„Das ‚eine Afrika’ gibt es nicht“

Im aktuellen Gutachten des Sachverständigenrates Deutscher Stiftungen für Integration und Migration steht Afrika im Zentrum. Die Konstanzer Soziologin Prof. Dr. Claudia Diehl und der Konstanzer Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Daniel Thym sind als Mitglieder des Sachverständigenrates Mitautoren. Im Interview nehmen sie Stellung und erklären, warum es das „eine Afrika“ nicht gibt, wie die legale Einreise einwanderungswilliger Menschen aus Afrika per Kaution geregelt werden könnte, welche Rolle soziale und ethnische Netzwerke für eine gelingende Integration spielen können und warum die Zuwanderung aus afrikanischen Ländern durch die Corona-Pandemie mittelfristig zunehmen könnte.
© Bild: Arek Socha/Pixabay

Was läuft falsch im öffentlichen Diskurs über Migration aus Afrika?

Claudia Diehl: Der Diskurs wird stark von einem sehr vereinfachten Bild geprägt: Dass all die armen Menschen aus Afrika ins reiche Deutschland kämen und sich dort niederlassen wollten. Das ist in vielerlei Hinsicht falsch. Nur ein kleiner Teil der Menschen, die in Afrika ihre Heimat verlassen, geht nach Europa. Der Großteil der Migration findet innerhalb des Kontinentes statt. Und selbst für diejenigen, die nach Europa kommen, ist Deutschland kein besonders wichtiges Zuwanderungsland. Ehemalige Kolonialmächte wie Belgien, Frankreich und Großbritannien stehen hier als Zielländer eher im Fokus – unter anderem aus sprachlichen Gründen.

Zudem sind es gerade nicht die Ärmsten der Armen, die auswandern, sondern diejenigen, die sich so etwas leisten können. Die Option zu migrieren existiert für einen Großteil der afrikanischen Bevölkerung nicht. Die meisten in Deutschland lebenden Afrikanerinnen und Afrikaner kommen daher aus dem relativ wohlhabenden Nordafrika. Und der Anteil derjenigen, die über höhere Bildung und einen akademischen Abschluss verfügen, ist ähnlich hoch wie in der Mehrheitsbevölkerung des Ziellandes.

Daniel Thym: Hinzu kommt, dass der afrikanische Kontinent noch vielfältiger ist als Europa. Das eine Afrika gibt es nicht. In einigen Gebieten ist Flucht die vorherrschende Motivation für Migration, anderswo geht es vor allem um wirtschaftliche Gründe. Einige afrikanische Staaten sind vor allem Herkunftsländer für Migranten und Flüchtlinge, andere dagegen attraktive Zielstaaten. So ist Südafrika und war früher auch Libyen ein beliebtes Ziel für innerafrikanische Migration aus wirtschaftlichen Gründen.

Man sollte daher von Afrika eigentlich nur im Plural sprechen – und auch die Migrationspolitik muss für jedes Land und jede Region maßgeschneiderte Lösungen finden, anstatt pauschale Antworten zu geben.

„Der Diskurs wird stark von einem sehr vereinfachten Bild geprägt: Nämlich dass all die armen Menschen aus Afrika ins reiche Deutschland kämen und sich dort niederlassen wollten. Das ist in vielerlei Hinsicht falsch.“

Prof. Dr. Claudia Diehl, Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz und Co-Sprecherin des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“

 

Das Gutachten des Sachverständigenrates schlägt unter anderem neue rechtliche Regelungen für temporäre Visa vor, bei denen Einreisewillige aus Afrika, anstatt berufliche oder akademische Qualifikationen nachzuweisen, eine Kaution hinterlegen, die bei Ausreise zurückgezahlt würde. Wie soll eine solche Maßnahme funktionieren, und wozu wäre sie gut?

Daniel Thym: Migrationspolitik ist effektiver, wenn die Staaten im wechselseitigen Interesse zusammenarbeiten. Das ist derzeit leider noch viel zu selten der Fall. So gibt es zwar Rücknahmeabkommen für abgelehnte Asylbewerber. In der Praxis werden die aber oft nicht eingehalten. Ein Grund dafür ist, dass die Eigeninteressen der afrikanischen Länder dem entgegenstehen. Sie profitieren beispielsweise finanziell von Rücküberweisungen. Vielerorts ist innenpolitisch wichtig, dass sich die Bevölkerung mehr Migration wünscht. Wenn wir auf Augenhöhe zusammenarbeiten wollen, müssten wir afrikanischen Ländern daher legale Einreisemöglichkeiten anbieten. Hier haben wir bisher jedoch wenig zu bieten. Auch das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz greift meistens nicht, weil es eine formale Qualifikation voraussetzt, die man gerade im beruflichen Bereich in Afrika kaum erwerben kann.

Unser Vorschlag möchte diese Lücke schließen. Die Politik soll in die Lage versetzt werden, die in Sonntagsreden vielfach geforderten legalen Zugangswege in der Praxis anzubieten. Das temporäre Arbeitsvisum würde auch Personen umfassen, die vom Fachkräfteeinwanderungsgesetz nicht profitieren. Die Kaution im Zusammenspiel mit einem funktionierenden Rücknahmeabkommen soll dabei die spätere Rückreise sichern. Eine mehrfache Einreise nach Europa wäre möglich, aber zuerst einmal wäre das Visum zeitlich befristet. So kann man mehr Personen erreichen. Im Idealfall kann man so auch die wirtschaftliche Entwicklung im Heimatstaat verbessern. Das kann beispielsweise dadurch passieren, dass jemand Kenntnisse, Kontakte und Geld, die in Deutschland erworben wurden, dazu benutzt, vor Ort eine wirtschaftliche Perspektive aufzubauen. Alles Weitere müsste man in Modellprojekten ausprobieren.
 


