Ehingers in „Klein-Venedig“
Ulrich Ehinger war Bescheidenheit fremd. Es gibt Quellen, die ihn als aufschneiderisch und auftrumpfend darstellen. Auf dem Porträtbild gleich zu Beginn der Ausstellung „Stoff. Blut. Gold“ ist das gut nachzuvollziehen. Gekleidet in Marderpelz und die älteste Taschenuhr der Welt demonstrativ in der Hand haltend zeigt er, was er hat. Auch seine Frau Ursula auf dem Porträtbild nebenan ist in Samt und Seide gehüllt. Die Nachfahrin der vermögenden Augsburger Patrizierfamilie Meuting und Ulrich Ehinger sind gewissermaßen Sinnbilder für die Ausstellung von Studierenden der Universität Konstanz, der Hochschule Konstanz Technik, Wirtschaft und Gestaltung (HTWG) und der Fachhochschule Kaiserslautern.
Kolonialgeschichte von den Menschen aus gesehen
Insofern nämlich als die Ausstellung einen besonderen Zugang gewählt hat. Sie erforscht Kolonialgeschichte über die Ergründung der Menschen hinter den Namen der AkteurInnen. In diesem Fall sind es Namen rund um die einflussreiche Konstanzer Patrizier- und Handelsfamilie Ehinger, die nur wenige Jahre nach der Eroberung Mexikos 1521 – vor genau 500 Jahren – als Handelspartner der Unternehmerfamilie Welser aus Augsburg ihre Fühler nach Lateinamerika auszustrecken begann. Ermöglicht wurde das durch die immensen Schulden, die Kaiser Karl V. auch beim Ehinger-Clan hatte. Das öffnete diesem das Tor nach Venezuela, das in der Folge der militärischen Eroberung Mexikos nun – mit kaiserlicher Genehmigung – von europäischen Handelsleuten auch wirtschaftlich erobert werden konnte. Tatsächlich war es ein großes Privileg speziell für Ulrich Ehinger, als Nicht-Spanier im transatlantischen Geschäft mitzumischen.
Ausstellung „Stoff. Blut. Gold.“: Hieronymus Sailer
https://youtu.be/cPA2NR8BY9oChristoph Amberger, Hieronymus Sailer, Augsburg 1537, Öl auf Holz © Residenzmuseum München. L 255; Animationen: Julia von Muschwitz und Kristina Hörbelt
Manche Verwandtschaftsverhältnisse waren auch den beiden Kuratorinnen, der Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Kirsten Mahlke und der Doktorandin Hannah Alejandra Beck, zunächst nicht bekannt. Zum Beispiel war nicht klar, wie die Verbindung zwischen der Familie Ehinger zur einflussreichen Familie Welser in Augsburg zustande kam, die 1528 von Karl V. Venezuela als Pfand für dessen Schulden erhalten hatte. Sicher ist: Sie mündete bei den Unternehmenspartnern auch in Heiratsallianzen: Hieronymus Sailer, ein weiterer mächtiger Akteur und Partner von Ulrich Ehinger in St. Gallen, war mit Felicitas verheiratet, der Tochter des Welserkonzern-Chefs Bartholomäus V. Auf diesem Weg wurden er und die Familie Ehinger quasi Subunternehmer der Welsers.
„Die Geschichte auf diese Weise begreifen kann man nur, wenn man sich die einzelnen Personen anschaut und nicht nur globale Zusammenhänge. Man muss sie von lokalen Akteuren aus denken.“
Hannah Beck, Doktorandin in der Arbeitsgruppe Mahlke
Globalgeschichte versus Lokalgeschichte – für die AusstellungsmacherInnen von „Stoff. Blut. Gold“ sind das zwei Seiten derselben Medaille. Der Untertitel der aktuellen Ausstellung im Richental-Saal des Konstanzer Kulturzentrums „Auf den Spuren der Konstanzer Kolonialzeit“ hat diesen Doppelaspekt sinnreich aufgenommen. „Globalgeschichte ist nie nur global, sondern hat immer lokale Einflüsse. Lokalgeschichte ist nie nur lokal begrenzt, sondern hat immer auch anderswo Einflüsse“, so die Doktorandin, die in ihrer Dissertation zu Zusammenhängen zwischen kolonialem Narrativ und europäischer Marktentwicklung im 16. Jahrhundert forscht.
