret sollte die Intervention zwei Schwachstellen im System beseitigen oder zumindest abmildern: Einerseits wissen die Entscheidungsträger oft nicht, wie sie Rentenempfänger auswählen sollen. Andererseits fehlen ihnen für die Auswahl Informationen über die Menschen in der Zielgruppe.
Um die erste Schwachstelle anzugehen, erhielten lokale Entscheidungsträger ein Trainingsprogramm von geschulten Trainern mit Videos und interaktiven Übungen. Diese Fortbildung vermittelte den lokalen Regierungsvertretern Informationen darüber, wie unterschiedliche Profile potenzieller Rentenempfänger systematisch miteinander verglichen und entsprechend ihrer Bedürftigkeit für die staatliche Unterstützung sortiert werden können.
Bei der zweiten Schwachstelle, der Informationsgrundlage, wurde interveniert, indem an die Stelle eines nicht sehr leicht verständlichen Antragsformulars eine sogenannte Eligibility Information Card gesetzt wurde, eine „Berechtigungs-Informations-Karte“. Diese Karte wurde mit Hilfe eines Grafikdesigners so gestaltet, dass sie sehr einfach zu lesen und verstehen ist – und zwar auch für diejenigen, die nicht gut lesen können. Alle Kriterien werden bildlich veranschaulicht und die Informationen per Ankreuzen, Häkchen Setzen oder durch Angabe einer Zahl abgefragt.
Diese zweiteilige Intervention wurde in 40 zufällig ausgewählten Orten in Bangladeschs ländlichem Nordwesten durchgeführt; zum Vergleich werden Daten aus 40 weiteren zufällig ausgewählten Orten verwendet, an denen keine Intervention stattfand.
Szenenbilder aus dem Trainingsvideo für lokale Regierungsvertreter
Von der Idee zur Umsetzung: Ein langer Weg
Große Feldexperimente wie dieses haben einen langen Vorlauf: Mittel müssen beantragt, Genehmigungen müssen eingeholt, um Unterstützung muss geworben und die lokalen Partner müssen gewonnen werden. Fünf Jahre ist es her, dass Viola Asri die Idee zu ihrem Projekt kam. Schon seit Beginn ihrer Doktorarbeit an der Universität Zürich 2015 wollte sie im Rahmen eines Feldexperiments gerne erforschen, wie die Vergabe von Social Pensions in Südasien verbessert werden kann.
Immerhin konnte sich die Forscherin bereits frühzeitig wichtige Tipps von Nobelpreisträger Abhijit Banerjee holen, die ihr vor allem in der Anfangsphase dabei halfen, Kooperationen mit Organisationen in Bangladesch anzuschieben. Die ersten Anträge des Projektteams – zu diesem Zeitpunkt neben Asri deren Doktormutter Katharina Michaelowa und Atonu Rabbani von der University of Dhaka – wurden von den Gutachtern als zu ambitioniert abgelehnt. Spätestens nach dem entsetzlichen Terroranschlag in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, im Juli 2016 lag das Projekt erst einmal auf Eis. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis es im Herbst 2017 durch die Initiative von Sebastian Fehrler wiederbelebt wurde.
Sebastian Fehrler war in Zürich als Postdoktorand Kollege von Viola Asri gewesen und hatte inzwischen eine Juniorprofessur an der Universität Konstanz. Er schlug ihr vor, das Projekt gemeinsam weiterzuführen und zunächst mit Unterstützung des Thurgauer Wirtschaftsinstituts eine Pilotstudie aufzulegen. Nachdem das gewachsene Projektteam diese Pilotstudie 2018 erfolgreich durchgeführt hatte, startete 2019 in Konstanz der Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“, der die nötigen Mittel bereitstellte, um das Feldexperiment umzusetzen. Außer vom Cluster wird das Projekt auch von der Universität Zürich, vom Thurgauer Wirtschaftsinstitut, vom ZHAW Leading House für die bilaterale Forschungszusammenarbeit der Schweiz mit Südasien und dem International Growth Center an der London School of Economics unterstützt. Viola Asri erinnert sich: „Letzten Endes haben wir wohl ein paar hundert Seiten Anträge geschrieben, bis wir die Mittel schließlich zusammen hatten.“
Leben und arbeiten in Dhaka
Im Februar 2019 hatte Viola Asri ihre Dissertation erfolgreich abgeschlossen – und brach ohne Verzug nach Dhaka auf, die Hauptstadt Bangladeschs, um dort die geplante Wirkungsanalyse vorzubereiten. 2019 verbrachte Viola Asri mehr Zeit in Dhaka als in Konstanz, wohin sie im April umgezogen war, und fuhr im Juni und dann im September erneut in die Metropole, mit rund 21 Millionen Einwohnern eine der größten Städte Südasiens.
