Die Zeitreisenden aus dem Bodensee

Ein Blick in die Vergangenheit des Bodensees: Die Forschenden des Limnologischen Instituts der Universität Konstanz untersuchen die Evolution des Sees, unter anderem mithilfe von Tiefenbohrungen. Sie gehen mit ihrer Arbeit der Frage nach, wie die Organismen und Lebensgemeinschaften im See auf natürliche und menschgemachte Veränderungen der Umweltbedingungen reagieren und welche evolutionären Anpassungen dabei besonders erfolgreich sind.

Das Limnologische Institut der Universität Konstanz feiert sein Jubiläum: Vor genau 50 Jahren wurde der heutige Standort des Instituts in Konstanz/Egg eingeweiht. Zu diesem Anlass gewährt uns der Biologe Prof. Dr. Lutz Becks Einblicke in die Forschung, die er und seine Kolleginnen und Kollegen am Limnologischen Institut zum Thema „Evolution wasserlebender Organismen“ durchführen.
 
Der Bodensee unterliegt ständigen Veränderungen. Diese werden teils durch wiederkehrende Ereignisse ausgelöst, zum Beispiel im Verlauf der Jahreszeiten, oder durch einmalige Ereignisse, wie die Ausbreitung einer invasiven Tierart oder eines neuen Virus. Auch menschgemachte Faktoren, wie der Anstieg von nachweisbaren Medikamentenresten in natürlichen Gewässern, gewinnen in jüngster Zeit zunehmend an Bedeutung. Um besser zum Erhalt unserer Gewässer und der darin beheimateten Lebensgemeinschaften beitragen zu können, bedarf es intensiver Forschung zur Ökologie und Evolution komplexer Lebensräume. Die Forschungsansätze sind vielseitig und reichen von Untersuchungen und Beobachtungen der Ökosysteme selbst bis hin zu detaillierten Experimenten im Labor. Die Forschenden des Limnologischen Instituts kombinieren hierfür sowohl klassische als auch moderne Fragestellungen der Ökologie und Evolutionsforschung mit Spitzentechnologie.

„Auf lange Sicht geht es uns darum, zu verstehen, welche Rolle die innerartliche Variation der Seebewohner für das System Bodensee oder Seen allgemein spielt. Und zwar über alle beteiligten Organismengruppen hinweg, von Viren über Bakterien bis hin zu Pflanzen und Tieren. Auch die Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen muss dabei auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden, von der genetischen bis hin zur funktionellen Ebene, aber auch im Zusammenspiel zwischen den Arten.“

Prof. Dr. Lutz Becks

 
Forschung im Bodensee
Bei der reinen Beobachtung des Ökosystems Bodensee spielt das institutseigene Forschungsschiff „Lauterborn“ seit seiner Schenkung an die Universität Konstanz durch das Land Baden-Württemberg vor 50 Jahren eine entscheidende Rolle. Das knapp 22 Meter lange Schiff läuft regelmäßig mit Besatzung und Forschenden aus, um in einzelnen Abschnitten des Bodensees die Bestände verschiedener Planktonarten, also Kleinstlebewesen, wie Bakterien, Algen und Krebstieren, zu erfassen und zu beschreiben. Die gewonnenen Daten über die Veränderung der Organismen und ihrer Lebensgemeinschaften im See werden dann mit anderen Umweltdaten, zum Beispiel zum Klima oder zur Nährstoffzusammensetzung des Sees, in Zusammenhang gebracht.

Das Forschungsschiff "Lauterborn"


