Forschung riskieren
Wissenschaft ist grundsätzlich ein risikobehaftetes Unternehmen, das dem Grundprinzip von Trial and Error folgt. Der Konstanzer Politik- und Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Seibel beruft sich in seinem wissenschaftstheoretischen Verständnis auf Karl Poppers Theorie des Kritischen Rationalismus, wonach Forschende ihre Theorie bzw. Hypothese nicht vollständig verifizieren können. Popper hatte eine methodische Alternative mit einem heute in der Wissenschaftssprache allgemein gebräuchlichen Gegenbegriff bezeichnet: falsifizieren. Man kann Erkenntnisgewinn auch dadurch erzielen, dass man etablierte generalisierende Aussagen durch Gegenbeispiele widerlegt. Manchmal genügt dann ein einziges Gegenbeispiel, um generalisierende Aussagen grundlegend zu erschüttern. Poppers Paradebeispiel: Der Schwarze Schwan. Hat man einen entdeckt, ist die konventionelle Annahme „alle Schwäne sind weiß“ vom Tisch.
Schwarze Schwäne entdecken – kein leichtes Unterfangen
Die Suche nach schlagenden Gegenbeispielen ist, so Seibel, in doppelter Hinsicht riskanter als Forschung, die sich der Stützung von Varianten bereits etablierter Hypothesen widmet. Zum einen kann die Falsifizierung mangels belastbarer Evidenz nicht gelingen. Und zum anderen ist die Begründung der Generalisierbarkeit gerade wegen der Seltenheit einschlägiger Evidenz besonders anspruchsvoll.
Wolfgang Seibels Projekt „Schwarze Schwäne in der Verwaltung. Seltenes Organisationsversagen mit schwerwiegenden Folgen“ erinnert schon im Titel an Karl Popper, nimmt aber auch Bezug auf einen moderneren Klassiker der sozialwissenschaftlichen Theorie, Nassim Talebs Buch „Black Swans. The Impact of the Highly Improbable“, das erstmals 2007 erschien. Seibels Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als Reinhart Koselleck-Projekt gefördert. Fördervoraussetzung für Koselleck-Projekte ist nach den Leitlinien der DFG, dass die projektierte Forschung „im positiven Sinne risikobehaftet“ ist.
Datenerhebung unter widrigen Umständen
Die Faktoren, die risikosteigernd wirken, können je nach Fach unterschiedlich sein. Wo es in den Naturwissenschaften noch nicht erprobte experimentelle Techniken sein können, die nicht zum angestrebten Ziel führen, ist es in den Sozialwissenschaften zum Beispiel die Datenerhebung, die unüberwindbare Probleme bereiten kann. Für Seibels Reinhart Koselleck-Projekt bedeutet dies: Datenerhebung unter widrigen Umständen.
Untersuchungsgegenstand ist seltenes Versagen von öffentlichen Verwaltungen mit schwerwiegenden Auswirkungen nicht zuletzt für Leib und Leben von Menschen. In seinem zusammen mit Kevin Klamann und Hannah Treis verfassten Buch „Verwaltungsdesaster. Von der Loveparade bis zu den NSU-Ermittlungen“ von 2017 und seiner Open-Access-Monographie „Collapsing Structures and Public Mismanagement“ von 2022 dokumentiert und analysiert das Forschungsteam Katastrophen wie die Loveparade in Duisburg mit 21 Toten oder die Hintergründe des Einsturzes von Bauwerken wie der West Gate-Brücke in Melbourne, die Menschenleben forderten und auf desaströsen Fehlentscheidungen von Verwaltungsorganisationen beruhen.
Allen diesen Vorfällen ist gemeinsam, dass die Beteiligten nur sehr widerwillig über die Ereignisse sprechen, was die wissenschaftliche Untersuchung schwierig macht. Einigermaßen auf der sicheren Seite befinden sich Seibel und sein Team bei der Datenerhebung, wenn sie auf bereits vorhandene Datensätze zurückgreifen können. In der Regel handelt es sich dabei um gut dokumentierte Fälle, in denen bereits Untersuchungsausschüsse, Gerichte oder unabhängige Expertenkommissionen tätig waren. Untersuchungsausschüsse und Gerichte sind im Gegensatz zu WissenschaftlerInnen beispielsweise in der Lage, Zeugen vorzuladen und zu vereidigen. Die Forschenden müssen hier allenfalls mit dem Handicap leben, dass die Fragestellungen nicht denjenigen entsprechen müssen, die sie selbst verfolgen.
Offene Arme sind nicht zu erwarten
Ganz anders sieht es aus, wenn Daten im Rahmen des Schwarze Schwäne-Projekts selbst erhoben werden.
„Man darf nicht erwarten, dass diejenigen, die für diese desaströsen Fehlentscheidungen verantwortlich sind, wissbegierige Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler mit offenen Armen empfangen.“
Wolfgang Seibel
Dabei sind die Hürden, die zu überwinden sind, vielfältig. Eine frühere Mitarbeiterin, die das Versagen der Geldwäschebekämpfung in Deutschland untersuchte, stieß auf „hinhaltenden Widerstand, insbesondere aus dem Bundesfinanz- und Bundesinnenministerium“, so Seibel. Hier kam es vor, dass Angehörige der Strafverfolgungsbehörden oder Referatsleitungen in Ministerien gegebene Interviewzusagen zurücknahmen oder solche Zusagen erst nach langem Zögern machten, um sich dann im Interview akribisch an die Sprachregelung des Hauses zu halten.
