Desinformation, Fehlinformation und Verschwörungstheorien im Umgang mit COVID-19

Welche Rolle spielen Des- und Fehlinformation im Umgang mit dem Virus? Wie gefährlich sind sie, und wie verbreiten sie sich über die Sozialen Medien? Was kann die Wissenschaft, was kann der Gesetzgeber unternehmen, um „Fake News“ in Zeiten von COVID-19 entgegenzutreten? Der Konstanzer Medienforscher Andreas Jungherr geht diesen Fragen im Interview nach.
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Welche Rolle spielen Desinformation, Fehlinformation und Verschwörungstheorien in unserem Umgang mit COVID-19?

COVID-19 stellt uns alle vor große Herausforderungen im Umgang mit Informationen. COVID-19 betrifft uns alle direkt und persönlich. Gleichzeitig fällt es wahrscheinlich uns allen schwer, Informationen zu COVID-19 auf ihren Faktengehalt oder ihre Qualität hin einzuschätzen. Nicht zuletzt, da sich die Faktenlage zu COVID-19 ständig verändert. Entsprechend passen Regierungen und Wissenschaft kontinuierlich ihre Prognosen an oder korrigieren Handlungsempfehlungen. Dies wiederum gibt ihren Gegnern und Skeptikern Gelegenheit, Zweifel an ihrer Autorität, Kompetenz und der Wirksamkeit ihrer Interventionen zu säen.
 
Gleichzeitig müssen Menschen angesichts großer Unsicherheit teilweise einschneidende Entscheidungen zu ihrem eigenen Schutz und dem anderer treffen. Entsprechend suchen sie nach Informationen über das Virus und die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen oder sind zumindest empfänglich, wenn andere sie auf Informationen aufmerksam machen. In dieser Situation ist es wichtig, auf qualitativ hochwertige Informationen zugreifen zu können. Gleichzeitig sind die Anreize für unterschiedliche Akteure hoch, Fehlinformation zu streuen.
 
Urheber von gezielten Falschinformationen haben unterschiedliche Motive. Die zwei im Fall von für COVID-19 wahrscheinlich wichtigsten sind einerseits ökonomische Motive: Wenn viele Menschen nach Informationen zu COVID-19 suchen, können Anbieter mit aufsehenerregenden, aber falschen Informationen Besucher auf ihre Seite locken und damit über Werbeanzeigen, den Verkauf angeblicher Heilpräparate und -apparaturen oder der Installation von Malware Geld verdienen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch politische Motive: Unterschiedliche politische Akteure nutzen COVID-19 im politischen Wettbewerb. Dies kann in Form von Übertreibung oder Verharmlosung der Gefahren des Virus geschehen, fälschlicher Ursachenzuschreibungen oder auch der Politisierung von Gegenmaßnahmen.
Gleichzeitig findet sich auch viel „ehrliche“ Falschinformation. Dies sind Informationen, die aus ehrlichen Motiven veröffentlicht und verbreitet werden, die sich im Laufe der Zeit jedoch als falsch herausstellen.
 
Im Wettbewerb um Aufmerksamkeit mit zu dem jeweiligen Zeitpunkt als korrekt vermuteten Wissensstand haben Des- und Fehlinformationen in der Regel den Vorteil, dass sie aufsehenerregender sind. Ihre Autoren nutzen Kontroversen, bestehende politische Bruchlinien und Emotionen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Dadurch fallen sie gegebenenfalls stärker auf und werden schneller verbreitet.
 

Ist das gefährlich? Wenn ja, inwiefern?

Des- und Fehlinformationen können zurzeit besonders gefährlich sein, wenn Menschen ihr Verhalten im Umgang mit COVID-19 auf falsche Informationen stützen. Dies kann persönliche Gefahren mit sich bringen, wenn man wirkungslose oder im schlimmsten Fall sogar gesundheitsschädliche Gegenmaßnahmen trifft oder Wirkstoffe nimmt.
 
Gleichzeitig können Fehlinformationen auch die Wirkung und Legitimität kollektiver Maßnahmen gefährden, wie zum Beispiel Ausgangsbeschränkungen. In diesem Fall brächten sie gesellschaftliche Gefahren.