 
Die Arbeit im Bodensee beschränkt sich dabei fast ausschließlich auf die Beobachtung des Gewässers, da die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler es stets vermeiden, das Ökosystem selbst durch Ihre Forschung zu beeinflussen oder zu verändern. Eine kreative Zwischenlösung, die den See unangetastet lässt, aber dennoch die Möglichkeit des wissenschaftlichen Experiments bietet, sind sogenannte Mesokosmen. „Wir können uns diese Mesokosmen wie Aquarien im See vorstellen. Diese sind mit echtem Seewasser gefüllt, welches wir nicht verändern. Worauf wir allerdings Einfluss nehmen können, ist, welche Organismen in den einzelnen ‚Aquarien‘ vorkommen“, erklärt Becks den Ansatz. Durch die Schaffung derartiger Miniaturökosysteme kann zum Beispiel untersucht werden, welchen Einfluss die An- oder Abwesenheit einer bestimmten Fischart auf die Planktonarten im See hat. Dieser Ansatz behandelt also im Kern ökologische Fragestellungen. Um mehr über die Evolution des Sees zu erfahren, müssen die Forschenden im wahrsten Sinne des Wortes tiefer bohren und zusätzlich den Schritt ins Labor machen.
 
Mit Bohrkernen in die Vergangenheit blicken
Eine Reihe von Projekten des Limnologischen Instituts basiert auf Sedimentbohrungen im Bodensee, die unter anderem ebenfalls vom Forschungsschiff „Lauterborn“ aus durchgeführt werden. Hierfür entnehmen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Bohrkerne aus dem Boden unterhalb des Sees, um einen Blick in die Vergangenheit des Sees zu werfen. „Ganz ähnlich wie bei den Jahresringen eines Baumstamms können wir sehr gut abschätzen, aus welchen Jahren die einzelnen Schichten eines Bohrkerns stammen“, verdeutlicht Becks. Eine Auswahl der Forschungsarbeiten an den Sedimentproben reicht von genetischen Analysen an den enthaltenen Organismen (Prof. Dr. Laura Epp) über die Untersuchung evolutionärer Anpassungen aus dem Sediment geborgener Wasserflöhe (PD Dr. Dominik Martin-Creuzburg) bis hin zur Rekonstruktion vergangener Lebensgemeinschaften anhand von Organismenüberresten (PD Dr. Dietmar Straile) und Pigmenten (Prof. Dr. Frank Peeters) im Sediment. Die thematische Bandbreite spiegelt dabei den ganzheitlichen Ansatz der Forschung am Limnologischen Institut wider.
 
Eine weitere Besonderheit der Bohrkerne – neben der genauen Datierbarkeit einzelner Sedimentschichten – ist, dass sich in ihnen sogenannte Dauerstadien verschiedener Kleinstlebewesen befinden. Das sind Übergangsformen, wie Sporen oder Dauereier. In diese können sich kleine Wasserorganismen, wie der bereits erwähnte Wasserfloh, bei Nahrungsknappheit oder anderweitig ungünstigen Umweltbedingungen umwandeln, um auf bessere Zeiten zu warten. Ihre Überlebensfähigkeit und genetische Ausstattung ändert sich dabei teils über Jahrzehnte hinweg nicht. Sie können daher, zum Beispiel durch die Schaffung geeigneter Bedingungen im Labor, auch noch nach langer Zeit wieder zum Leben erweckt und erforscht werden.

 
Hierzu bringen die Forschenden den entnommenen Bohrkern auf direktem Weg von der „Lauterborn“ ins Labor im Limnologischen Institut. Dort werden die enthaltenen Dauerstadien zum Schlüpfen beziehungsweise Keimen gebracht und anschließend in großer Zahl gezüchtet. „Wir nutzen diese direkten Nachkommen jahrzehntealter Organismen, sozusagen kleine Zeitreisende, um sie mit ihren heute im See lebenden Artgenossen zu vergleichen“, erklärt Becks. Mit den zugehörigen Umweltdaten aus den unterschiedlichen Jahren können also nicht nur Rückschlüsse darauf gezogen werden, ob und wie die Organismen an die ökologischen Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit angepasst waren. Zusätzlich können die Anpassungen der Organismen auch in Laborexperimenten, durch die kontrollierte Schaffung verschiedener Umweltbedingungen, getestet und verglichen werden.
 
Evolution im Zeitraffer
Wenn der Begriff „Evolution“ fällt, denken viele von uns wahrscheinlich zunächst an Darwin und die Entstehung neuer Tier- und Pflanzenarten im Verlauf der Erdzeitalter. Neue Arten sind jedoch nur ein Endprodukt evolutionärer Prozesse und auf dem Weg dorthin erfolgt in der Regel eine Vielzahl kleinerer und größerer evolutionärer Anpassungen innerhalb der Arten. Beispiele hierfür sind die Immunität gegen einen bestimmten Parasiten oder höhere Widerstandsfähigkeit gegenüber Konkurrenten. „Evolution findet immer statt, mal langsam, mal schneller“, erläutert Becks.

