Forschen jenseits der Polarkreise

Die Auswirkungen des Klimawandels dort untersuchen, wo sie am augenfälligsten sind, weil Meer- und Festlandeis schmelzen. Was am heimischen Schreibtisch nach einem reizvollen Plan klingt, verlangt viel Vorbereitungen im Vorfeld und Kraft in der Durchführung. Unterwegs mit der jungen Biologin Eva Riehle, die trotz aller Anstrengungen die Reize der Arktis und Antarktis nicht missen möchte.
© Eva Riehle

An den 18. August 2021 erinnert sich Eva Riehle noch genau, wird doch ihr Projekt bewilligt, das sich um Cyanobakterien und deren natürliche Toxine, Giftstoffe, dreht. Zusammen mit ihrem Doktorvater Daniel Dietrich, Professor für Human- und Umwelttoxikologie, will sie untersuchen, wie sich polare, terrestrische Ökosysteme, in denen Cyanobakterien eine wichtige Rolle spielen, mit dem Klimawandel verändern. Dank DFG-Förderung im Schwerpunktprogramm „Antarktisforschung mit vergleichenden Untersuchungen in arktischen Eisgebieten“ nimmt ihre Promotion geografisch eine neue Richtung.

Antragsformulare und vorbereitende Termine bestimmen das nächste Jahr, um auf der deutsch-französischen Forschungsstation auf Spitzbergen, die das Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven verwaltet, Forschungsarbeiten durchführen zu dürfen. Auch muss sie sich auf Risiken wie Eisbären vorbereiten, denen aufgrund des Klimawandels immer weniger Nahrung zur Verfügung steht. Die stark abgemagerten Tiere greifen auch Menschen an, weshalb man außerhalb der Station zum Schutz stets eine Waffe tragen muss, Gewehr plus Schreckschusspistole. Die junge Biologin muss also zum Waffentraining ans AWI: „Gefühlt bin ich mehrmals durch ganz Deutschland gereist, bis ich in die Arktis aufbrechen konnte.“ Dieses Training ist die letzte Hürde, nach der sie im August 2022 in die Arktis aufbrechen kann.

Aufbruch in die Arktis
Die AWIPEV-Forschungsbasis in Ny-Ålesund ist eine kleine Ansammlung von Häusern in skandinavischer Bauweise, direkt am Meer gelegen. Im Hintergrund türmen sich Berge auf. Jeden Tag bricht Eva Riehle nach dem Frühstück auf, legt zu Fuß vier bis fünf Stunden zurück, um Proben von Cyanobakterien zu sammeln, kommt erst abends zurück. „Bevor man die Station verlässt, muss man in einem Online-Buchungssystem eintragen, dass man weggeht, wie lange man unterwegs ist, welche Route man geht und was man macht,“ sagt sie und fügt hinzu: „Man muss eine Menge dabeihaben: ein Gewehr, die Munition, eine Schreckschusspistole, Munition dafür, ein Funkgerät und ein Satellitentelefon, weil das Funkgerät hinter dem Berg keinen Empfang mehr hat. Da hat man schnell einen 10-Kilo-schweren Rucksack beisammen.“

Die Station darf nur zu zweit verlassen werden, damit eine Person arbeiten kann, während die andere nach Eisbären Ausschau hält – bear watch. „Ich dachte erst: Einfach, Eisbären sind weiß und gut sichtbar. Doch in der arktischen Umgebung sind sie sehr gut getarnt und es ist richtig schwierig, da etwas zu erkennen“, berichtet die Doktorandin. Gleichzeit genießt sie diese Arbeitseinsätze in unberührter Natur, weil sie immer etwas Neues entdeckt: „Manchmal sind wir mit einem kleinen Schlauchboot auf die andere Seite des Fjords gefahren – ein besonderes Erlebnis, zwischen diesen riesigen Eisschollen mit einem Gummiboot zu fahren.“

„Man ist füreinander verantwortlich. Den ganzen Tag musst du konzentriert und wachsam sein. Da kannst du nicht einfach mal abschalten, dich auf einen Stein setzen und ein Brot essen. Abends bist du total platt.“

Eva Riehle


 

Und dann hätte Riehle beinahe auch noch einen Eisbären getroffen. Eines Morgens geht sie gegen 7 Uhr zum Frühstück durch die Station. Wenig später liest sie im Frühstücksraum am Whiteboard: Heute morgen, 7 Uhr, Eisbär hinterm Kraftwerk. „Mir wurde im Nachhinein noch mulmig. Während der Eisbär hinter dem Kraftwerk in der Lagune geschwommen ist, bin ich 400 Meter davon entfernt vor dem Werk vorbeigegangen.“

Zurück in Deutschland stehen Vorbereitungen für die Antarktis an, wo sie ab Ende Januar 2023 auf der britischen Rothera Research Station (Adelaide Island, Antarktis) forschen wird. Und dies vorab mit Behörden in Großbritannien und Deutschland abstimmen muss. Hier hat alles noch eine andere Dimension: In der Station leben und arbeiten 150 Menschen und sie ist geografisch viel abgeschiedener. Das Equipment wird bereits im September von England aus verschifft. Die British Antarctic Survey (BAS), die die Station betreibt, stattet die Forschenden auch mit Expeditionskleidung aus, wegen der Arbeitssicherheit. Riehle betont: „Wer diesen Aufenthalt nicht ordentlich vorbereitet hat, kann das Projekt vergessen. Und man sollte dort keinesfalls krank werden. Zum nächsten Krankenhaus ist es schon bei gutem Wetter mindestens eine Tagesreise.“
 

Latitude 67°34'8"S, Longitude 68°7'29"W
Die Rothera Research Station (YouTube-Video) in der Antarktis besteht aus mehreren großen Gebäuden, dazwischen eine Flugzeuglandebahn. Der Arbeitsalltag der Mitarbeitenden auf der Station –  die meisten davon TechnikerInnen und HandwerkerInnen, nur ein Zehntel etwa WissenschaftlerInnen – ist stärker reglementiert, als Riehle es von Spitzbergen kennt. Den Takt geben die fünf Mahlzeiten vor, die zwischen 8.00 und 18.00 Uhr verteilt sind. Abends wird öfters ein soziales Programm geboten, mal ein Film- oder Spieleabend, mal ein Vortrag, Sport sowieso.

