Gene, Umwelt und die Anfälligkeit gegenüber Giftstoffen
Biologische Prozesse lassen sich in den seltensten Fällen als einfache Aneinanderkettung weniger, klar definierter Ereignisse beschreiben. Sie entsprechen vielmehr fast immer einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Netzwerk-Ebenen – von der Ebene der Gene über die der Proteine bis hin zu Zellverbänden, Organen und schließlich dem Gesamtorganismus und seiner Interaktion mit der Umwelt. Diese Erkenntnis bildet die Grundlage der Systemtoxikologie und verwandter Felder, die das Ziel haben, biologische Prozesse in ihrer gesamten Komplexität zu erforschen. Die Systemtoxikologie bedient sich hierfür modernster Methoden sowohl der Biologie und Chemie als auch der Informatik und Datenwissenschaften.
An der Universität Konstanz wurde nun durch Prof. Dr. Ivano Amelio eine Stiftungsprofessur für Systemtoxikologie besetzt, die von der Carl-Zeiss-Stiftung finanziert wird. Das Ziel seiner mit der Förderung assoziierten Forschungsprojekte ist die Erforschung der Zusammenhänge zwischen genetischer Ausstattung und der Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten beim Menschen. Hierfür stellt die Carl-Zeiss-Stiftung neben der Professur selbst auch Sach- und weitere Stellenmittel zur Verfügung.
Die Toxikologie ist bereits seit Langem ein bedeutender Fokusbereich des Fachbereichs Biologie an der Universität Konstanz mit hoher Sichtbarkeit und Forschungsstärke. Durch Ivano Amelio erhält die Universität Konstanz nun zusätzliche Verstärkung und kann so ihre Rolle als internationaler Hotspot für Toxikologie in Europa weiter ausbauen.
Von Cambridge über Rom nach Konstanz
Als Ivano Amelio im März 2022 auf die Stiftungsprofessur an der Universität Konstanz berufen wurde, bekleidete er unter anderem gerade die Position eines AIRC-finanzierten Arbeitsgruppenleiters am Torvergata Oncoscience Research (TOR) Exzellenzzentrum der Universität Tor Vergata in Rom. Zuvor verbrachte er neun Jahre als Forscher an der Medical Research Council (MRC) Toxicology Unit – einer Forschungseinrichtung im Bereich Toxikologie, die an der University of Cambridge angesiedelt ist. Insbesondere aus dieser Zeit an der University of Cambridge begründen sich die fundierten Kenntnisse Amelios und seine Expertise in molekularer Toxikologie.
Dass Amelio sich in Konstanz auf die Stiftungsprofessur für Systemtoxikologie beworben hat, war keine Zufallsentscheidung. „Da ich aus meiner Zeit in England diesen starken Bezug zur Toxikologie habe, zog ich Konstanz schon lange als einen möglichen Ort für meine Forschung in Betracht. Das liegt unter anderem daran, dass die Toxikologie in Konstanz hervorragend aufgestellt ist und eine lange Tradition hat“, so Amelio. Tatsächlich gibt es, Amelio eingeschlossen, derzeit vier Professuren im Bereich der Toxikologie an der Universität Konstanz und eine Professur in dem eng verwandten Feld der biochemischen Pharmakologie. „Das macht Konstanz für mich zu einem der besten Standorte in Europa, um meiner Forschung nachzugehen“, fährt Amelio fort.
„Am allerersten Tag, an dem ich nach Konstanz kam, haben wir begonnen zusammenzuarbeiten und es sind bereits erste gemeinsame Publikationen in der Entstehung. Die Universität Konstanz passt perfekt zu mir und bietet ein extrem freundliches und einladendes Umfeld, das großartige Synergien zulässt. Ich habe keinerlei Zweifel, dass es eine gute Entscheidung für mich, meine Karriere und meine Forschung war, nach Konstanz zu kommen.“
Die komplexe Beziehung zwischen Genen und Umwelt
Die Toxikologie ist ein bedeutender Zweig der biomedizinischen Forschung, da die meisten Krankheiten auf Wechselwirkungen zwischen Organismus und Umwelt zurückzuführen sind. In der klassischen Toxikologie wurde die Entstehung von Krankheiten häufig stark vereinfacht als lineare Wechselwirkung zwischen einer körperfremden Substanz – zum Beispiel einem Schadstoff – und dem Körper betrachtet, in dem die Substanz zu einer toxischen Reaktion führt. „Wir wissen heute, dass die toxische Reaktion, die bestimmt, ob eine Krankheit als Folge der Interaktion mit einem Umweltstoff auftritt oder nicht, das Ergebnis einer viel komplexeren Gleichung ist“, erklärt Amelio.
In diese Gleichung fließen neben den körperfremden Stoffen unter anderem auch unser Lebensstil, die allgemeinen Bedingungen, unter denen wir aufgewachsen sind und leben, sowie genetische Faktoren ein. „Wir sprechen hier allgemein von Gen-Umwelt-Interaktionen. Beide Faktoren – unsere genetischen Anlagen und die Umwelt – stehen in starker, in beide Richtungen gehender Wechselwirkung miteinander. Die Systemtoxikologie versucht, diese Wechselwirkungen im Detail zu verstehen und die komplexe Gleichung in ihre Einzelteile zu zerlegen“, führt Amelio fort.