Wenn AkteurInnen zu sprechen beginnen
Die wissenschaftlichen Inhalte haben die Wissenschaftlerinnen und Studierenden der Universität Konstanz zur Ausstellung beigesteuert. Für deren Präsentation waren die Studierenden des Fachs Kommunikationsdesign der HTWG zuständig. Diesen sind auch die Animationen einzelner Porträts und Kupferstiche samt Sprech- bzw. Musikeinspielung zu verdanken, die mittels einer App mit dem Handy gestartet werden. Da liest Ulrich Ehinger seiner Frau eine Passage aus seinem Testament vor – eine wichtige Quelle –, wobei er Kopf, Lippen und Hände bewegt. Seine Frau hört im Gegenzug den Anweisungen zu. „Die Quellen gewinnen durch die Animationen unglaublich an Aussagekraft. Das ist eine ganz große Leistung der HTWG-Studierenden“, sagt Hannah Beck.
Ausstellung „Stoff. Blut. Gold.“: Frau Ehinger
https://youtu.be/C9U8TzZ4zmAChristoph Amberger, Porträt Ursula Ehinger, geb. Meuting, Augsburg, 1532, Öl auf Lindenholz © Kunsthistorisches Museum Wien, Sig. 5621; Animationen: Julia von Muschwitz und Kristina Hörbelt
Die Historikerin und Hispanistin hat einen in seiner Bedeutung nicht zu überschätzenden Fund gemacht. In ihrem Bestreben, den handelnden Personen „mehr Tiefe zu geben“, die Personen hinter den Namen mit ihrer Motivation und Gedanken offenzulegen, ging sie auf die Suche nach Quellen. Vor den Reisebeschränkungen durch die Corona-Pandemie konnte sie bereits Archive im spanischen Valladolid und Sevilla besuchen, wo sie eine „beeindruckende Menge“ an Verträgen vorfand. Allerdings keine privaten Briefe, denen ihre Recherche eigentlich galt.
Ein Tipp brachte den Durchbruch
Dann kam das Reiseverbot und mit ihm die Lösung ihres Problems: Sie musste sich ausschließlich online auf die Suche machen und erhielt über das Portal Researchgate wertvolle Hinweise von Forschenden aus aller Welt, die von ihrem Projekt gehört hatten. Der Tipp, in der Briefsammlung von Johannes Dantiscus nachzuschauen, brachte den Durchbruch. Darin befanden sich nicht nur Briefwechsel des polnischen Diplomaten mit Hernán Cortés, der 1521 Mexiko eroberte, sondern – überraschenderweise – auch mit Ulrich Ehinger. Und: Das Material war bereits digitalisiert. „Die Eroberung Venezuelas ist normalerweise spanische Geschichte. Schaut man sich jedoch die Teilnehmenden an, wird es plötzlich eine Geschichte, die im süddeutschen Raum verankert wird“, kann Hannah Beck nun durch Quellen belegt schlussfolgern.
Ausstellung „Stoff. Blut. Gold.“: Cortes
https://youtu.be/k_diRlNfACIChristoph Weiditz, Don Ferdinand Cortés, Trachtenbuch, München um 1600 © Bayrische Staatsbibliothek, Cod. Icon 342.; Animationen: Julia von Muschwitz und Kristina Hörbelt
Und umgekehrt: Aus den Handelsnetzen der süddeutschen Unternehmen lässt sich die Geschichte dreier Kontinente – Afrikas, Lateinamerikas und Europas – herauslesen. Möglich waren diese globalen Netzwerke durch einen immensen Zugewinn an Wissen. Insbesondere die Kartografie entwickelte sich rasant. Beim Anblick damaliger Karten vom Küstenverlauf wird klar, warum das Land Venezuela – „Klein-Venedig“ – genannt wurde. Die Grenze zwischen Wissen und Phantasie war allerdings fließend, wie ein Blick in die „Chronica“ des Christian Egenolff von der Konstanzer Heinrich Suso Bibliothek verrät. Weil der Informationsfluss nur so schnell war, wie die Schiffe segeln konnten, und es somit keine unmittelbaren Rückmeldungen gab, hatten die zu Hause Gebliebenen Zeit, ihre Phantasie blühen zu lassen. Die Frage, mit was die Familienangehörigen an den fremden Gestanden wohl konfrontiert sind, wurde mit den „Monstern am Weltenrand“, phantastischen Gestalten mit Hundsköpfen oder dem „Schattenfüßler“, beantwortet, einem menschenähnlichen Wesen, das sich mit dem Fuß des nach oben ausgestreckten Beins selbst Schatten spendet.
