„Beim Klimawandel geht es um Behindertenrechte“
„Globale Veränderungen in der Umwelt wirken sich direkt auf die Rechte von Menschen mit Behinderung aus“, argumentieren Erstautorin Dr. Aleksandra Kosanic und Co-autoren Dr. Mialy Razanajatovo (ebenfalls von der Universität Konstanz), Dr. Jan Petzold (Center for Earth System Research and Sustainability (CEN), Universität Hamburg) sowie Dr. Amy Dunham (Rice University, USA) in ihrem jüngst veröffentlichten Letter in Science, über den bereits Forbes und der Scientific American berichtet haben. Die Wissenschaftler glauben, dass der Klimawandel und der daraus resultierende Verlust von Ökosystemdienstleistungen Menschen mit Behinderung auf der ganzen Welt unverhältnismäßig beeinträchtigen wird, indem er Ungleichheiten verschärft und Ausgrenzung fördert. Menschen mit Behinderung erführen demnach nicht nur Nachteile durch begrenzten Zugang zu Wissen, Ressourcen und Dienstleistungen, was eine adäquate Auseinandersetzung mit dem Klimawandel unmöglich mache, so die Autoren. Sie seien dabei auch anfälliger für die Auswirkungen von extremen Klimaereignissen, wie Studien zu Hurrikan Katrina gezeigt haben, für den Verlust von Ökosystemdienstleistungen sowie für ansteckende Krankheiten.
„Globale Veränderungen in der Umwelt wirken sich direkt auf die Rechte von Menschen mit Behinderung aus.“
Dr. Aleksandra Kosanic, Associate Fellow am Zukunftskolleg der Universität Konstanz
„Das Problem besteht darin, dass Menschen mit Behinderung bislang größtenteils nicht an der weltweiten Debatte beteiligt waren“, sagt Kosanic. „Das trifft auf die Politikgestaltung ebenso zu wie auf die wissenschaftliche Diskussion zum Klimawandel.“ Als Wissenschaftlerin mit Zerebralparese ist es ihr in persönlicher und beruflicher Hinsicht wichtig, einen inklusiven Denkansatz im Wissenschaftsbetrieb sowie jenseits davon zu etablieren. Die Idee zu dem Letter in Science, der sich mit diesem Ungleichgewicht beschäftigt, rührt von einem durch das Zukunftskolleg finanzierten Pilotprojekt in Madagaskar her, das als eines der ärmsten Länder der Welt gilt, jedoch einen signifikanten Anteil des weltweiten Artenreichtums beherbergt. Ziel der Studie war einerseits festzustellen, wie sich der Klimawandel im Zentrum und im Osten des Landes auswirkt. Andererseits wollten die Wissenschaftler herausfinden, wie wichtig kulturelle Ökosystemdienstleistungen verschiedenen Gemeinden vor Ort sind und welchen Einfluss sie auf menschliches Wohlbefinden haben.
Kulturelle Ökosystemdienstleistungen und warum sie so wichtig sind
Unter dem Begriff Ökosystemdienstleistungen werden im breitesten Sinn Vorteile verstanden, die Menschen aus Ökosystemen entstehen. Einige sind immateriell und nicht mit einem präzisen Geldwert zu beziffern, darunter auch kulturelle Ökosystemdienstleistungen. „In gewisser Weise sind sie überall und nirgendwo“, erklärt Kosanic, zumal kulturelle Ökosystemleistungen eng mit bereitstellenden Ökosystemdienstleistungen (Nahrung, Baumaterial, sauberes Wasser) und regulierenden Ökosystemdienstleistungen (Luftqualität, Bestäubung, Kohlenstoffspeicherung) verflochten sein können. Neben diesen Dienstleistungen identifiziert das Millennium Ecosystem Assessment (MA), das 2001 von den Vereinten Nationen in Auftrag gegeben wurde, unterstützende Ökosystemdienstleistungen (wie beispielsweise Nährstoffkreisläufe, Bodenformation und die Urerzeugung). Kulturelle Ökosystemdienstleistungen wie indigenes oder lokales Wissen – traditionelles Wissen im weiteren Sinn – ästhetische und spirituelle Werte, Inspiration, Erholung sowie persönliche Identität und Gruppenidentität sind dabei bislang nicht zur Genüge erforscht.
Im Laufe des Forschungsprojektes besuchten Kosanic, ihre Kollegin Mialy Razanajatovo von der Universität Konstanz und Jan Petzold vom CEN sowie ein Team von Madagassischen Forscherinnen und Forschern (Ravaka Andriamihaja, Joseph Felana Rakoto, Princy Rajaonarivelo Andrianina, Sitraka M. Ranaivosoa-Toandro and Leonnie Marcet Voahanginirina) vier Dörfer mit unterschiedlicher kultureller Identität und ethnischer Herkunft. Dort befragten sie verschiedene Bevölkerungsgruppen dazu, wie sie den Klimawandel erfahren und wie er sich auf ihr Wohlbefinden auswirkt. Zu den interviewten Gruppierungen gehörten ältere Menschen, junge Menschen sowie Menschen mit Behinderung. Im Rahmen von Workshops und halbstrukturieren Interviews wurden sie speziell dazu befragt, wie sich der Klimawandel auf ihre natürliche Umwelt auswirkt und wie dies ihr Leben allgemein sowie kulturelle Ökosystemdienstleistungen wie spirituelle Werte, Erholungsmöglichkeiten oder traditionelles Wissen beeinflusst.
