„Eine evidenzbasierte Politik ist auch dann nötig, wenn sie schmerzt“

Warum Asylsuchende in Deutschland ungleich behandelt werden – und wie die Wissenschaft auf Diskriminierung im Asylwesen aufmerksam macht. Ein Interview mit Prof. Dr. Gerald Schneider.
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Herr Prof. Dr. Schneider, in zwei Studien kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Asylanträge in verschiedenen Regionen Deutschlands ganz unterschiedlich behandelt werden – dabei sollten eigentlich überall die gleichen Maßstäbe gelten. Wie groß ist das Problem?

Prof. Dr. Gerald Schneider: Die Unterschiede in den Schutz- und Anerkennungsquoten zwischen den Ländern sind beträchtlich und können keinesfalls als zufällige Schwankungen gelten. Die Schwankungen in den Quoten der Entscheidungszentren des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind sogar noch viel größer. Der sogenannte Skandal im Zentrum von Bremen, der nun nach langen Ermittlungen auf ein Skandälchen runtergedampft wurde, hat auch zu einer einseitigen Diskussion geführt. Seitdem steht nämlich nur die irrtümliche Anerkennung eines Asylgesuches, die positive Diskriminierung, im öffentlichen Interesse. Die fälschliche Ablehnung von wirklich Schutzbedürftigen, die negative Diskriminierung, wird dagegen kaum diskutiert.

Wichtig ist angesichts dieser medialen Schieflage nur eine Einsicht: Vor, während und nun auch nach der sogenannten Flüchtlingskrise ist es zu einer Vielzahl von Fehlentscheidungen gekommen. Die damit verbundene permanente Rechtsunsicherheit ist das zentrale Problem, auf das unsere Studien hinweisen.


Was sind die Ursachen dieser Ungleichbehandlung?

Da muss ich vorweg sagen: Bis jetzt konnten wir leider nur mit Makrodaten arbeiten, das sind Daten, in denen ganze Regionen bereits zusammengefasst sind und bei denen wir keine Rückschlüsse auf den Umgang mit einzelnen Asylanträgen ziehen können. Das liegt daran, dass das BAMF keine systematischen Daten zur Entscheidungspraxis in den Zentren zur Verfügung stellt. Auch zu den nächsten Entscheidungsschritten, nachdem über den Asylantrag befunden wurde – das wären hier die Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichte sowie Abschiebungen –, gibt es keine überzeugenden Daten. Wir haben daher nur einen Überblick aus der Vogelperspektive.
 
Eines konnten wir mit Hilfe dieser sehr groben Informationen aber schon deutlich zeigen: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Faktoren wie Arbeitslosigkeit oder der Wirtschaftskraft eines Bundeslandes einerseits und den Anerkennungsquoten und Revisionsentscheidungen der Gerichte andererseits. Dazu kommen politische Einflussfaktoren wie die parteipolitische Färbung der jeweiligen Landesregierung.
 
Um dem Problem richtig auf den Grund zu gehen, bräuchte es aber Daten zu individuellen Vorgängen. Zurzeit führe ich mit zwei Kolleginnen vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg eine Umfrage unter Flüchtlingen durch, um an solche Individualdaten zu gelangen. Die vorläufige Auswertung dieser Daten bestätigt die Makro-Befunde: Es gibt systematische Ungleichbehandlung, und diese lässt sich sehr gut durch verschiedene wissenschaftliche Modelle von Diskriminierung erklären.


Wie hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Ihre Forschungsergebnisse reagiert?

Im März 2017 haben meine Ko-Autorin Lisa Riedel und ich zuerst in der wichtigsten politikwissenschaftlichen Zeitschrift Deutschlands, der Politischen Vierteljahresschrift, einen begutachteten Aufsatz über Diskriminierung im Asylvollzug veröffentlicht. Auf den reagierte das Bundesamt säuerlich und warf uns vor, unsere Ergebnisse beruhten auf falschen Annahmen. Ähnlich äußerte sich dann auch die Bundesregierung in der Antwort auf eine Anfrage aus dem Bundestag.
Dieser Nestbeschmutzer-Vorwurf war 2018 im Nachgang zu den Vorkommnissen in Bremen natürlich nicht mehr zu verteidigen. Der Bundesrechnungshof hat sogar in seiner Evaluation dieser Affäre darauf hingewiesen, dass ein interner Bericht des BAMF bereits 2016 – und damit ein Jahr vor unserer Erstveröffentlichung – auf die eklatanten Unterschiede hingewiesen hatte.