Ein sinniges Ausstellungskonzept
Dass solch wertvolle Originale wie auch das Speculum Nauticum von Lucas Janszon Waghenaer – ebenfalls in der Heinrich Suso Bibliothek zu Hause – in der Ausstellung gezeigt werden können, ist alles andere als selbstverständlich. Die Bücher müssen unter anderem vor Licht geschützt werden. Und hier kommen die Innenarchitektur-Studierenden der Fachhochschule Kaiserslautern ins Spiel. Sie entwickelten ein Konzept, das zum einen den Transport der Ware thematisiert und zum anderen dem Ausstellungsraum geschuldet ist. Sie wählten Transportkisten und Säcke als Präsentationsmittel, wobei die wertvollen Bücher symbolisch in Kisten liegen, deren Deckel nicht ganz geöffnet sind, sodass die lichtempfindlichen Buchseiten vor der Sonne geschützt sind. Die drei Meter hohen hölzernen Elemente mit den Exponaten, die im denkmalgeschützten Richental-Saal nicht mit Nägeln oder Sonstigem befestigt werden können, wurden mit Kaffeesäcken beschwert und so gesichert.
Die Präsentation der diversen Quellen und Dokumente – beginnend bei den Porträts über die originalen Bücher und bis hin zu den Kopien von Briefen, Karten und Kupferstichen – spielt in der Ausstellung zur Konstanzer Kolonialzeit eine Hauptrolle. Neben dem HTWG-Team trägt auch der Beitrag der Innenarchitektur-Studierenden aus Kaiserslautern zur sinnlichen Erweiterung der wissenschaftlichen Inhalte bei. Das Schiffsmotiv aufgreifend berichtet die Ausstellung von denjenigen, die keine dokumentierten Quellen hinterlassen haben: der Bevölkerung Lateinamerikas und Afrikas, den durch die Sailers, Welsers und Ehingers Versklavten. „Wir hatten den Inhalt wissenschaftlich aufgearbeitet und wussten, was wir erzählen wollten. Aber die Übersetzung unseres Textes in den Raum ist nochmals eine ganz eigene Leistung“, sagt Hannah Beck. Auf dem Boden des Raumes sind im Mittelteil die Umrisse eines Schiffes abgegrenzt, die in einer Projektion auf der darauf zulaufenden Wand fortgeführt werden. Die Stützbalken im Richental-Saal wurden als Schiffsmasten ins Gesamtbild integriert.
Menschen gehören zum Warensortiment
Die abgegrenzte Bodenfläche ist ausgefüllt mit den Silhouetten liegender Körper, Sinnbilder der Menschen, die aus ihrer Heimat nach Europa verschifft wurden – genauso wie Kaffee, Stoffe, Gewürze oder Gold. Man bewegt sich um sie herum, ohne um sie herumzukommen. Nicht zuletzt durch Ulrich Ehingers Testament sind Zahlen solcher Menschenfracht bekannt, sogar der jeweilige Anteil von Frauen und Männern. Zwischen 1500 und 1800 werden zwischen 12 und 20 Millionen Menschen versklavt und verschleppt, was im informationsreichen Ausstellungskatalog von Kirsten Mahlke und Hannah Beck nachzulesen ist.
Im gesetzlichen Verbot, die indigene Bevölkerung zu versklaven, fanden die Eroberer offenbar eine Lücke. Menschen wurden zu Kannibalen, „Leutfressern“, erklärt, womit das Verbot nicht mehr griff. Die Ausstellung möchte allerdings weder eine Helden- noch eine Opfergeschichte erzählen. Tatsächlich gab es auch Widerstand der indigenen Bevölkerung. Auf dem Kupferstich von Theodor de Bry ist zu sehen, wie Einheimische flüssiges Gold in die Kehle eines Conquistadoren gießen. Der primitive Hunger nach Gold war bei den Einheimischen Gegenstand von Spott.
Der Goldrausch bekam damals seinen noch heute geläufigen Namen: „El Dorado“ geht auf die Legende vom „vergoldeten Mann“ zurück – auf den Initiationsritus eines Andenvolks, dessen neue Herrscher mit Goldstaub bedeckt wurden, um ihn in einem Opferritual an den Sonnengott im Guatavitasee abzuwaschen. Anfang des 16. Jahrhunderts entwickelte sich der „Goldene Mann“ in Europa zur Vorstellung vom „Goldenen Land“ und damit zum Sehnsuchtsort aller, die sich Reichtum, Ruhm und Abenteuer zum Ziel gesetzt haben. Ulrich Ehinger schreibt in einem Brief an Johannes Dantiscus, dass 21 Packesel nötig gewesen seien, um all das Gold und Silber zu transportieren. Eines der Lieblingsausstellungsstücke von Hannah Beck ist die „Landung in Venezuela“ von Hieronymus Köler, auf dem die Goldkrüge schon an den Küsten zum Abholen bereitstehen. Ab 1513 musste sich die indigene Bevölkerung im Übrigen verpflichtend das "El Requerimiento" anhören, in dem ihr – auf Spanisch und beginnend bei Adam und Eva – erklärt wird, warum die Landnahme rechtens sei.