Nicht jeder Körper reagiert gleich
So gibt es zum Beispiel Umweltstoffe, die sich direkt verändernd auf unser Erbgut auswirken (Mutagene) und andere, die auf einer unserem Erbgut, der DNA, übergeordneten Ebene Zelleigenschaften oder den Aktivitätszustand von Genen verändern. Auf der anderen Seite haben natürliche Variationen in der genetischen Ausstattung des Menschen, wie sie zum Beispiel zwischen Familien oder anderen Unterpopulationen vorkommen, einen Einfluss darauf, wie wir auf unsere Umwelt und somit auch auf Schad- und Giftstoffe reagieren. Diese natürliche Variation in der genetischen Ausstattung von Menschen und wie sie mit einem veränderten Risiko für bestimmte Krankheiten einhergeht, ist einer der Forschungsschwerpunkte von Amelio.
„Wir konzentrieren uns in unserer Forschung auf Gene und Genkompositionen, die Menschen mehr oder weniger anfällig für bestimmte Toxine und Umwelteinflüsse machen, und wir versuchen herauszufinden, was die molekularen Mechanismen hinter dieser veränderten Anfälligkeit sind“, beschreibt Amelio. Ein anschauliches Beispiel ist das Gen BAP1 (BRCA1-associated protein 1). Es gibt Familien, in denen Mutationen dieses Gens zu einer verminderten Funktion des Gens führen. Das trägt dazu bei, dass Personen aus diesen Familien extrem anfällig für die toxische Wirkung bestimmter Umweltstoffe sind. So haben Betroffene ein erhöhtes Risiko, durch den Kontakt mit Asbestfasern ein Mesotheliom – einen seltenen Tumor des Weichteilgewebes – zu entwickeln.
Systemtoxikologie als interdisziplinäres Forschungsfeld
„Wir beschränken uns mit unserem systemtoxikologischen Forschungsansatz jedoch nicht auf die Ebene einzelner Gene oder des Genoms, sondern erkennen an, dass biologische Prozesse stets auf mehreren Ebenen und durch gegenseitige Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen reguliert werden“, erklärt Amelio. So ergeben sich die Merkmale eines Organismus in der Regel aus Interaktionen genetischer Netzwerke mit weiteren Netzwerken auf den Ebenen der mRNA, der Proteine und weiterer Organisationsstufen. Um diese unterschiedlichen Ebenen der Regulierung erforschen zu können, muss sich die Systemtoxikologie eines Methodenspektrums bedienen, dass über die Methoden der Molekularbiologie hinausgeht.
„In meinem Labor analysieren wir zunächst ganze Genome, Transkriptome und Proteome, um sämtliche Schichten der Regulation abzubilden. Mithilfe von computergestützten Methoden aus der Informatik und den Datenwissenschaften entwickeln wir anschließend Modelle dafür, was in dem biologischen System passiert“, beschreibt Amelio die Interdisziplinarität seiner Forschung. Diese Modelle können dabei helfen, aufzuschlüsseln, was eine Person mehr oder weniger anfällig für bestimmte Umwelt(schad)stoffe macht. Sie können außerdem dabei helfen, festzustellen, ob eine Person einer potenziell giftigen Substanz in einer Dosis ausgesetzt war, die eine toxische Reaktion auslöst, um schnellstmöglich eine Behandlung einzuleiten, falls notwendig.
Konstanz als internationaler Toxikologie Hotspot
Die Stiftungsprofessur, auf die Amelio im März 2022 berufen wurde, wurde bereits einige Jahre zuvor durch Amelios Konstanzer Fachkollegen Prof. Dr. Alexander Bürkle, Professor für Molekulare Toxikologie, und Prof. Dr. Marcel Leist, Professor für In-Vitro-Toxikologie und Biomedizin, bei der Carl-Zeiss-Stiftung beantragt. „Wir sind der Carl-Zeiss-Stiftung für ihre Unterstützung enorm dankbar“, so Bürkle. „Dass wir die Zusage für die Stiftungsprofessur bekommen haben und diese nun mit Ivano besetzen konnten, zeigt, dass unsere Forschung hier in Konstanz eine hohe Sichtbarkeit hat, die es erlaubt, derart wichtige Förderer wie die Carl-Zeiss-Stiftung zu überzeugen und gleichzeitig exzellente Wissenschaftler aus dem Ausland zu gewinnen.“
Neben der Stiftungsprofessur selbst, die für fünf Jahre finanziert wird, stellt die Carl-Zeiss-Stiftung in Zusammenarbeit mit der German Scholars Organization e.V. (GSO) zusätzliche Dual-Career-Mittel für Amelios Ehefrau, eine Doktorandenstelle sowie Sachmittel für Laborausstattung zur Verfügung. Außerdem finanziert die Carl-Zeiss-Stiftung ein Projekt in Amelios Labor, in dem die Rolle von BAP1 beim Schutz von Zellen vor UV-Strahlung untersucht wird.
Seinen Start in Konstanz möchte Amelio nutzen, um gemeinsam mit seinen Fachkolleginnen in den Forschungsstandort Konstanz zu investieren. Mit vereinten Kräften wollen sie die Rolle der Universität als internationaler Hotspot für Toxikologie, der sich durch Innovationskraft und Interdisziplinarität auszeichnet und für eine moderne, zukunftsträchtige Toxikologie steht, weiter ausbauen. Dazu zählt der geplante Aufbau eines binationalen Zentrums für Toxikologie zusammen mit der Schweiz.