"Des- und Fehlinformationen können zurzeit besonders gefährlich sein, wenn Menschen ihr Verhalten im Umgang mit COVID-19 auf falsche Informationen stützen."

Andreas Jungherr, Medienforscher an der Universität Konstanz

 

Welche Rolle spielen die Sozialen Medien bei deren Verbreitung? 

Zuerst einmal muss man sagen, dass Soziale Medien in den ersten Wochen und Monaten der COVID-Pandemie eine der wenigen Quellen waren, mit deren Hilfe man sich zu Natur, Verbreitung und Umgang mit dem Virus umfangreich informieren konnte. Es gibt weiterhin sehr gute Informationen zu COVID-19 auf Sozialen Medien, aber heute muss man sich dort sehr anstrengen, diese in dem Wust anderer Informationen zu finden. Man ist also inzwischen wahrscheinlich besser bedient, sich auf die Berichterstattung etablierter Medienanbieter zu verlassen. Es sei denn natürlich, man hat eine Gruppe von kompetenten und vertrauenswürdigen Quellen in den Sozialen Medien für sich kultiviert.

 

Bekommt die Verbreitung von Unwahrheiten über Soziale Medien durch die Corona-Pandemie besonderen Auftrieb? Und inwiefern sind sie jetzt gerade womöglich gefährlicher als vor der Pandemie?

Des- und Falschinformationen verbreiten sich auf den Sozialen Medien immer in Zeiten von Unsicherheit oder politischen Streits. Wie ich vorher schon beschrieben habe: COVID-19 ist genau ein solcher Fall. Viel gesellschaftliche Aufmerksamkeit bedeutet hohe potenzielle Gewinne für die Urheber von Desinformationen, und das heißt: Das Angebot steigt.
 
Gleichzeitig haben wir es auch mit einer Situation zu tun, in der es legitime Unsicherheit über das zugrundeliegende Problem und entsprechende Maßnahmen gibt. Das bedeutet, dass heutige Best Practice morgen schon Fehlinformation sein kann. Dieses gesteigerte Maß an Unsicherheit macht es für Einzelne schwerer, die Glaubwürdigkeit von Informationen und Quellen einzuschätzen.
 
Gerade Menschen, die ohnehin Zweifel an Medienanbietern oder staatlichen Institutionen haben, zieht es zu alternativen Informationsquellen. Hier kann es dann auch einen besonderen Reiz ausmachen, dass Des- und Falschinformationen sich gegen den Mainstream richten, den die Nutzer dieser Quellen ohnehin schon als „Gegner“ ausgemacht haben.

Gleichzeitig heißt das aber nicht, dass Soziale Medien ursächlich für die Verbreitung von Falschinformationen sind. Zum einen finden wir dort viele Informationen, die im Diskurs der professionellen oder institutionellen Medien und Informationsquellen (noch) nicht berücksichtigt werden. Zum anderen sind einige der einflussreichsten Verbreiter von Zweifel und Falschinformationen politische Akteure. Das beste Beispiel ist natürlich Donald Trump in den USA.

Video-Interview mit Andreas Jungherr

https://youtu.be/cPMyVJm8liw

Ausgewählte Fragen beantwortet Medienforscher Andreas Jungherr im Video-Interview.


 

Welche Trends im Umgang der Sozialen Medien mit COVID-19 beobachten Sie?

Die Plattformbetreiber scheinen das Thema sehr ernst zu nehmen. Sie scheinen auch deutlich bereiter zu sein, aktiv einzugreifen, als sie es im Fall politischer Des- oder Falschinformation in Wahlkämpfen typischerweise sind.
 

Welche Social-Media-Kanäle stehen besonders im Fokus der Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien? 

Aufgrund ihrer großen Nutzerzahlen stehen hier Twitter und Facebook natürlich immer im Vordergrund. Gleichzeitig unternehmen diese Plattformen aber auch große Anstrengungen, um Falschinformationen zu identifizieren und ihre Verbreitung zu stoppen.
 
Ein wahrscheinlich mindestens ebenso wichtiger Verbreitungskanal ist der Messenger-Dienst WhatsApp, da sich hier Menschen in ihrem direkten sozialen Umfeld Informationen weitergeben können. Von außen erhalten wir hier jedoch keinen Einblick, welche Informationen im Umlauf sind, woher sie kommen oder welche Prominenz sie erreichen. Von Berichten durch unabhängige Fact-Checker wissen wir jedoch, dass sie gerade während der Corona-Krise ungewöhnlich hohe Zahlen an Requests für den Test von dort verbreiteten Informationen erreichen. 

