Wie ein Netzwerk aus Pflanzen und Computern uns vor Luftverschmutzung warnen könnte – und wie Roboter sich ihrem menschlichen Gegenüber anpassen könnten, um die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine angenehmer zu machen. Robotiker Heiko Hamann im Interview zu zwei aktuellen Projekten seiner Arbeitsgruppe: WatchPlant und ChronoPilot.
Herr Hamann, sie sind seit dem Wintersemester 2022/23 Professor für Cyber Physical Systems an der Universität Konstanz. Was genau müssen wir uns unter Ihrem Fachgebiet vorstellen?
Cyber Physical Systems sind Systeme, in denen physikalische Komponenten – wie Roboter, Sensorknoten oder andere Maschinen – mit digitalen Systemen und dem Cyberspace vernetzt sind, um gemeinsam Aufgaben zu lösen. Die einzelnen Komponenten dieser Systeme sind meist räumlich verteilt und kommunizieren über Funktechnologien miteinander. Bei WatchPlant, dem Projekt, über das wir gleich noch sprechen werden, entwickeln wir genau solch ein System. Mein eigentlicher Forschungsschwerpunkt liegt allerdings bei der Schwarmrobotik. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich auf die Professur hier in Konstanz beworben habe. Durch das Exzellenzcluster „Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour“ bietet die Universität das ideale Umfeld für unsere Art von Forschung.
Da Sie WatchPlant bereits erwähnten: Worum geht es in dem Projekt?
Die Vision von WatchPlant ist es, mittels sogenanntem Phyto-Sensing die Luftqualität in Städten zu überwachen. Natürlich werden Schadstoffbelastungen in der Luft auch heute schon in vielen Städten erfasst. Die Innovation an unserem Projekt ist, dass wir hierfür Pflanzen verwenden möchten, mit denen kostengünstig und engmaschig große Gebiete abgedeckt werden können. Die Grundidee ist kurzgesagt die folgende: Wir teilen uns die Luft, die wir atmen, mit unzähligen Pflanzen. Und so wie die Luftqualität einen Einfluss auf unseren Stoffwechsel und unsere Gesundheit hat, haben beispielsweise hohe Feinstaub- oder Ozon-Werte ebenfalls einen Einfluss auf die Physiologie der Pflanzen. Diesen Einfluss erforschen und erfassen wir, um dann – quasi im Umkehrschluss – aus dem Zustand der Pflanzen auf den Zustand der Umwelt schließen zu können.
Bei WatchPlant soll mithilfe eines Netzwerks aus „intelligenten“ Pflanzen und Sensorknoten die Luftqualität in Städten überwacht werden. Per App könnten NutzerInnen im Stadtgebiet dann beispielsweise Warnungen zu lokal erhöhten Schadstoffwerten empfangen. © AG Hamann
Sie nutzen die Pflanzen also als eine Art lebende Messstation?
Ganz genau. Die Herausforderung dabei liegt darin, die für uns relevanten Daten aus der Pflanze auszulesen. Die notwendigen Methoden entwickeln wir in WatchPlant. Bei mir im Labor verwenden wir beispielsweise elektrophysiologische Methoden. Das heißt, wir messen die elektrische Spannung zwischen zwei Abschnitten der Pflanze und untersuchen, wie sich diese im Zeitverlauf und bei wechselnden Umweltbedingungen ändert. Ganz ähnlich, wie das ein Arzt bei einem Langzeit-EKG macht, um Rückschlüsse auf das Herzkreislauf-System zu ziehen. Kooperationspartner von uns, die ebenfalls bei WatchPlant beteiligt sind, entwickeln zusätzlich Methoden, mit denen Informationen zum Zustand der Pflanze aus dem Pflanzensaft gewonnen werden können. Am Ende sollen beide Datenquellen kombiniert genutzt werden.
Um Informationen aus der Pflanze zu gewinnen, werden diese mit Messelektroden versehen, die in einem Abstand von 10 cm am Stamm der Pflanze angebracht werden. Die Glücksfeder (Zamioculas zamiifolia) im Bild wird über zwei Messkanäle (CH1 und CH2) ausgelesen. © AG Hamann
Und wie gelangt man von diesen Daten zu Aussagen über die Luftqualität oder andere Bedingungen am Standort der Pflanze?