„Entscheidend für die Evolution ist zunächst einmal, dass es Variation innerhalb einer Art gibt. Sie ist die Grundlage dafür, dass Selektion, also die evolutionäre ‚Auswahl‘ vorteilhafter Eigenschaften, überhaupt stattfinden kann."

Prof. Dr. Lutz Becks

 
Hohe Variation in den Eigenschaften gibt es vor allem dort, wo Populationen sehr groß sind, wie zum Beispiel die der Kleinstlebewesen im Bodensee, die Becks und seine Kollegen untersuchen. Zusätzlich haben diese häufig sehr kurze Generationsdauern. Dadurch ist es den Forschenden möglich, eine Vielzahl dieser Individuen und sogar die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Organismenarten über mehrere Generationen hinweg zu beobachten. Evolutionäre Prozesse können so in deutlich kürzeren Zeiträumen erforscht werden, als dies zum Beispiel an Säugetieren möglich wäre, die weitaus längere Generationsdauern haben. Verändert man dabei im Labor gezielt die Umweltbedingungen, unter denen die betrachteten Organismen leben, spricht man von „experimenteller Evolution“.
 
Maschinelle Unterstützung
Die Arbeit mit Einzellern und anderen Kleinstlebewesen hat jedoch auch Nachteile. Für die Auswertung von Laborexperimenten bedarf es oft zeitaufwändiger Beobachtungen und Auszählungen unter dem Mikroskop. Das Limnologische Institut der Universität Konstanz hat hierfür die tatkräftige Unterstützung eines Mikroskopie-Roboters. Dieser erlaubt es den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in ihren Studien zur experimentellen Evolution, möglichst viele Umweltbedingungen im Hochdurchsatz zu simulieren – eine Arbeit, die ein Mensch in der gleichen Zeit nicht leisten könnte. „Die Masse an Versuchen ist hier tatsächlich ganz entscheidend. Wir wissen vorab häufig nicht, welche Variationen in den Eigenschaften der Organismen unter welchen Umweltbedingungen von Vor- oder Nachteil sind. Mithilfe des Roboters können wir vergleichsweise einfach eine Vielzahl möglicher Kombinationen durchspielen und über mehrere Generationen hinweg beobachten“, führt Becks näher aus. So bekommen die Forscherinnen und Forscher einen viel besseren Überblick darüber, wie viel Variation überhaupt innerhalb einer Population vorhanden ist und welche der Variationen relevant für die Anpassung sind.
© Lutz Becks

Merkmale wiedererweckter Organismen, wie Wachstumsrate, Morphologie oder die Reaktionen auf Fressfeinde und Viren, werden mithilfe eines Roboters und automatisierter Mikroskopie im Hochdurchsatz unter verschiedenen Umweltbedingungen untersucht.

Das Limnologische Institut der Universität Konstanz feiert dieses Jahr gleich mehrere runde Geburtstage: Es ist seit 60 Jahren das einzige Institut seiner Art in Deutschland, das eine universitäre Anbindung hat und dadurch einzigartige Möglichkeiten der Ausbildung in diesem Bereich bietet. Zunächst als Teil der Universität Freiburg – als Hydrobiologische Station Falkau – gegründet, wurde vor genau 50 Jahren der heutige Standort des Instituts in Konstanz/Egg eingeweiht. Als Geschenk zur Einweihung im Jahre 1971 und der im Vorjahr stattgefundenen Angliederung des Instituts an die Universität Konstanz überreichte das Land Baden-Württemberg dem Institut außerdem das Forschungsschiff „Lauterborn“, mit dem die Limnologinnen und Limnologen der Universität Konstanz seither den Bodensee erforschen.

Dr. Daniel Schmidtke

Von Dr. Daniel Schmidtke - 18.03.2021