 

„Nur auf falsche Annahmen zu verweisen, ohne diese klar zu benennen und alternative Berechnungen vorzuweisen, das ist aus wissenschaftlicher Warte nicht redlich.“

Prof. Dr. Gerald Schneider, Politologe an der Universität Konstanz

 


Die Vizepräsidentin des BAMF veröffentlichte in der Juli-Ausgabe der "Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik" einen Beitrag, in dem sie Ihre Ergebnisse in Zweifel zog. Was waren ihre Argumente?

Die Vizepräsidentin, Frau Ursula Gräfin Praschma, versucht mithilfe einer – wiederum nur amtsintern verfügbaren – Studie zu zeigen, dass diese Unterschiede nicht bestehen. Die Abweichungen seien weitestgehend auf individuelle Unterschiede zwischen den behandelten Fällen zurückzuführen.
 
Das erste Problem ihrer Analyse ist allerdings, dass die Autorin sich auf das Jahr 2019 bezieht und damit einen Zeitraum, den wir weder in unserer ersten noch in einer zweiten Veröffentlichung, die 2020 erschien, in unsere Analysen einbeziehen konnten. Das zweite und größere Problem ist aber, dass die Ausführungen von Frau Gräfin Praschma nicht nachvollziehbar sind. Weder ist ersichtlich, wie groß ihre Stichprobe ist, noch wird klar, welche Methoden sie bzw. das Bundesamt verwendet haben, und welche Variablen in diese Analysen eingeflossen sind.


Sie halten in Ihrer Replik, die in der Januarnummer derselben Zeitschrift erscheint, an Ihren Ergebnissen fest und widersprechen den Einwänden. Wozu eine Replik?

Auch eine Veröffentlichung eines Bundesamtes muss wissenschaftlichen Standards genügen! Dazu gehört, dass die wichtigsten Erkenntnisschritte einer Studie nachvollziehbar und im Idealfall replizierbar sein müssen. In einem politisch sensiblen Feld wie der Flüchtlingspolitik kann eine Behörde sich nicht einfach darauf zurückziehen, es schon besser zu wissen, und diesen Standpunkt durch nicht überprüfbare Hinweise auf interne Vorgänge zu belegen. Hinweise auf wirkliche Probleme totzuschweigen, ist die falsche Strategie. Dies gilt besonders dann, wenn bestehende Studien kritisiert werden.
 
Ich bin Popperianer und kritischer Rationalist. Das heißt, ich bin der Überzeugung, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer nur bis zu ihrer erfolgreichen Widerlegung gültig sind, und dass der Versuch der Widerlegung ein wichtiger Teil des Erkenntnisprozesses ist. Ich wäre daher sofort bereit, aufgrund einer detaillierten Widerlegung unserer Ergebnisse einen möglichen Irrtum einzugestehen. Dazu muss aber die Bedingung sein, dass uns solche Fehler auch tatsächlich nachgewiesen werden und dass dabei die Fakten auf den Tisch kommen. Nur auf falsche Annahmen zu verweisen, ohne diese klar zu benennen und alternative Berechnungen vorzuweisen, das ist aus wissenschaftlicher Warte nicht redlich.
 

Haben Forschende es schwer, mit ihren Erkenntnissen zu Ämtern, Behörden und politisch Entscheidenden durchzudringen? Wie erleben Sie gemeinhin die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Behörden?

Ich denke, dass das BAMF in seiner defensiven Informationspolitik mittlerweile ein ziemlicher Solitär ist. In anderen politischen Bereichen – denken Sie nur an die Gesundheitspolitik in Zeiten von Corona – gibt es einen professionalisierten Dialog zwischen Wissenschaft und Politik. Hier hat sich das Credo der evidenzbasierten Politik durchgesetzt.
 
Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich auch im BAMF längerfristig die progressiven Kräfte durchsetzen, welche beide Fehler – die positive wie die negative Diskriminierung – zu minimieren versuchen. Dazu braucht es aber Offenheit gegenüber der unabhängigen universitären Forschung und eine Aufwertung der sozialwissenschaftlichen Expertise in den asylpolitischen Entscheidungsprozessen. Eine evidenzbasierte Politik ist auch dann nötig, wenn sie schmerzt.

Prof. Dr. Gerald Schneider ist Professor für Internationale Politik an der Universität Konstanz und Principal Investigator des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“. Er forscht zu Entscheidungsfindung in der Europäischen Union, Ursachen und Auswirkungen bewaffneter Gewalt, der politischen Ökonomie internationaler Finanzmärkte sowie dem Umgang staatlicher Institutionen mit Asylsuchenden.


 

Paul Töbelmann

Von Paul Töbelmann - 27.01.2021