Bereits die elektrophysiologischen Daten, die wir bei uns im Labor aufnehmen, sind sehr reichhaltig. Fast immer, wenn sich etwas in der Umwelt der Pflanze verändert, kann man sehen, wie sich auch das gemessene elektrische Signal verändert. Die „Kunst“ ist in der Tat die Interpretation dieser Daten, denn es gibt bisher keine Literaturwerte aus der pflanzenphysiologischen Forschung. Als InformatikerInnen verwenden wir daher ganz bewusst ein von künstlicher Intelligenz (KI) gestütztes Blackbox-Verfahren, um die Messsignale zu klassifizieren. Ganz konkret nehmen wir hierfür das elektrische Signal der Pflanze unter kontrollierten, uns bekannten Bedingungen auf: beispielsweise bei verschiedenen Ozon-Konzentrationen in der Luft oder bei unterschiedlichen Beleuchtungsbedingungen. Diese Daten werden digital gekennzeichnet und genutzt, um ein künstliches, neuronales Netz zu trainieren. So lernt die KI, selbständig bestimmte Umweltereignisse im Datenstrom wiederzuerkennen, sobald diese eintreten.
Im Labor der AG Hamann werden in einer GrowBox unter kontrollierten Umweltbedingungen (im Beispiel eine bestimmte Beleuchtungsbedingung) elektrophysiologische Messdaten erhoben, um mit diesen eine KI zu trainieren. © AG Hamann
Und was passiert dann mit dieser Information?
Die Nutzung der Daten soll später auf verschiedenen Zeitskalen stattfinden. Projektziel ist ja der Aufbau eines ganzen Netzwerks aus vielen dieser pflanzlichen Messstationen, das kontinuierlich Daten liefert. Da die KI-basierte Auswertung der Daten relativ schnell vonstattengeht, könnte solch ein Netzwerk nahezu in Echtzeit Aussagen über die lokale Luftqualität oder ähnliche Umweltdaten am Standort einzelner Pflanzen treffen. Nutzen könnte man dies zum Beispiel, um über eine Handy-App automatisiert Warnungen bei zu hoher, lokaler Schadstoffbelastung auszuspielen. Vielleicht sogar mit Unterstützung der BürgerInnen, die ihre eigenen Garten-Pflanzen mit den benötigten Sensoren ausstatten und als Messstation zur Verfügung stellen.
Wir arbeiten in dem Projekt aber abgesehen von BotanikerInnen sowie Sensor- und Netzwerk-TechnikerInnen auch mit ModelliererInnen, also spezialisierten MathematikerInnen, zusammen, die sich die erfassten Daten über längere Zeiträume anschauen werden. Das Ziel ist, diese mit anderen Informationen aus demselben Zeitraum in Verbindung zu bringen – beispielsweise mit Gesundheitsdaten der Bevölkerung. So könnten Zusammenhänge zwischen Umweltdaten und anderen relevanten Messwerten aufgedeckt und beziffert werden, die dann wiederum auf verschiedenen Ebenen Entscheidungsträgern als Grundlage für faktenbasierte Beschlüsse dienen können.
Lassen Sie uns noch über Ihr zweites EU-Projekt, ChronoPilot, sprechen. Auch dort wird KI zum Einsatz kommen, um physiologische Daten zu interpretieren – diesmal allerdings Daten vom Menschen.
Das stimmt. Davon abgesehen geht das Projekt jedoch in eine ganz andere Richtung als WatchPlant. Bei ChronoPilot geht es grobgesagt darum, die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Roboter so zu gestalten, dass sie für den Menschen angenehmer wird. Man könnte sagen, dass wir uns derzeit mitten in einer neuen industriellen Revolution befinden, die in ihrer Bedeutung womöglich vergleichbar mit der Einführung von Massenproduktion und Fließbandarbeit Ende des 19. Jahrhunderts ist, oder mit dem zunehmenden Einsatz von Elektronik und IT in der Produktion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diesmal sind es vor allem die Cyber Physical Systems beziehungsweise die Verknüpfung verschiedener Technologien – wie Sensorik, Robotik und KI – zu sogenannten „smarten Fabriken“, welche die Automatisierung stark vorantreiben.
Genau wie bei den vorhergegangenen Industriellen Revolutionen blicken viele Menschen besorgt auf diese neuen Entwicklungen, und auch die Ängste der Menschen heute sind denen von vor 150 Jahren womöglich teils sehr ähnlich. Eine zentrale Frage ist zum Beispiel, ob der Arbeitsalltag für uns Menschen noch leistbar und erfüllend sein kann, wenn unermüdliche Roboter und andere Maschinen scheinbar das Tempo vorgeben. An diesem Punkt setzt ChronoPilot an. Die Maschinen – in unserem Fall Roboter – sollen ihre Arbeitsweise dem Menschen anpassen und beispielsweise auf ein gestresstes Gegenüber selbständig mit einer Reduktion der Arbeitsgeschwindigkeit reagieren. Der Mensch gibt also letztendlich den Takt an. Hierfür muss der Roboter den Zustand seines Gegenübers jedoch erstmal interpretieren – und an dieser Stelle kommt wieder die KI zum Einsatz.