„Besonders dieses letzte Konzept war nur schwer zu vermitteln“, fügt Kosanic hinzu: „In kleinen und armen Gemeinden wie denen, die wir besucht haben, fokussiert sich alle Aufmerksamkeit auf bereitstellende Dienstleistungen. Den Dorfbewohnern ist primär an sauberem Wasser und Nahrungsmitteln gelegen. Sie selbst sehen die Art wie sie fischen, die sich komplett von den Methoden unterscheidet, die anderswo im Land zum Einsatz kommen, nicht unbedingt als Teil ihrer kulturellen Identität oder ihres traditionellen Wissens.“ Nach Ökosystemdienstleistungsexperten wie Kosanic kann allerdings genau diese Art von Wissen dabei helfen, die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die 2015 von allen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde, weltweit durchzusetzen.
Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung bietet eine globale Blaupause für Frieden und Wohlstand auf der Welt, die auf 17 Nachhaltigkeitszielen basiert. Damit fordern die Vereinten Nationen alle Länder dazu auf „anzuerkennen, dass die Überwindung von Armut und weiterer Deprivation Hand in Hand mit Strategien zur Förderung von Gesundheit und Bildung, zur Reduzierung von Ungleichheiten und zur Ankurbelung von wirtschaftlichem Wachstum gehen muss – während wir gleichzeitig den Klimawandel bekämpfen und gemeinsam für den Schutz unserer Ozeane und Wälder eintreten“, für das Wohl kommender Generationen. Quelle: sustainabledevelopment.un.org. Mehr zum Thema Behinderung und Nachhaltigkeitsziele im UN Flagship Report on Disability and Development 2018.
„Momentan sind wir – zumindest in Madagaskar – an einem Punkt, an dem man noch herauszufinden versucht, welche Folgen Veränderungen in der Umwelt, beim Klima oder bei der Landnutzung haben, weshalb die Forschung rund um das Thema Ökosystemdienstleistungen und speziell kulturelle Ökosystemdienstleistungen dringend vorangetrieben werden muss.“ Mit der Pilotstudie haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erste Schritte dahingehend unternommen, örtlichen Entscheidern, Umweltschützern und Klimaschutzagenturen faktenbasierte Informationen zur Verfügung zu stellen, die die Regierung in ihren Bestrebungen zur Erreichung einer nachhaltigen Entwicklung unterstützen können. Die ersten Ergebnisse der Studie wurden auf der World ESP 10 Conference 2019 präsentiert, die Ende Oktober 2019 in Hannover stattfand. Der nächste Schritt wird darin bestehen, die auf Madagassisch geführten Interviews zu übersetzen und weiter auszuwerten.
Für einen Kurswechsel in der Politik
„Eine weitere wichtige Erkenntnis aus diesem Forschungsprojekt ist, dass es diese große Lücke in unserem Wissen darüber gibt, wie kulturelle Ökosystemdienstleistungen das Wohl verschiedener Bevölkerungsgruppen beeinflussen, Menschen mit Behinderung eingeschlossen“, führt Kosanic weiter aus. „Was beispielsweise das ästhetische Empfinden angeht, erscheint die Welt einem Menschen mit Sehbehinderung ganz anders als denjenigen unter uns, die normal sehen können. Während wir die Schönheit der Natur visuell bewundern können, ist für Menschen mit Sehbehinderung die Biodiversität viel wichtiger – insbesondere die daraus resultierenden Gerüche und Geräusche. Während der Arbeit für dieses Projekt ist uns sehr schnell klar geworden, dass bislang niemand in der Wissenschaft diese Verbindung hergestellt hat, dass Bevölkerungsgruppen mit Behinderung bei den aktuellen Umweltschutz- und Entscheidungsstrategien komplett unberücksichtigt bleiben.“
Neben dem Verlust von Ökosystemdienstleistungen interessieren sich Kosanic und ihre Kollegen im Hinblick auf den Klimawandel besonders für verschiedene Aspekte klimatischer Ereignisse, darunter extreme Klimaereignisse wie Überflutungen, der Anstieg des Meeresspiegels oder Sturmfluten. Allerdings beschäftigen nicht nur extreme Ereignisse die Wissenschaftler. „Was uns wirklich Anlass zur Sorge gibt sind die langfristigen Temperaturveränderungen“, so die Wissenschaftlerin. „Dies hat messbare Auswirkungen auf die Artenvielfalt, was wiederum das Leben von Menschen beeinträchtigen kann, deren Gesundheit bereits angegriffen ist.“ Aus ökologischer Sicht ist hier beispielsweise die Ausbreitung invasiver Arten ein Problem, die schädlich wirken können. „All dies muss nicht unbedingt tödlich enden. Vielfach werden diese Konsequenzen des Klimawandels auch kurzfristig gar nicht sichtbar“, betont Kosanic. „Aber dies bedeutet nicht, dass sie sich nicht direkt auf die Lebensqualität der betroffenen Menschen auswirken.“
Im Juli 2019 verabschiedete der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine Resolution, die Regierungen explizit dazu auffordert, Menschen mit Behinderung bei ihren Plänen zur Bekämpfung des Klimawandels einzubeziehen. Bislang ist international wenig geschehen, wie Kosanic und ihre Co-Autoren in ihrem Letter herausarbeiten. Deshalb sprechen sie sich für die Gründung von Task Forces innerhalb führender internationaler Organisationen wie dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) oder der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Service (IPBES) aus.
Weitere wissenschaftliche Fakten zum Klimawandel:
Vom 25. bis 29. November 2019 findet eine bundesweite Aktionswoche zum Thema Klimawandel statt. Auch die Konstanzer Hochschulen bieten im Rahmen der „Public Climate School“ ein wissenschaftliches Programm an: Forscherinnen und Forscher der Universität Konstanz und HTWG Konstanz greifen das Thema Klimawandel aus unterschiedlichsten Perspektiven auf.Weitere Informationen sowie das volle Programm unter: uni.kn/public-climate-school.