Sie hatte sich viel vorgenommen. Gemeinsam mit Kumar Biswas stand zunächst der Austausch mit dem zuständigen Ministerium an, außerdem die Planung mit den lokalen Partnerorganisationen, die Rekrutierung und das Einarbeiten der Assistenten, die Entwicklung der Intervention selbst und natürlich der dazugehörigen Materialien und Videos, das Training der lokalen Interviewer und Trainer und nicht zuletzt die sogenannte Baseline-Datenerhebung (Daten, die am Anfang des Projekts, vor der Intervention erhoben werden, um später deren Wirksamkeit einschätzen zu können) sowie die Überprüfung der Datenqualität. „Eigentlich wollte ich mit den Vorbereitungen in zwei Monaten fertig sein“, erzählt Asri, „aber nach September bin ich erst an Weihnachten wieder nach Hause gekommen und im Anschluss gleich wieder zurück geflogen. Es gab einfach so viel zu tun, und für Vieles davon musste ich selbst vor Ort sein. Bei Meetings im Ministerium für Soziale Wohlfahrt etwa musste ich selbst mit dabei sein und konnte mich nicht vertreten lassen.“
Neben dem Interventionsgebiet im Nordwesten Bangladeschs war Asri vor allem in der Hauptstadt Dhaka, wegen des direkten Kontakts zum Ministerium und lokalen Partnerorganisationen. Zusammen mit Kumar Biswas managte sie die Datenerhebung und vollbrachte die Vorbereitungen für die Intervention. Allerdings nicht allein.
„In unserer Feldforschung sind wir immer auf die lokalen Partner vor Ort angewiesen. Das Projekt kann nur gut laufen, wenn wir erfolgreich mit lokalen Research Assistants und Interviewern zusammenarbeiten. Wenn ich selbst während einer Datenerhebung in einem Ort auftauchen würde, könnte dies unsere Ergebnisse verzerren. Es würde einfach zu viel Aufmerksamkeit hervorrufen, dass ich als westlicher Gast vor Ort bin, und die Antworten der Studienteilnehmer und somit unsere Forschungsergebnisse beeinflussen. Deswegen vermeiden wir solche Situationen. Ich gehe in der frühen Testphase ins Feld, um mir selbst Eindrücke zu verschaffen, aber nicht, wenn wir Daten erheben.“
Für die Umsetzung des Forschungsprojekts war und ist es essenziell, dass mit Kumar Biswas und Atonu Rabbani zwei gebürtige Bangladescher im Team sind. Beim Austausch mit dem zuständigen Ministerium zur Planung der Intervention und bei der Datenerhebung spielten sie eine extrem wichtige Rolle, indem sie sicherstellten, dass die Forschung entsprechend des kulturellen und sozialen Kontexts ablief und das Projektteam in keine „Fettnäpfchen“ trat. Vier Research Assistants, 15 Interviewer, acht Trainer, zwei Supervisors und 30 Field Officers, die alle in Bangladesch rekrutiert und eingestellt wurden, komplettierten die immer weiter wachsende Gruppe.
Die lokalen Forschungseinrichtungen James P. Grant School of Public Health an der BRAC University und die ARCED Foundation waren für das Forschungsteam deshalb ebenfalls sehr wichtig: Sie nämlich halfen bei der Einstellung des Personals und bei der finanziellen Administration des Projektes.
