Soziologie im Auftrag des Präsidenten
Frau Diehl, Sie haben ein Jahr lang in der Blanchard-Tirole-Kommission mitgewirkt, die für den französischen Präsidenten Leitlinien zur Bewältigung der wichtigsten Herausforderungen für die französische Wirtschaft erarbeiten sollte. Was hat Sie dazu bewegt, hier Ihre knapp bemessene Zeit zu investieren?
Prof. Dr. Claudia Diehl: In Zeiten von Fake News und Populismus ist es wirklich wichtig, wissenschaftliche Erkenntnisse an die Öffentlichkeit und die Politik zu kommunizieren. Und zwar so, dass sie nicht nur für ein breites Publikum präzise, verständlich und interessant sind, sondern auch für die notorisch unter Zeitdruck stehenden politisch Entscheidenden. In meinem Fachgebiet, der Migration und der Integration von Eingewanderten, haben Forschende aus der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Ökonomie eine Menge belastbarer Beweise zu vielen Fragen zusammengetragen. Und je älter ich werde, desto mehr denke ich, dass wir mehr Zeit darauf verwenden sollten, diese wichtigen Erkenntnisse in das politische System einzuspeisen, anstatt noch eine weitere empirische Studie zu einer weiteren kleinen Forschungslücke hinzuzufügen. Und wenn der französische Präsident darum bittet, genau das zu tun, sagt man natürlich nicht nein.
Zweitens war gerade für mich als Soziologin die Perspektive ungeheuer interessant, mit einer Gruppe so hochkarätiger Ökonominnen und Ökonomen zusammenzuarbeiten, wie sie in der Kommission zusammengekommen sind. Leider kam unser gemeinsames Abendessen in Paris mit der gesamten Gruppe aufgrund der Pandemie nicht zustande. Aber der Austausch war ja trotzdem da – und das Abendessen wird nachgeholt!
Drittens war der Ruf in die Expertenkommission auch eine prima Chance, sich mit den spezifischen Herausforderungen Frankreichs besser vertraut zu machen.
Prof. Dr. Claudia Diehl ist Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz und Co-Sprecherin des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“. In den letzten zehn Jahren war sie in verschiedenen interdisziplinären Beiräten in der deutschen Politik tätig, etwa am Bundesinnen- und Bundesfamilienministerium. 2015-2021 war sie Mitglied des Sachverständigenrats für Integration und Migration. Seit 07. Mai 2021 ist Claudia Diehl Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission für die Kultusministerkonferenz. Ihre Forschungsinteressen umfassen soziokulturelle Einflüsse auf den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern, Eingliederung von Zuwanderern, ethnische Grenzziehungen, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung sowie internationale Migration.
Sie deuten an, dass Sie nicht direkt eine Frankreichexpertin sind; überhaupt waren die Mitglieder der Expertenkommission größtenteils keine Spezialisten für die französische Wirtschaft, sondern sollten sich einen unverstellten Blick von außen bewahren. Was hat Sie an dieser Aufgabe interessiert?
Stimmt, ich bin keine Expertin für die spezifischen Herausforderungen und Problemlagen der Migration und Integration in Frankreich. Aber ich kenne natürlich die wichtige Fachliteratur, und habe während der Arbeit an unserem Kapitel mit vielen französischen Kolleginnen und Kollegen gesprochen. Der Bericht hat mir die Gelegenheit gegeben, mir ein umfassendes Bild davon zu machen, wie es unseren Nachbarn geht. Oft lernt man viel aus Vergleichen, zum Beispiel welche Teile des Problems spezifisch für ein bestimmtes Land sind und welche eher allgemeine Herausforderungen und Mechanismen widerspiegeln. Migrierte zum Beispiel erleben immer – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – eine Abwertung ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen. Das erschwert ihre Integration in den Arbeitsmarkt. Aber die Länder unterscheiden sich sehr stark darin, wie sie mit diesem Problem umgehen. Mir ist nochmals klar geworden, dass Deutschland durchaus Vieles richtig macht, gerade wenn es um die Aufnahme von Neuzugewanderten geht.
Wie fand denn die Zusammenarbeit in der Expertenkommission konkret statt?
Der Bericht umfasst drei Kapitel: Klima, Ungleichheit und Demografie. Die Kapitel wurden jeweils von Zweier- oder Dreierteams geschrieben und immer wieder vor der großen Gruppe vorgestellt und diskutiert. Das Demografie-Kapitel haben Axel Börsch-Supan, ein Münchner Rentenexperte, die Londoner Gesundheitsökonomin Carol Propper und ich geschrieben. In unserem Kapitel stand die Rentenreform im Zentrum, die Unterkapitel zu Gesundheit und Migration hatten eher ergänzenden Charakter.
