10.000 Heuschrecken unter Beobachtung

Im Imaging Hangar der Universität Konstanz wurde ein Heuschreckenschwarm markiert und mit Spezialkameras beobachtet. Das Experiment ermöglicht erstmals das Studieren der Bildung von Heuschreckenschwärmen im Labor.

60.000 Heuschreckenfüße laufen in einer Arena. Sie marschieren von links nach rechts, von rechts nach links. Von dem tapsenden Geräusch der Heuschrecken ist der Imaging Hangar, das größte Labor der Universität Konstanz, erfüllt. Im Kontrollraum nebenan sitzen die beteiligten Forschenden. Es herrscht eine aufgeregte Stimmung.

„Ohne Zweifel, ein Höhepunkt meiner Karriere.“

Iain Couzin

Iain Couzin, der Sprecher des Exzellenzclusters Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour (CASCB) der Universität Konstanz und Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie leitet das Gesamtprojekt.

Die Forschenden verfolgen das Ziel, die Organisation und die Dynamiken, aber auch das Verhalten bei der Nahrungssuche bezüglich Futterverfügbarkeit oder die Kommunikation bei Gefahren in großen Schwärmen zu verstehen. Besonders ist das Experiment aufgrund der Anzahl der Tiere und der eingesetzten Technik. Bisher gab es kein vergleichbares Experiment, schildern die WissenschaftlerInnen vom Exzellenzcluster CASCB der Universität Konstanz und dem Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. Laborexperimente mit Heuschreckenschwärmen umfassten bislang typischerweise um die hundert Tiere.

https://www.youtube.com/watch?v=nfYTK1Ndhw4

Projektstart
Es ist Montag, der 27. März 2023, 8 Uhr. 15 Forschende, Tierpfleger und Hilfskräfte stehen in weißen Kitteln, Maske und Haarhaube vor dem Imaging Hangar. Die technische Assistentin Jayme Weglarski bespricht mit dem Klemmbrett in der Hand den Tagesablauf. Sie koordiniert seit mehreren Monaten die Versuche. Nach der Ansprache holen sie die Heuschrecken in kleinen Transportboxen aus der Tierhaltung. Rund 4.000 Tiere werden mit winzigen, reflektierenden Markern versehen. Später, wenn die Tiere in der Arena von 15 Metern Umfang, der Länge von 375 Heuschrecken, laufen werden, können damit der Standpunkt und die Bewegungsabläufe jedes einzelnen Tiers nachvollzogen werden. Von einem Motion-Capture-System werden die Marker erkannt. Die ersten 2.000 Tiere sind nach zwei Stunden mit Markern versehen. Eine Akkordarbeit vom Team, das Hand in Hand gearbeitet hat.

Wie organisieren sich Gruppen?
Gegen 11 Uhr beginnt das erste Experiment: „In meinen Experimenten bin ich an langen Beobachtungen des ungehinderten Marschierens interessiert. Dabei beobachte ich die Organisation und Dynamik von Großgruppen“, erklärt Postdoktorand Luke Costello vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. Ohne äußeren Einfluss werden die Heuschrecken im Imaging Hangar daher eine Woche lang täglich für etwa sechs Stunden laufen. Bei dem Heuschreckenexperiment erhöht er die Gruppen- und Arena-Größen im Vergleich zu bisherigen Experimenten, um zu sehen, ob eine natürliche Verhaltensweise wie Gruppenbildung oder Marschieren beobachtet werden kann. Am ersten Tag beobachtetet das Team daher das Marschieren von 2.000 Tiere, am zweiten von 4.000 und an den Tagen drei bis fünf von 10.000 Tieren. „Ich bin überrascht, welch große Rolle die Dichte beim Marschieren zu spielen scheint“, sagt Luke Costello. „Bei den kleineren Gruppengrößen zeichnet sich ein charakteristisches Rotieren des Schwarms im Kreis ab. Bei 10.000 Tieren sahen wir die Bildung von sogenannten „Trichterbändern“, einer Art dichter mobiler Phalanx von Heuschrecken, wie sie bisher nur in der freien Natur beobachtet wurde.“

https://youtu.be/KRIBVykhpC4

Der britische YouTuber Tom Scott nahm an dem Experiment teil und publizierte am 17. April 2023 dieses Video dazu.

Doktorand Yannick Günzel vom Exzellenzcluster CASCB kommt gegen 17 Uhr in den Imaging Hangar. Er erforscht, wie lokal verfügbare Informationen innerhalb der Gruppe weitergegeben werden, und wie sich individuelle Entscheidungen auf die Schwarmdynamik übertragen lassen. Ein Beispiel dafür ist, wie eine neue Information – zum Beispiel eine entdeckte Nahrungsquelle oder eine Gefahr – innerhalb eines Schwarms weitergegeben wird. „Allein die schiere Größe des Imaging Hangars ermöglicht es uns, völlig neue Hypothesen über Heuschreckenschwärme zu formulieren und Vorhersagen aus Virtual-Reality-Experimenten zu testen“, sagt Günzel.

Wie verhalten sich 10.000 Heuschrecke bei der Futtersuche?
Keine Aktivität der Tiere bleibt in der Versuchswoche unbeobachtet: So steht zum Abschluss jedes Experimentiertages am Abend die Fütterung auf dem Programm. Auch die Nahrungsaufnahme wurde von dem Team in größeren Skalen als bisher untersucht. Vishwanath Varma, Postdoktorand am Exzellenzcluster CASCB, erklärt sein Experiment: „Wir wollen verstehen, wie Heuschrecken in Umgebungen mit unterschiedlichem Nahrungsangebot auf Nahrungssuche gehen, damit wir die Bewegungen der Heuschrecken im Feld vorhersagen können.“ In einem Versuch verteilte er daher Grasstücke gleichmäßig auf einem Teil der Arena und ließ die Heuschrecken von der anderen Seite her frei. In einem anderen Versuch platzierten sie dichte Grasbüschel in vier Ecken der Arena und ließen die Heuschrecken auf Futtersuche gehen. „Wir beobachteten die Bildung von Gruppen, wenn die Nahrung gleichmäßig verteilt war, und die bogenförmigen Formen der Gruppen ähnelten denen, die auch in der Natur auftreten. Wenn die Nahrung in Büscheln konzentriert war, beobachteten wir eine Dynamik des Wechsels zwischen den Büscheln. Diese Dynamik ist im Feld schwieriger zu beobachten“, fasst Varma die ersten Beobachtungen zusammen.

Datenauswertung und Analyse
Nach der Experimentierzeit steht nun im interdisziplinären Forscherteam aus Biologen und Computerwissenschaftlern die Datenauswertung und -interpretation an und dann das Schreiben von Publikationen. Dabei werden die ForscherInnen die Beobachtungen aus dem Labor mit denen aus der Natur, etwa bei einem Feldaufenthalt in Kenia 2020, abgleichen.

Die Freude über die geglückte Experimentierwoche ist beim gesamten Team noch immer spürbar:

„Allein der Umgang mit dem Ausmaß der Experimente – die Anzahl der Tiere, die Größe der Arena, die Licht- und Kameraanlagen – das war eine einzigartige Erfahrung.“

Vishwanath Varma.
Luke Costello ergänzt: „Es war großartig! Der Imaging Hangar ist eine einzigartige Einrichtung, und es war fantastisch, an einigen der ersten Experimente dort teilzunehmen.“

Elisabeth Böker

Von Elisabeth Böker - 17.04.2023