All I want for Christmas: Die Regeln des Schenkens
Der kleine Leo schenkt seinem Papa zu Weihnachten ein buntes selbst gemaltes Bild, der Mama nichts. Sie hat ihm kürzlich die Spielekonsole weggenommen. Anne mag ihren Schwiegervater sehr, deshalb überrascht sie ihn am Weihnachtsabend mit einem superteuren Handy, ihr Mann kriegt das übliche Ensemble aus Hemd und Socken. Oder: Die befreundeten Thomas und Lea haben es nicht so mit dem Geschenkeaussuchen. Lea entnimmt ihrer Geldbörse einen Zehneuro-Schein und übergibt ihn feierlich ihrem Mitschüler. Und sieh da, der hatte dieselbe praktische Idee.
Ob es solche Geschenkunfälle an Weihnachten gibt, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass sie allen intuitiven Regeln des Schenkens zuwiderlaufen. „Diese Regeln sind ungeschrieben, aber nichtsdestotrotz wirksam“, sagt der Soziologe Boris Holzer. Vor allem legen sie fest, wer wem was und wie viel schenkt. Denn: „Die zentrale Regel des Schenkens lautet, dass es beim Schenken um die Beziehung selbst geht, die durch das Schenken ausgedrückt und bestätigt wird.“
Jede Beziehung hat eine eigene Logik und Geschichte, denen die Schenkenden mit ihrer Gabe entsprechen sollen. Dabei soll der materielle Wert des Geschenks nicht im Vordergrund stehen. Auch der Umstand, dass der Geschenkinhalt im Idealfall eine Überraschung ist, soll heißen: Ich habe mir Gedanken zu dir gemacht. – So die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht „Reziprozität“ – die Wechselseitigkeit des Schenkens. Boris Holzer, Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Konstanz, der sich mit sozialen Netzwerken befasst, bringt diese Wechselseitigkeit so auf den Punkt:
„Ich schenke dir etwas, weil ich erwarte, dass du mir auch etwas schenkst. Während Leistung und Gegenleistung bei anderen Formen des sozialen Tauschs durch eine gewisse Zeitspanne getrennt sind und man letztlich nicht sicher sein kann, ob der erwiesene Gefallen auch erwidert wird, ist die Reziprozität beim Weihnachtfest zeitlich und örtlich fixiert.“
Boris Holzer
Offiziell geht es um die Bestätigung der Beziehung zwischen zwei Menschen, inoffiziell ist dieser Aspekt der Wechselseitigkeit nur schwer zu leugnen. „Das auszusprechen wäre jedoch ein großer Fehler“, fügt Holzer an. Es gibt somit eine Diskrepanz zwischen dem, was in den Köpfen der Menschen umhergeistert, und dem, was offen formuliert werden darf.
Dabei ist die Praxis des weihnachtlichen Schenkens Teil einer sehr viel umfassenderen Alltagspraxis, die durch die Wechselseitigkeit des Tauschens bestimmt ist. Es fängt schon damit an, dass man andere höflich grüßt, in der Erwartung, höflich zurückgegrüßt zu werden. Die weihnachtliche Reziprozität ist jedoch symbolisch besonders aufgeladen. Eine Ausdrucksform davon ist das Verpacken der Präsente, das auch schnöden Gebrauchsgegenständen noch eine feierliche Aura verleiht.
Geschenke, die – wie z. B. ein Klavier – nur schwer eingepackt werden können, werden zumindest durch eine Schleife verziert. Boris Holzer fügt die Beobachtung hinzu, dass die unter dem Weihnachtsbaum aufgehäuften verpackten Gaben eher fotografiert werden als die in der Folge ausgepackten Gegenstände. Er wertet das als Zeichen, dass trotz allem das Symbolische des Geschenks weiterhin eine große Rolle spielt.
© Bild von Gerd Altmann auf PixabayDie unter dem Weihnachtsbaum aufgehäuften verpackten Gaben werden sogar eher fotografiert als die in der Folge ausgepackten Gegenstände. Boris Holzer wertet das als Zeichen, dass trotz allem das Symbolische des Geschenks weiterhin eine große Rolle spielt.
Das implizite Regelwerk des Schenkens hat jedoch etliche weitere Paragraphen. So kann Anne ihren Schwiegervater noch so gernhaben, das ungeschriebene Gesetz sagt: Ehemann first. Dieser wäre zurecht gekränkt, wenn er bei Anne an Weihnachten geschenkmäßig nicht an erster Stelle stehen würde. Dass kleine Kinder von dieser Wechselseitigkeit weitgehend ausgenommen sind, hat seinen Grund darin, dass sie die Feinheiten des Geschenkecodes noch nicht beherrschen – siehe der kleine Leo.
Insofern ein Geschenk in den Worten des Soziologen Holzer ein „expressives Handeln ist, das auf den symbolischen Ausdruck abstellt“, scheinen sich Geldpräsente von selbst zu verbieten. Das in den vergangenen Jahren aufgekommene Gutscheinwesen sieht Boris Holzer aber pragmatisch: „Wenn man damit den schnöden Mammon etwas aus dem Verkehr ziehen und dadurch das Symbolische einigermaßen retten kann, dann ist das heute etwas mehr akzeptiert als früher.“ Ein Gutschein lässt sich zumindest verpacken und mit einem Bändchen umwickeln.
Der Austausch der Zehn-Euro-Scheine widerspricht hingegen uralten Regeln, so Holzer:
„In archaischen Gesellschaften spielten Geschenke und gegenseitige Hilfeleistungen genau deshalb eine ganz wichtige Rolle im sozialen Zusammenhang, weil das Konto nie ausgeglichen war und so das Fortdauern der sozialen Beziehung garantiert wurde. Auch wenn man eine Gabe erwiderte, blieb immer ein kleiner Rest, die Dankesschuld, die die soziale Beziehung und den Austausch weiter in Gang hielt.“
Boris Holzer
Boris Holzer verweist noch in einem anderen Zusammenhang auf alte Gebräuche, die ihre Spuren hinterlassen haben. Dass die Familien die Geschenke – ihre Reichtümer – unter dem Weihnachtsbaum stapeln, ähnelt dem Brauch mancher Gesellschaften, überschüssige Reichtümer gemeinsam und festlich zu vernichten. „Weihnachten ist auch ein System des Verbrauchs und der Vernichtung von Werten“, sagt der Soziologe.
„Genau genommen wird das Geld in diesem Fall natürlich nicht vernichtet, sondern nur verschoben. Der Soziologe Niklas Luhmann hat Weihnachten deshalb treffend als ein ‚privates System wechselseitiger Besteuerung zugunsten des Handels‘ bezeichnet.“ Zwar wird der Reichtum dadurch nicht wirklich umverteilt, doch es ist üblich, dass derjenige, der mehr hat, mehr gibt. Auch hier werden zumindest im Ansatz Unterschiede ausgeglichen.
Alles in allem drückt es Boris Holzer so aus:
„Der Weihnachtscode dient nicht dazu, die persönlichen Beziehungen realistisch darzustellen, sondern sie bestmöglich in Szene zu setzen.“
Boris Holzer