Eisige Arktis statt Konstanzer Sommer

Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung ermöglichen es, Theorien zu komplexen Sachverhalten aufzustellen. Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem die Theorie anhand konkreter Fragestellungen auch außerhalb des Labors überprüft werden muss. Den Ökologen und Evolutionsforscher Lutz Becks und seine Kollegin Domiziana Cristini zieht es dafür in einen Forschungscontainer an der Küste Grönlands.
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Es ist mitten im Juli, die Temperaturen steigen, und in Konstanz am Bodensee beginnt nach einem ungewöhnlich verregneten Frühsommer endlich die Badesaison. Doch nicht für Lutz Becks, Professor am Fachbereich Biologie der Universität Konstanz, und Domiziana Cristini, Wissenschaftlerin in der Arbeitsgruppe Becks. Sie stecken gerade in den letzten Vorbereitungen für ihren Forschungsaufenthalt in der 4.000 Kilometer entfernten Diskobucht (Grönland). Dort werden sie für mehrere Wochen ihr Hightech-Labor in Konstanz gegen einen Forschungscontainer an der rauen Südwest-Küste Grönlands eintauschen, um einer wichtigen Frage nachzugehen: Können giftige Algen aus südlicheren Gefilden in die arktischen Gewässer einwandern – und wenn ja, unter welchen Bedingungen?

Die Vorzüge eines Hightech-Labors
Der Konstanzer Ökologe und Evolutionsbiologe Lutz Becks und sein Team interessieren sich ganz allgemein für das Zusammenleben von aquatischen Organismengemeinschaften. Aus welchen Arten sind solche Gemeinschaften zusammengesetzt? Wie interagieren einzelne Arten miteinander? Welche Umweltbedingungen ermöglichen das Zusammenleben verschiedener Organismen im selben Lebensraum – und welche nicht? „Diese Fragen sind enorm wichtig, beispielsweise um erfolgreiche Maßnahmen zum Erhalt von Biodiversität und Ökosystemfunktionen zu ergreifen. Für ihre Beantwortung entwickeln ForscherInnen Theorien und Modelle, die eine möglichst genaue Vorhersage der Zusammensetzung von Organismengemeinschaften ermöglichen sollen“, sagt Becks.

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Laborroboter und automatisierte Analyseverfahren erlauben es der Arbeitsgruppe Becks, umfangreiche Versuchsreihen zeiteffizient und vollautomatisiert durchzuführen. © AG Becks

Normalerweise forschen er und sein Team an der Universität Konstanz in einem mit Robotern ausgestatteten Hightech-Labor, das es erlaubt, ökologische Experimente automatisiert im Hochdurchsatzverfahren durchzuführen. So haben sie zum Beispiel gerade den Ressourcenbedarf und -verbrauch verschiedener Grünalgenarten im Detail ermittelt und anschließend 960 unterschiedliche Gemeinschaften aus Kombinationen dieser Arten in ihrer Zusammensetzung überwacht. „Mit Laborversuchen dieser Größenordnung können wir Theorien aus Ökologie oder Evolutionsforschung testen und ggf. erweitern“, erklärt Becks. “Wir stoßen am Ende jedoch mit den Laborversuchen an Grenzen, und da kommen nun die Feldaufenthalte in Grönland ins Spiel – der unmittelbar bevorstehende und ein weiterer Aufenthalt im Frühjahr 2025.“

Labor- und Feldforschung verbinden
In dem Verbundprojekt GreenHAB, in dessen Rahmen die Grönlandaufenthalte stattfinden werden, möchte Becks seine Laborforschung also auf sinnvolle Weise durch Feldforschung ergänzen. Die konkrete Fragestellung, die dabei untersucht werden soll: Können toxische Algen in arktische Gewässer einwandern?

„In warmen und gemäßigten Küstenregionen kommt es immer wieder zu einem Massenauftreten von Mikroalgen, die Toxine produzieren oder andere Umweltschäden verursachen, sogenannte toxische Algenblüten. In den letzten Jahren wurden die beteiligten Algenarten jedoch auch immer häufiger im Arktischen Ozean beobachtet.“

Lutz BEcks

Es ist also durchaus möglich, dass die durch den Klimawandel verursachte Erwärmung der arktischen Gebiete die dortige Ausbreitung toxischer Mikroalgenarten weiter begünstigt. Becks und Cristini möchten daher den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Konkurrenzfähigkeit von toxischen und nicht-toxischen Arten untersuchen – darunter Temperatur, Nährstoffe und Salzgehalt des Wassers oder die Anwesenheit von Räubern, die sich von Algen ernähren. Erste Experimente hierzu fanden bereits in Konstanz statt, um eine Datengrundlage zu schaffen. „Mit der Hilfe einer Bachelor Studentin haben wir in den vergangenen Monaten arktische und nicht-arktische Algenarten im Labor kultiviert, um ihre Eigenschaften zu charakterisieren und zu sehen, wie sie unter verschiedenen Bedingungen – zum Beispiel Licht und Salzgehalt – wachsen“, erklärt Cristini.  