Stolpersteine
Trotz aller Unterstützung war es nicht leicht, immer den Zeitplan einzuhalten. Insbesondere die Vorbereitung des Trainingprogramms beanspruchte viel mehr Zeit als erwartet, weil es nicht nur die Forschenden, sondern auch das Ministerium zufriedenstellen musste. Dank guter Unterstützung durch die Regierung und viele Ansprechpartner vor Ort – etwa lokale Amtsträger, Sozialarbeiter und andere, die sich hilfreich einbrachten – kam das Projekt solchen Schwierigkeiten zum Trotz gut voran. Je höher der Rang solcher Amtsträger, desto schwerer war es allerdings auch, sie für eine Besprechung zu fassen zu bekommen. Viola Asri, Kumar Biswas und Atonu Rabbani verbrachten daher notgedrungen viel Zeit am Telefon sowie in stickigen Vorzimmern von Ministeriumsabteilungen und Ämtern.
„Wenn unser Team in einen neuen Ort kommt und dort die lokale Unterstützung benötigt, dann braucht es manchmal schon diplomatisches Fingerspitzengefühl. Es kam vor, dass beispielsweise ein Bürgermeister von unseren Maßnahmen nicht überzeugt war oder durch das Projekt seine Entscheidungsmacht bedroht sah. Noch problematischer wurde es, wenn wir mit lokalen Streitigkeiten umgehen mussten. Wir haben einmal mit zwei lokalen Komiteemitgliedern zusammengearbeitet, die nicht miteinander reden wollten und sich nicht einmal im selben Raum aufhalten mochten. Wir durften dann keine der beiden Seiten einnehmen und mussten aufpassen, dass wir nicht den Eindruck erweckten, irgendein lokaler Regierungsvertreter hätte bisher einen schlechten Job gemacht. Das hat dank der Erfahrungen von Kumar und unseren Assistenten im Feld insgesamt aber gut funktioniert, wir haben nirgends größere Schwierigkeiten gehabt. Die Unterstützung, die wir gerade vor Ort fast überall bekommen haben, war wirklich großartig.“
Und dann kam das Coronavirus
Eigentlich wollte Viola Asri im Sommer 2020 wieder zwei Monate in Dhaka verbringen, um das Projekt mit der finalen Datenerhebung zu einem guten Abschluss zu bringen. Das Coronavirus aber machte den Forschenden einen Strich durch die Rechnung, Viola Asri bleibt fürs Erste in Konstanz. Sie nimmt den erneuten Rückschlag aber nicht schwer:
„So ist das mit diesem Projekt: Man kann planen und planen, aber dann kommt doch alles ein wenig anders, und wir müssen improvisieren. Wir haben mit Atonu weiterhin einen Forscher vor Ort, mit dem wir gemeinsam die Datenerhebung planen und organisieren, sobald es die Lage zulässt.“
Die Zeit danach
In der Wissenschaft kann man frei nach Sepp Herberger formulieren: Nach dem Projekt ist vor dem Projekt. So wertvoll die gewonnenen Erkenntnisse über den Zugang zu Pensionen wissenschaftlich sind, so nützlich das Projekt als Modellversuch auch für die politische Praxis sein mag, war der Zuschnitt des Forschungsvorhabens doch immer eng begrenzt. „Die Bangladescher Regierung hatte sich von Anfang an gewünscht, dass unser Projekt neben den Social Pensions auch untersucht, wie die Vergabe von anderen Sozialleistungen verbessert werden kann. Unsere Ansprechpartner im Ministerium wollten wissen: ‚Warum macht Ihr keine Intervention für andere staatliche Sozialhilfen, beispielsweise für Witwen oder behinderte Menschen? Diese Frage kommt auch immer wieder von Nichtregierungsorganisationen, mit denen wir zusammenarbeiten.“