Morgens um 8.30 Uhr gibt es vor dem Labor ein Briefing für die WissenschaftlerInnen: Wer hat welche Pläne für die nächsten Tage? Welche Inseln werden mit dem Boot angefahren? Wie sind die Wetteraussichten? Auch hier gilt: sich aus dem System austragen, bevor man aufbricht, und mindestens zu zweit unterwegs sein. An verschiedenen Standorten sammeln Eva Riehle und Daniel Dietrich, der die Projektarbeit in der Antarktis unterstützt, Proben von Cyanobakterien-Ökosystemen. Zurück in Deutschland sollen alle Cyanobakterien-Arten sowie die anderen Bakterien und Kleinstlebewesen mit Zellkern, die gemeinsam mit den Cyanobakterien in einem Ökosystem vorkommen, genetisch analysiert werden.

„Wie bei fast allen Spezies kann es auch bei Cyanobakterien zu Parasitismus kommen, wobei parasitäre Pilze und Viren eine wichtige Rolle spielen. Wir vermuten, dass diese Parasiten die Toxinproduktion der Bakterien verstärken. Und wir untersuchen unter anderem, ob dies bei höheren Temperaturen zunimmt.“

Eva Riehle

Dafür sind die beiden Forschenden mit Inkubationskammern, welche wie kleine Gewächshäuschen aussehen, ausgerüstet, in denen eine um etwa zwei Grad Celsius höhere Temperatur herrscht. Diese stellen sie unweit der Station auf, um dort alle drei Tage Proben entnehmen zu können.

Bei widrigen Wetterbedingungen ist das ein Kraftakt. Sie kommen im Freien kaum voran, müssen sich gegen den Wind stemmen und schreien, um sich gegenseitig verständlich zu machen. Schon unter normalen Bedingungen fühlen sich die Temperaturen hier deutlich kälter an als in der Arktis, findet Riehle. Man brauche immer Handschuhe, auch wenn das Thermometer nur -1 Grad Celsius zeige. Und dann die Wetterumschwünge. „Erst ist das Wetter schön, plötzlich beginnt es zu stürmen. Dann hat’s gleich mal 60 Knoten und man bekommt Eisregen seitlich ins Auge“, schildert sie. „Und bei Sturm wird es richtig kalt. Das fand ich schon manchmal herausfordernd.“

Und die Abgeschiedenheit? Auf der Station laut Riehle kein Thema, es gäbe viele Leute vor Ort und alle, man selbst inbegriffen, sind extrem beschäftigt. Anders auf den Inseln, auf denen Dietrich und sie mit dem Boot abgesetzt werden, um Proben zu sammeln. Sie haben immer eine Menge Notfallequipment im Gepäck: Zusatzrationen von Essen, eine Lampe, Schlafsack. „Wenn du auf so einer Insel funkst, um abgeholt zu werden, und nicht gleich eine Antwort bekommst, wird dir schon mulmig. Weil du da auf keinen Fall ein paar Tage biwakieren willst! Und du fühlst dich plötzlich ganz klein“, meint die Doktorandin.

Dabei ist ihr stets bewusst, großes Glück zu haben, in der Antarktis arbeiten zu können: „Die Natur dort sieht so beeindruckend aus. Wenn man mit dem Boot übers Wasser zu einer winzigen Insel in der Antarktis fährt oder bei Sonnenuntergang eine Robbe sieht, ist das so wunderschön, da hält man die Kälte freiwillig aus.“

„So anstrengend die Forschungsaufenthalte dort auch waren und so viele Hürden ich überwinden musste, ich würde sehr gerne wieder dorthin zurückkehren.“

Eva Riehle

Doch die Tatsache, dass man nicht wieder in die Antarktis zurückkehren kann, etwa um Versäumtes nachzuholen, setzt sie auch unter Druck. Die junge Biologin überprüft ständig ihren eigenen Plan: „Hab ich alles erledigt? Ist alles so dokumentiert, wie es sein muss? Habe ich alle wichtigen Parameter mit aufgenommen?“ Nach knapp sechs Wochen treten Dietrich und Riehle die Rückreise an, während die Cyanobakterien per Schiff nach England gebracht werden. Dort will Riehle sie persönlich abholen, da die Proben bei -20 Grad gelagert werden müssen. Sollten sie länger im Zoll liegen bleiben, wäre das Projektergebnis gefährdet.

Das Sammeln der Proben und die Experimente mit den Inkubationskammern stellen „nur“ den ersten praktischen Schritt in dem Projekt dar. Der Großteil der Arbeit findet zurück in Deutschland statt, wo die genetischen Analysen durchgeführt werden müssen – zuerst viel Laborarbeit, dann viel Bioinformatik. Erst danach wird sich erweisen, welche wissenschaftliche Ergebnisse das Projekt haben wird.

https://youtu.be/M_mx-88jE3Q?feature=shared

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Marion Voigtmann

Von Marion Voigtmann - 21.02.2024