Eine Kernbotschaft des Gutachtens lautet sinngemäß: Wir sollten mit Afrika zusammenarbeiten nicht nur mit den afrikanischen Staaten, sondern mit denjenigen Menschen, die bereits aus afrikanischen Ländern eingewandert sind. Wer bereits in Deutschland lebt, könnte bei der Integration von Neuankömmlingen helfen. Wie soll das in der Praxis aussehen?

Claudia Diehl: In Deutschland wird die Rolle ethnischer Netzwerke für die Integration von Neuankömmlingen sehr viel kritischer beäugt als beispielsweise in Kanada, wo ich derzeit einen Forschungsaufenthalt habe. Die deutsche Skepsis ist teilweise berechtigt, weil diese Netzwerke auch „Mobilitätsfallen“ darstellen können: Ein Netzwerk von Landsleuten, deren Sprache und Kultur einem Neuankömmling schon geläufig sind, das ist scheinbar eine einfachere Alternative zur mühsamen Integration in die Mehrheitsgesellschaft.

Aber diese Netzwerke können bei der Integration auch helfen, gleich ob ganz informell über Bekannte oder formell, etwa in Form von Migrantenorganisationen. Eine jüngere Studie zur Situation in der Schweiz zeigt das: Bei sonst gleichen Bedingungen funktioniert die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt dort besonders gut, wo bereits viele Geflüchtete leben.

Neuankömmlinge können über solche Netzwerke beispielweise an Informationen über freie Arbeitsstellen kommen. Auch für den Bildungserfolg der Kinder von Eingewanderten können in den Netzwerken verfügbare Ressourcen hilfreich sein. Dies ist auch deshalb wichtig, weil wie gesagt viele Menschen relativ hoch gebildet sind, die aus Afrika nach Deutschland gekommen sind. Einwanderer aus Afrika sind aufgrund ihrer oft höheren Sichtbarkeit stärker von Diskriminierung betroffen – und auch davor bieten ethnische Netzwerke einen gewissen Schutz, weil sie eine alternative Quelle für soziale Anerkennung darstellen.

„Man sollte daher von Afrika eigentlich nur im Plural sprechen – und auch die Migrationspolitik muss für jedes Land und jede Region maßgeschneiderte Lösungen finden, anstatt pauschale Antworten zu geben.“

Prof. Dr. Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht

 

So bestimmend das Migrationsthema in den vergangenen fünf Jahren war – zurzeit beansprucht die Corona-Pandemie fast die gesamte mediale, politische und öffentliche Aufmerksamkeit. Wie wird die Pandemie die Migration innerhalb Afrikas und nach Europa beeinflussen?

Claudia Diehl: Diese Frage ist zurzeit natürlich noch sehr schwer zu beantworten, aber ich möchte etwas spekulieren: Die Integration der 2015 und 2016 nach Deutschland Geflüchteten fand in einer Zeit statt, in der der deutsche Arbeitsmarkt sehr aufnahmefähig war. Die hohen Zuzugszahlen wurden auch deshalb von der Mehrheitsbevölkerung insgesamt weitgehend akzeptiert – allen Unkenrufen zum Trotz. Jetzt ist dagegen wohl damit zu rechnen, dass die Aufnahmekapazität des Arbeitsmarktes für Neuankömmlinge zumindest temporär zurückgehen wird, sowohl real als auch in der Wahrnehmung. Zuwanderung – ob aus Afrika oder von anderswo – könnte daher auf größere Akzeptanzprobleme stoßen als früher. Andererseits ist es natürlich auch möglich, dass sich durch die Pandemie die Zuwanderung – ebenfalls zumindest temporär – verringern wird.

Daniel Thym: Langfristig wird das Coronavirus die grenzüberschreitende Migration aber sicher nicht unterbinden. Eventuell könnte es sogar zu mehr Migration führen, wenn die wirtschaftlichen Folgen den afrikanischen Kontinent besonders hart treffen. Nicht nur deshalb ist es wichtig, dass wir neben der Corona-Epidemie auch andere zentrale Zukunftsthemen weiterverfolgen. Wir möchten schließlich nicht, dass uns künftige Entwicklungen, insbesondere Krisen in anderen Bereichen, ebenso unvorbereitet treffen wie die aktuelle Pandemie.

Prof. Dr. Claudia Diehl ist Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz und Co-Sprecherin des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“. Ihre Forschungsinteressen gelten neben soziokulturellen Einflüssen auf den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern den Themenbereichen Eingliederung von Zuwanderern, ethnische Grenzziehungen, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung sowie der internationalen Migration. Claudia Diehl ist seit 2015 Mitglied im Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Im Wintersemester 2019/20 und im Sommersemester 2020 hat sie den Hannah-Arendt-Gastlehrstuhl an der University of Toronto (Kanada) inne.
 

Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. ist Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz, Kodirektor des Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht und Vorstandsmitglied des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung. In seiner Forschung bearbeitet er vor allem die Komplexe Einwanderung, Asyl und Grenzschutz sowie Bürgerschaft, Integration und Staatsangehörigkeit, daneben die EU-Verfassungsentwicklung und den Schutz von Grundrechten. Daniel Thym ist seit 2016 Mitglied im Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration und seit 2019 dessen Stellvertretender Vorsitzender.
 


 

Paul Töbelmann

Von Paul Töbelmann - 28.04.2020