Die Sehnsucht nach Utopien
„Die Wege an der Universität Konstanz hätten ihn begeistert“,
sagt Prof. Dr. Anne Kwaschik. Die Professorin für Wissensgeschichte spricht von Charles Fourier, dem französischen Sozialtheoretiker aus dem 19. Jahrhundert, der davon ausging, dass der Mensch von seiner Umwelt geprägt wird. Deshalb war es wichtig, wie Häuser oder Gärten aussehen. Fourier hatte die Idee, dass Wege so angelegt sein müssen, dass sich die Menschen begegnen. An der Architektur der Universität Konstanz hätte Fourier wohl gefallen, dass alle Wege über den Eingangsbereich zur Mensa führen, wo sie sich permanent kreuzen.
Die Frage nach dem Wissen vom Zusammenleben der Menschen in und durch Utopien ist Anne Kwaschiks neues Forschungsprojekt. Gerade kommt sie aus Paris zurück, wo sie gemeinsam mit dem Deutschen Historischen Institut (DHI) Mitorganisatorin einer Summer School war, die die Zusammenhänge zwischen Gegenwartsdiagnostik und Gesellschaftsexperimenten im 19. und 20. Jahrhundert diskutierte. Frankreich ist ihr persönlich und wissenschaftlich eng vertraut.
Persönliches
Ihre Dissertation hat Anne Kwaschik über den französischen Kulturhistoriker Robert Minder geschrieben, wofür sie 2010 den Deutsch-Französischen Parlamentspreis und den Dissertationspreis des Friedrich-Meinecke-Instituts erhielt. Sie war am Centre national de la recherche scientifique, der École des hautes études und dem DHI Paris tätig. Forschungsaufenthalte in New York und eine Gastprofessur in Rom folgten. Zuletzt war Anne Kwaschik Juniorprofessorin für Westeuropäische Geschichte an der FU Berlin und als stellvertretende Direktorin für den Bereich Geschichte des Frankreich-Zentrums verantwortlich.
Seit Platon gibt es große theoretische Gesellschaftsentwürfe, und es gibt Phasen, in denen versucht wird, die Theorie in die Praxis umzusetzen. So etwa bei den Frühsozialisten im 19. Jahrhundert, in der Lebensreformbewegung der 1920er Jahre, oder in der 68er-Bewegung des 20. Jahrhunderts. „Dabei ist es wissenshistorisch nicht wichtig, ob die Umsetzung gescheitert ist“, sagt Anne Kwaschik. Sie spricht anstatt von Umsetzung lieber von Experimenten. „Interessanter ist, was soziale Utopien theoretisch bewirkt haben. Es ist eigentlich immer etwas daraus hervorgegangen“, sagt sie. Nicht nur an der großen internationalen Resonanz auf die Summer School merkt die Historikerin, dass das Thema Gesellschaftsexperimente sehr aktuell ist. Auch ihre Konstanzer Studierenden zeigen immenses Interesse an entsprechenden Fragen: „Man sagt immer, die Utopien seien verschwunden. Ich glaube aber, dass es da eine Sehnsucht nach Alternativen gibt.“
Unter eine Wissenschaft vom Zusammenleben der Menschen fällt in gewisser Weise auch die Verwissenschaftlichung des Kolonialen im 19. und 20. Jahrhundert. Anne Kwaschiks Habilitationsschrift dazu ist im September 2018 unter dem Titel „Der Griff nach dem Weltwissen“ als Buch erschienen. Darin erforscht sie, wie sich Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert Wissen aus Afrika und Asien besorgten, wie sie es ordneten und produzierten.
Als sich die Kolonialreiche Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten, gab es noch keine Wissenschaft, die Kultur als Ganzes zum Gegenstand hatte. Um die Menschen in den Kolonien jedoch regieren zu können, musste man sie besser verstehen, und dazu brauchte man Wissen.
„Eine klassische Fragestellung war damals, was für einen Begriff die Menschen dort von Strafe oder Schuld haben – denn wie sonst sollte man ein europäisches Rechtssystem umsetzen?“,
erläutert Kwaschik. Übergangsphänomene wie die sogenannten Kolonialwissenschaften entstanden, die bis in die Gegenwart führen. Letztlich haben sich daraus Sozialwissenschaften wie die Soziologie und Ethnologie entwickelt.