Ausstellung „Stoff. Blut. Gold.“: Ankunft in Venezuela
https://youtu.be/TMZzcrtVMj4Juan Lopez de Palacios Rubios, Requerimiento, 13 im Rahmen der Neuen Gesetze für SpanischAmerika verfasst © London, British Library, Add. 15217, f. 39v; Animationen: Julia von Muschwitz und Kristina Hörbelt
Tatsächlich wäre es zu kurz gegriffen, all den Menschen, die an der Küste Venezuelas anlandeten, allein Gier zu unterstellen. Ruhm und Abenteuerlust waren ebenfalls ein starkes Motiv, all die Strapazen auf sich zu nehmen, die auch für die Eroberer angesichts des ihnen völlig fremden Landes erheblich waren. Auch hier wieder der Wunsch der AusstellungsmacherInnen, unter der Oberfläche zu den handelnden Menschen durchzudringen – und zwar so multiperspektivisch wie nur möglich. So wird im Brief von Titus Neukomm an seine Lindauer Familie, in dem er schildert, wie Indigene die Entführung von Frauen rächten, deutlich, wie wenig die Invasoren in der Lage waren, ihr eigenes Unrecht zu erkennen, geschweige denn, Mitgefühl zu entwickeln.
„Es ist wichtig – und ist auch ein großes Glück – die Akteure selbst zu Wort kommen lassen zu können. Sie nicht interpretieren zu müssen, sondern sie einfach über die aussagekräftigen Quellen sprechen zu lassen.“
Hannah Beck, Doktorandin in der Arbeitsgruppe Mahlke
In der testamentarischen Inventarliste Ulrich Ehingers fallen auch die Namen der Sklaven Anton und Diego und der Hinweis an seine Frau Ursula, „dass sie mit ihnen machen kann, was immer sie für gut befindet“. Quellen von den Menschen selbst, die von Afrika und Lateinamerika nach Europa verschleppt wurden, sind so gut wie keine bekannt. „Bestimmt liegen irgendwo Dokumente, aber wir haben sie noch nicht entdeckt“, ist Hannah Beck überzeugt. Schließlich wurden auch die Briefe von Ulrich Ehinger gefunden, ohne dass sie Hinweise auf deren Existenz hatte: „Mit der Ausstellung wird eine Tür geöffnet. Der Anfang ist gemacht.“
© Dr. Maria SchorppHanna Alejandra Beck (links) ist Doktorandin und erforscht als Historikerin und Hispanistin in der Arbeitsgruppe Mahlke die Zusammenhänge zwischen der Überlieferungsgeschichte des El Dorado-Mythos mit den wirtschaftshistorischen Konjunkturen der Welser-Conquista. Seit 2019 ist sie Promotionsstipendiatin der Stiftung der deutschen Wirtschaft.
Prof. Dr. Kirsten Mahlke (rechts) ist Professorin für Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Methoden an der Universität Konstanz. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit kolonialzeitlichen Texten des 16./17. Jahrhunderts. Als Lateinamerikanistin stieß sie in der spanischen Sekundärliteratur über Chroniken der Venezuela-Eroberung auf den Namen Ehinger aus Konstanz und hat seit 2017 mit Studierenden und DoktorandInnen die Erforschung dieses frühen lokalgeschichtlichen Anteils an der Eroberung und Kolonialisierung Amerikas vorangetrieben.
Die Ausstellung im Richental-Saal des Konstanzer Kulturzentrums am Münster ist noch bis zum bis 22. Oktober 2021 zu sehen.
Geöffnet ist sie von Dienstag bis Freitag von 10 Uhr bis 18 Uhr
Samstag, Sonntag und feiertags von 10 Uhr bis 17 Uhr. Führungen finden jeden Sonntag um 15 Uhr statt und können zusätzlich vereinbart werden.
Kontakt: Ausstellungsbg@uni-konstanz.de