Boris Palmer und die Linguistik
Ein Satz des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer ging durch die Bundesrepublik: Palmer polarisierte mit seiner Aussage zu Corona-Erkrankten: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ Die Konstanzer Linguistin Prof. Dr. Regine Eckardt analysiert seinen Satz nun aus sprachwissenschaftlicher Sicht und demonstriert, wie mit sprachlichen Mitteln ein Scheinargument aufgebaut wird.
Prof. Eckardt, Sie haben bei Boris Palmers Satz näher hingeschaut. Welches sprachliche Phänomen verbirgt sich hinter seiner Aussage?
Regine Eckardt: Lassen wir das fiese sowieso-Wort zunächst mal beiseite. Dazu später. Ich frage mich: Wieso nutzt Boris Palmer das, was Linguisten ein kontrafaktisches Konditional nennen? Ein solcher Satz beschreibt eine „mögliche Welt“, die zwar nicht ist, aber sein könnte. Mehr noch: Diese Satzform schließt von der Beschreibung einer nicht-realen Situation auf eine Konsequenz, die sich faktisch daraus ergäbe.
Der Satz vermischt also hypothetische Annahmen mit vermeintlichen Fakten unter dem Deckmantel des Konjunktivs?
Zur Analyse dieses Satzes müssen wir uns fragen: Welche alternative Welt meint er? Unter welchen alternativen Umständen wären diese geretteten Menschen (alle? manche?) in einem halben Jahr tot, nun aber nicht? Durch die Rettung vor dem Coronavirus werden sie ja nicht fitter oder jünger. Boris Palmer kann allenfalls darauf hinweisen, dass unter den Menschen, die jetzt „gerettet“ werden, manche im kommenden halben Jahr an anderen Krankheiten sterben werden. Oder vielleicht fällt jemand davon sogar ein Ziegelstein auf den Kopf.
Das scheint mir nicht Palmers Aussageabsicht zu sein.
Natürlich nicht. Vermutlich meint er in Wirklichkeit: Wenn wir nichts unternehmen würden, und Menschen dann an Corona sterben würden, dann wären darunter auch Menschen, deren Ende auch ohne Coronavirus nicht mehr fern gewesen wäre.
„Der Sachverhalt, auf den Boris Palmer hinweist, sollte neutraler so formuliert werden: 'Unter den Menschen, die jetzt nicht an Corona sterben — sei es, weil sie geheilt werden, oder sei es, weil sie sich nicht infizieren — wird es auch einige geben, die im kommenden halben Jahr sterben.“
Prof. Dr. Regine Eckardt, Professorin für Allgemeine und Germanistische Linguistik an der Universität Konstanz
Noch mehr Konjunktive. Palmers Satz hantiert also sprachlich mit Möglichkeiten, baut aber eine enorme Suggestionskraft auf?
Wie viele solche Fälle, meint Boris Palmer, wird es geben? Es klingt, als ob er suggeriert: „Fast alle, die wir jetzt heilen oder durch Quarantäne vor einer Ansteckung retten, werden im kommenden halben Jahr sterben“. Aber in diesem Fall würde er fürs kommende halbe Jahr eine gewaltige Todeswelle aus anderen Gründen prophezeien. Besonders dann, wenn er zu den „geretteten Menschen“ auch diejenigen zählt, die durch Abstandsregeln erst gar nicht mit dem Coronavirus infiziert werden.
Eine solche gewaltige unabhängige Todeswelle im kommenden halben Jahr ist aber überhaupt nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Sehr viele Personen werden eben nicht im kommenden halben Jahr sterben – anders als in Palmers kontrafaktischem Szenario –, sondern verteilt über die kommenden Jahre, so wie im Schnitt eben Menschen sterben.
Wie würde Boris Palmers Satz sachlich formuliert lauten?
Der Sachverhalt, auf den Boris Palmer hinweist, sollte neutraler so formuliert werden: „Unter den Menschen, die jetzt nicht an Corona sterben — sei es, weil sie geheilt werden, oder sei es, weil sie sich nicht infizieren — wird es auch einige geben, die im kommenden halben Jahr sterben.“
In dieser Formulierung geht aber jede politische Brisanz verloren.
Richtig. Dieser Sachverhalt — nun ohne suggestive Konjunktive formuliert — liefert sicher kein Argument, die Notwendigkeit von Beschränkungen anzuzweifeln. Wir sehen in anderen Ländern, dass bei Corona-Erkrankung dramatisch mehr Personen sterben (würden) als gemäß der durchschnittlichen Sterberate der nächsten sechs Monate.
Kommen wir zurück zum Wörtchen „sowieso“.
Das Wort sowieso „würzt“ Palmers Satz mit reichlich Zynismus: Unter welchen Umständen ein Mensch – ob der „eigentliche“ Tod auch nah oder fern sein mag – medizinische Hilfe nicht mehr wert sei, wie es Palmers lässiges sowieso impliziert, das ist eine sehr schwierige Debatte, in der seine Einlassung nichts ist als „a saudomms G’schwätz“.
Prof. Dr. Regine Eckardt ist Professorin für Allgemeine und Germanistische Linguistik an der Universität Konstanz. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe FOR 2111 „Questions at the Interfaces“. Die Forschungsgruppe untersucht sprachliche Phänomene rund um Fragesätze, mit einem besonderen Fokus auf nicht-kanonische Frageformen wie rhetorische Fragen, Suggestivfragen, Echofragen sowie selbst-adressierte Fragen.