Die Arbeitsgruppe von Heiko Hamann verwendet verschiedene Robotermodelle für ihre Forschung. Bei ChronoPilot kommen diese angepassten Thymio II Roboter zum Einsatz. © AG Hamann
Die Maschine erkennt also, wie es mir in der Arbeitssituation geht, und kommt mir durch eine entsprechende Anpassung des Arbeitsablaufs entgegen, wenn notwendig?
So könnte man das Grundprinzip beschreiben, ja. Es geht aber nicht nur darum, dass das menschliche Gegenüber zum Beispiel bei Stress durch eine Reduktion des Arbeitstempos entlastet wird. Wir möchten bei ChronoPilot gleichzeitig die subjektive Zeitwahrnehmung des Menschen durch geeignete Stimulation zum Positiven verändern. Sie kennen das bestimmt von sich selbst: Wenn Sie an einer unliebsamen oder monotonen Aufgabe arbeiten, vergeht die Zeit gefühlt im Schneckentempo. Schöne oder spannende Erlebnisse vergehen hingegen sprichwörtlich wie im Flug. Diese Subjektivität unserer Zeitwahrnehmung möchten wir nutzen. Die Arbeitenden sollen bei der Zusammenarbeit mit den Robotern in einen Vertiefungszustand oder „Flow“ kommen, in dem sie sich wohl fühlen und in dem die Zeit entsprechend schnell vergeht. Daran forschen wir bei mir im Labor im Rahmen des Projekts.
Die Wahrnehmung von Zeit ist veränderbar und unter anderem von unseren mentalen Ressourcen abhängig. Zum Bild: Generiert mit Stable Diffusion auf starryai.com und anschließend nachbearbeitet; © Universität Konstanz
Können Sie ein Beispiel geben, wie man die Zeitwahrnehmung konkret beeinflussen kann?
Die Zeitwahrnehmung des Menschen lässt sich durch eine Vielzahl von Sinneseindrücken und Reizen verändern. Das wissen wir aus der psychologischen Forschung. Das reicht von Lichtblitzen, Vibrationen auf der Haut oder Musik bis hin zu Bewegungen. Gezielt generieren lassen sich solche Reize beispielsweise per Kopfhörer oder Augmented-Reality-Brille. Für die haptischen Reize verwenden unsere Projektpartner eine Weste, die mit Vibrationsmotoren ausgestattet ist. Bei mir im Labor untersuchen wir dagegen, wie die Zeitwahrnehmung durch die sich verändernde Bewegung von Robotergruppen beeinflusst werden kann. Wir konnten in einer ersten Studie bereits zeigen, dass eine Interaktionsaufgabe, bei der ein Mensch eine Gruppe kleiner Roboter steuert, für diesen schneller vergeht, wenn sich viele Roboter vergleichsweise schnell bewegen. Bewegungsgeschwindigkeit und die Anzahl an Robotern sind also zwei mögliche Stellschrauben, um die Zeitwahrnehmung zu beeinflussen.
Sehen Sie neben der Arbeitswelt noch andere Anwendungsgebiete für die Projektergebnisse?
Die Automatisierung nimmt in fast allen Lebensbereichen rasant zu – auch im Privaten. Denken Sie beispielsweise an Fahrassistenzsysteme und autonome Fahrzeuge. Auch hier können Phänomene rund um unser Zeitempfinden eine Rolle spielen und sogar gefährlich werden, wenn die Person hinter dem Steuer unterfordert oder abgelenkt ist. Solche Gefahren könnte man mit den Methoden, die wir mit unseren Projektpartnern bei ChronoPilot entwickeln, künftig abmildern. Generell folgen wir bei ChronoPilot und unseren anderen Projekten einer Philosophie, bei welcher der Mensch und seine Umwelt klar im Mittelpunkt stehen. Wir möchten der Automatisierung, vor der sich viele Menschen gerade fürchten, mit unserer Forschung ein Stück weit den Schrecken nehmen.
Das Interview führte Daniel Schmidtke.
© Titelbild: Dr. S. Kernbach, CYBRES GmbH