"Wahrnehmungen, egal wie verzerrt sie sind, formen in erheblichem Maße die Realität, in der wir leben. Daher wäre es ein sehr kurzsichtig, diese gedachte und wahrgenommene Realität gerade in konfliktträchtigen Politikfeldern nicht zu berücksichtigen."
Prof. Dr. Claudia Diehl, Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz, Co-Sprecherin des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“
Würden Sie uns diese Kernbefunde einmal zusammenfassen?
Nun, der erste Schritt sollte meiner Meinung nach sein, die Anerkennung vorhandener und den Erwerb neuer Qualifikationen auch für gering qualifizierte Zugewanderte zu erleichtern.
Zweitens muss es darum gehen, die Vererbung geringer Bildung innerhalb der Familie zu verringern. Dafür müsste der Zugang benachteiligter Kinder zu guten Schulen verbessert werden. Hier sollte man etwa die privaten Schulen, die in Frankreich vom Staat gefördert werden, stärker in die Pflicht nehmen, den sozialen Mix an den Schulen zu verbessern. Davon würden gerade die Kinder von Eingewanderten profitieren.
Der dritte Punkt bezieht sich auf die in Frankreich stärker als in Deutschland ausgeprägte ethnische Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Sie bleibt oft unentdeckt, weil in Frankreich der Konsens besteht, dass alle im Land Geborenen Französinnen und Franzosen sind und die Herkunft keine Rolle mehr spielt – oder spielen sollte. So wird Diskriminierung in der zweiten Generation häufig gar nicht mehr erfasst. Ich habe empfohlen, dass es besser dokumentiert wird, wenn bestimmte Gruppen in Unternehmen und Organisationen unterrepräsentiert sind. Auch sollte künftig im französischen Zensus nach dem Geburtsort der Eltern gefragt werden. Studien zeigen, dass es bei den Betroffenen ohnehin wenig Widerstände gibt, diese Information anzugeben.
Eine Besonderheit dieses Berichts, der ja – mit Ihrer Ausnahme – von Ökonominnen und Ökonomen verfasst wurde, scheint mir die Aufmerksamkeit zu sein, die der Wahrnehmung der Menschen gewidmet wird. Soziale Akzeptanz ist für eine Regierung, die eine Politik umsetzen will, natürlich von zentraler Bedeutung. Wird hier in dem Bericht ein wenig Ihre Handschrift erkennbar?
Bei uns in der Soziologie hat die umfragebasierte Forschung lange Tradition, eine längere als in der Ökonomie. Zwei amerikanische Soziologen (William Isaac Thomas und Dorothy Swaine Thomas) haben einen berühmten Ausspruch geprägt, der sich in den Gehirnen aller Soziologen eingeprägt hat: „If men define situations as real, they are real in their consequences“ („Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind sie auch in ihren Konsequenzen real“). Wahrnehmungen, egal wie verzerrt sie sind, formen in erheblichem Maße die Realität, in der wir leben. Daher wäre es ein sehr kurzsichtig, diese gedachte und wahrgenommene Realität gerade in konfliktträchtigen Politikfeldern wie der Klima- oder Rentenpolitik, und natürlich der sozialen Ungleichheit nicht zu berücksichtigen. In den Bericht hat das Thema der subjektiven Wahrnehmungen aber vor allem Stefanie Stantcheva eingebracht. Sie ist eine Ökonomin aus Harvard und eine der Autorinnen des Ungleichheitskapitels. Wir haben sie prompt zu unserer nächsten Konferenz am Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ eingeladen!
Haben Sie das Gefühl, dass sich die Arbeit gelohnt hat?
Der Präsident hat sich bei zwei Gelegenheiten wirklich Zeit genommen, unsere Pläne für und die Ergebnisse des Kommissionsberichts angehört, kommentiert und uns viele Fragen gestellt. Der Bericht macht klar, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Viele Vorschläge sind vermutlich nicht brandneu, und bei manchen mag fraglich sein, inwiefern sie politisch durchsetzbar sind. Aber es war für mich schon erstaunlich, wie einig sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darüber sind, was in den Bereichen Klima, Ungleichheit und Renten beziehungsweise Arbeitsmarkt passieren muss! Vielleicht trägt dies in der Summe doch dazu bei, den notwendigen Reformen im lauten politischen Alltagsgeschäft Gehör zu verschaffen. Und selbst wenn dies schwierig wird oder lange dauert, nehmen wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Ende auch noch etwas anderes mit: Wir selbst nämlich haben sehr viel mit- und voneinander gelernt.