Für derartige größer angelegte Interventionen fehlte es dem Projekt an Budget und an der nötigen Zeit – ein so umfangreiches Forschungsvorhaben wäre auf mehrere Jahre angelegt. Viola Asri und ihre Kollegen können sich aber gut vorstellen, in dieser Richtung weiterzuarbeiten. Zudem ist die Forscherin an ähnlichen Projekten in Bangladeschs großem Nachbarland Indien beteiligt. „Aber dafür müssen wir erstmal noch ein paar Finanzierungsanträge schreiben“, erklärt Asri lachend, „das hört irgendwie nie auf!“
Lohn der Mühen
Für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind die Daten das, worum es im Projekt im Kern geht, die Befunde, die Auswertungen, und die Schlüsse, die sie zulassen. Die eingangs durchgeführte Baseline-Datenerhebung, bei der 1261 lokale Regierungsvertreter befragt wurden, zeigte überdeutlich den Bedarf an einer Veränderung. Beispielweise kannten die meisten Regierungsvertreter nur ein oder zwei von vier gesetzlich vorgeschriebenen Auswahlkriterien, zu denen sie befragt wurden. Fragte man sie, welche Art von Unterstützung sie von der Nationalregierung besonders nötig bräuchten, lautete die Antwort der Komiteemitglieder meist (mehr als 60% der Fälle), dass es an klaren Richtlinien und Daten zu den Personen in der Zielgruppe fehlt.
In der Region, in der das Projektteam die Intervention durchführte, wurden direkt im Anschluss die diesjährigen Empfänger der Social Pensions ausgewählt. Welche Wirkung die Intervention bei dieser Auswahl entfaltet hat, können die Forschenden erst nach Durchführung der abschließenden Endline-Datenerhebung wissen. Die Vorbereitungen dafür laufen bereits. Wann diese Erhebung aber durchgeführt werden kann, und ob Viola Asri bald wieder nach Bangladesch reisen kann, hängt allerdings von der Entwicklung der COVID-19-Pandemie ab.
Aber auch ohne neue Daten sind da noch die anderen Dinge, die ein Projekt hervorbringt. Weniger zählbar vielleicht, und bestimmt nicht hilfreich für die Publikation in einem Fachjournal oder für die akademische Karriere – aber darum doch nicht weniger wichtig. Wie zum Beispiel der Bürgermeister in einer Gemeinde in der Nähe von Rangpur, der von der Intervention so begeistert war, dass er sich voll dafür einsetzte, dass vor Ort alles nach Plan lief. Oder der Trainer, der bei seiner Reise von Gemeinde zu Gemeinde in jedem Ort gemeinsam mit den lokalen Regierungsvertretern einen Baum pflanzte. Und gerade während der ersten Corona-Welle in Deutschland, als Viola Asri nur im Home Office arbeiten konnte, erhielt sie eine Facebook-Nachricht von einem der sehr wichtigen und schwer erreichbaren Vertreter des Ministeriums.
„Ich hatte mich schon sehr gewundert, dass er mich kontaktiert, aber er war besorgt aufgrund der steigenden Corona-Fälle in Deutschland. Das war total nett! Aktuell mache ich mir viel mehr Sorgen um die Lage in Bangladesch, aber ich würde mich sehr freuen, wenn ich bald wieder in Dhaka arbeiten könnte.“
Danksagung
Dieses Projekt wäre ohne die Unterstützung von lokalen Partner-Organisationen und den Einsatz von Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Interviewerinnen und Interviewern und Trainerinnen und Trainern nicht möglich gewesen. Das Forschungsteam dankt dem Ministerium für Soziale Wohlfahrt, der BRAC James P. Grant School of Public Health und der ARCED Foundation für die exzellente Zusammenarbeit, sowie allen Team-Mitgliedern für ihren unvergleichlichen Einsatz.
Viola Asri
Bildnachweise:
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Seite 5: Neubaugebiet am Stadtrand von Dhaka. Bild: pixabay.com / Shiful Islam
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Seite 14, Bild 1 und 3: Viola Asri, Bild 3: Muntasir Alam
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