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Jun.-Prof. Dr. Andreas Jungherr ist Juniorprofessor für Social Science Data Collection and Analysis an der Universität Konstanz und Principal Investigator am Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“. Er ist Spezialist für die Auswirkungen des Internets und der digitalen Medien auf die politische Kommunikation und Autor zweier Bücher über die Nutzung des Internets durch Politik und Forschung.
 

 

Mit welchen Mitteln kann die Wissenschaft den Urhebern von "Fake News" und Verschwörungstheorien überhaupt erfolgreich entgegentreten? 

Aus meiner Sicht ist die erste Frage, die sich Wissenschaftler zurzeit stellen sollten, ob sie tatsächlich auf Basis ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit zu diesem Themenbereich in der Öffentlichkeit etwas beitragen können. Nur durch die selbstkritische Antwort auf diese Frage vermeiden wir Wissenschaftler es, selbst zur Unsicherheit und zum Rauschen im Informationsraum beizutragen.
 
Beispiele für gute Wissenschaftskommunikation gibt es aber viele. In Deutschland ist Christian Drosten mit seinem Podcast im NDR wohl derjenige Wissenschaftler, der zur Zeit die sichtbarsten und hilfreichsten Beiträge leistet. Er bietet ein gutes Beispiel für die Vermittlung von Forschungsergebnissen und -prozessen an eine breite und betroffene Öffentlichkeit. Besonders gut gelingt ihm aus meiner Sicht die Verortung des aktuellen Wissenstands und der zugrundeliegenden Unsicherheit wissenschaftlicher Arbeit und Evidenz-Entwicklung. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Debatte.
 
Gleichzeitig sieht man am Umgang der Medien mit seinen Aussagen und seiner Person aber auch die Risiken, die es für Wissenschaftler mit sich bringt, in die Öffentlichkeit zu gehen und sich als Gesprächspartner zur Verfügung zu stellen. Selbst sehr verantwortliche und gelassene Informationsvermittlung und -einordnung in der Öffentlichkeit bietet interessierten Akteuren eben Anlass zur Instrumentalisierung und Politisierung. Hier müssen Wissenschaft und Medien lernen, im Umgang miteinander besser und rücksichtsvoller zu werden.

 

In Krisenzeiten werden an den Gesetzgeber häufig Forderungen gestellt, durch neue Gesetze auf die besondere Situation zu reagieren. Was halten Sie von rechtlichen Zwangsmitteln gegen die Verbreitung von Falschmeldungen über COVID-19, wie sie beispielsweise Boris Pistorius vorschlug, der Innenminister von Niedersachsen?

Hier wäre ich sehr vorsichtig. Einerseits fehlt uns eine belastbare empirische Basis dafür, wie weitverbreitet Des- und Falschinformationen auf digitalen Medien tatsächlich sind, wie stark sie konsumiert und verbreitet werden, und ob Nutzerinnen und Nutzer tatsächlich auf ihrer Basis ihr Verhalten anpassen. Es erscheint mir riskant, auf Eindrücken, die zur Zeit doch rein anekdotischen Charakter haben, weitreichende Zwangsmaßnahme auszurollen.
 
Gleichzeitig sollte die Politik allerdings durchaus prüfen, ob ein durch die Krise ausgelöster Rückgang in der Anzeigenkundschaft eine zusätzliche Bedrohung für die Medienlandschaft bedeutet. Ein durch die COVID-19-Krise ausgelöstes Zeitungssterben könnte weitreichendere Konsequenzen haben als Des- oder Falschinformationen auf Sozialen Medien. Gegebenenfalls könnten hier staatliche Eingriffe und Hilfestellungen also wichtiger sein als der weitgehend symbolische Kampf gegen Des- und Falschinformationen online.

In einer Interviewreihe informieren Expertinnen und Experten der Universität Konstanz aus verschiedenen Fachbereichen sowie ihres Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ über aktuelle Fragestellungen in Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus.

Paul Töbelmann

Von Paul Töbelmann - 09.04.2020