Hinaus in die echte Welt
Zum einen sollen in Grönland nun die Experimente, die im Vorfeld im Labor durchgeführt wurden, unter den dortigen, realen Bedingungen wiederholt werden, um die Ergebnisse miteinander abzugleichen. Es stehen in Grönland jedoch auch Experimente auf dem Plan, die in Konstanz schlichtweg nicht möglich sind. „Ein Ziel des Projektes ist es ja, den Einfluss arktischer Räuber auf die Konkurrenzfähigkeit der Algenarten zu testen. Das sind zum Beispiel kleine Krebse oder Wimpertierchen – also Zooplankton. Die können wir in unserem Labor in Konstanz gar nicht halten“, sagt Becks. „Um wirklich zu testen, ob toxische Algen in arktische Gewässer einwandern können, ist es außerdem wichtig, Experimente mit echten arktischen Algengemeinschaften durchzuführen. Die können auch nicht ins Labor transportiert werden“, ergänzt Cristini. Die entsprechenden Versuche müssen also vor Ort durchgeführt werden.

Ein Forschungscontainer mit dem für die Vor-Ort-Experimente notwendigen Equipment hat sich bereits im April 2024 auf die lange Reise von Konstanz nach Grönland gemacht, wo er inzwischen auf dem Gelände einer Forschungsstation der Universität Kopenhagen in der Diskobucht steht. Dort wird er während der Nutzung auf Seewassertemperatur runtergekühlt, damit es für die arktischen Organismen nicht zu warm wird. „Für mich bedeutet das allerdings auch, drei Wochen lang bei etwa sechs Grad zu arbeiten. Da werde ich dann schnell feststellen, ob Feldforschung mein Ding ist oder nicht“, sagt Becks, für den die Grönlandreise der erste Feldaufenthalt unter derartigen Bedingungen sein wird. Cristini hat dagegen schon mehr Felderfahrung vorzuweisen. „Ich habe bereits häufig an Feldforschungskampagnen teilgenommen. Zum Beispiel habe ich für meine Doktorarbeit viel Zeit auf einem Boot am Bodensee verbracht. Ich bin jedoch sicher, dass diese Arktisexpedition anders und aufregender sein wird als die vorherigen“, sagt Cristini.

Von Grönland zurück nach Konstanz
Arbeiten in dem Forschungscontainer bedeutet ganz konkret, Experimente durchzuführen, Proben zu nehmen und diese Proben anschließend zu fixieren, um sie für den Transport nach Deutschland vorzubereiten. Denn die eigentliche Auswertung wird zu großen Teilen zurück im Hightech-Labor in Konstanz stattfinden. Zusätzlich ist im Rahmen des Projektes auch eine Forschungsfahrt per Schiff von Island nach Grönland geplant, bei der eine Reihe von Beobachtungspunkten angefahren und beprobt werden sollen, um zu erfassen, welche Algenarten und andere Mikroorganismen tatsächlich gerade im Arktischen Ozean vorkommen.

© AG Becks, Universität Konstanz

Ein Roboterarm transportiert Proben zur Analyse zum Hochdurchsatz-Mikroskop der AG Becks.

„Das Projekt ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie wichtig Grundlagenforschung ist und wie sich Labor- und Feldarbeit gegenseitig ergänzen können. Ich bin der Überzeugung, dass uns die beiden Forschungsaufenthalte in Wechselwirkung mit unserer hiesigen Laborarbeit in unserer Fragestellung einen gewaltigen Schritt voranbringen werden. Sie werden es ermöglichen, die Grenzen der Konkurrenzfähigkeit toxischer Algen zu definieren und potenzielle Kipppunkte zu ermitteln, die zu schädlichen Algenblüten in der Arktis führen und Folgen für das gesamte Ökosystem haben können – und damit auch für die in Grönland lebenden Menschen“, sagt Becks.

Titelbild: Foto von Buiobuione, Scenic view of Greenland icebergs and boat in Disko Bay, CC BY-SA 4.0

Daniel Schmidtke

Von Daniel Schmidtke - 23.07.2024