Schließlich gelang es der Doktorandin mit viel Geduld, über einen Antrag auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes Zugang zu umfangreichem Schriftverkehr zwischen dem Bundesfinanz- und dem Bundesinnenministerium zu erhalten, der ausgedruckt einen Umfang von mehr als 10.000 Aktenblätter gehabt hätte. Auch hier stellt der Projektleiter fest: „Es gehört zu den Risiken einer solchen Untersuchung, dass die Leute, von denen man etwas wissen möchte, einem die Informationen ungern zur Verfügung stellen, wenn ihnen klar ist, dass sie selbst dabei nicht gut wegkommen.“
Auch ethische Fragen spielen eine Rolle
Auch ethische Fragen können dazu führen, dass Projekte sich als nicht durchführbar erweisen: Wenn Feldforschung beispielsweise in Ländern stattfinden soll, in denen die physische Sicherheit von Projektmitarbeitenden nicht gewährleistet ist. So gehören zum Schwarze Schwäne-Projekt auch Untersuchungen zu unzureichender Verkehrssicherheit in Südafrika. Dort haben sogenannte Minitaxis insbesondere in Townships großen Anteil am schlecht funktionierenden Transportwesen. Sie verursachen viele Verkehrsunfälle, die Rate der Verkehrstoten ist annähernd so hoch wie die nationale Mordrate. In Agglomerationszentren wie Kapstadt oder Johannesburg sind ihre Betreiber darüber hinaus in Kartellen mit nahezu kriminellen Strukturen organisiert.
Diese Kartellstrukturen bis hin zu sogenannten turf wars, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Kartellen, sind bekannt, ohne dass Polizei und Verwaltung viel dagegen tun können oder wollen. Projektmitarbeiterinnen oder –mitarbeiter in ein solches Untersuchungsfeld zu schicken, kommt nicht in Frage. „Wenn man genau wissen will, wer dahintersteckt, und wenn man versucht, darüber kritisch zu berichten, ist das ein Risiko, das man nicht eingehen darf“, stellt der Projektleiter klar. Da geht es WissenschaftlerInnen nicht besser als JournalistInnen.
Ein Feldzugang ist aber auch aus den bekannten Gründen so gut wie unmöglich. Für eine Voruntersuchung war er mit einem Fellowship des Stellenbosch Institute for Advanced Study in Südafrika, was zur Gründung einer Arbeitsgruppe mit südafrikanischen WissenschaftlerInnen und Praktikern führte.
„Wenn ich als weißer Professor aus Europa in südafrikanische Townships gehe, käme ich mit der Datenerhebung nicht weit.“
Wolfgang Seibel
Ein „halbgescheitertes“ Teilprojekt
Feldzugang ist generell eine sensible Angelegenheit. Selbst für einen Mitarbeiter vor Ort stellte sich der Zugang als schwierig heraus. Seibel nennt das Beispiel eines Kooperationspartners, ein Post-doc aus Ruanda, eingebürgert zwar, aber nicht im Township zu Hause. An niederschwellige Feldzugänge und teilnehmende Beobachtung ist unter solchen Umständen erst gar nicht zu denken. Seibel selbst spricht von dieser Untersuchung als einem „halbgescheiterten Vorhaben, bei dem ich nicht so weit gelangt bin, wie ich es gerne gehabt hätte“.
Mit einem Reinhart Koselleck-Projekt richtet sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft an WissenschaftlerInnen, die Erfahrung damit haben, wie weit sie bei der Inkaufnahme von Durchführungsrisiken bei komplexen Forschungsprojekten gehen können. Wolfgang Seibels Standpunkt:
„Wir gestandenen Forscherinnen und Forscher können uns das im Prinzip leisten, mal nicht das zu erreichen, was wir vorhatten. Ich bin der Auffassung, dass es mindestens genauso wichtig ist – eigentlich sogar noch wichtiger –, bei jungen Forschenden die Risikobereitschaft zu fördern. Wir sollten sie dazu ermuntern und auch entsprechende Förderprogramme entwickeln.“
Wolfgang Seibel
Wolfgang Seibel über Erkenntnisgewinnung aus geringen Fallzahlen
„Nicht ein Risiko im klassischen Sinne, aber eine besondere methodologische Herausforderung ist die Gewinnung von Präventionswissen aus einer – glücklicherweise – geringen Anzahl empirischer Fälle von schwerwiegendem Organisationsversagen. Wir haben uns für ein Vorgehen entschieden, das man aus der Untersuchung von Flugzeugunfällen kennt. Normalerweise wissen wir: Man schließt nicht von einer einzelnen Beobachtung oder Messung auf die Grundgesamtheit. Trotzdem wird bei einem einzelnen Flugzeugunfall wie zuletzt bei dem Boeing-Modell 737Max erst einmal die ganze Flotte dieses Typs stillgelegt. Man schließt dann also doch vom Einzelfall auf die Grundgesamtheit, und das aus guten Gründen, die mit einer anderen Art von Kausalanalyse zu tun haben, als wir sie von Korrelationsberechnungen kennen: Hierbei sucht man nicht nach der Figuration von Variablen, sondern nach der Fehlfunktion systemspezifischer Mechanismen. Das ‚System‘ ist der Flugzeugtyp und wenn da eine Komponente nicht richtig funktioniert, weiß man, dass dieselbe Komponente in allen Exemplaren desselben Typs ebenfalls vorhanden ist und somit einen systemspezifischen Risikofaktor darstellt.
Um aus einem einzelnen Fall tatsächlich etwas lernen, also verallgemeinern zu können, muss man folglich bei kausalanalytischen Einzelfallstudien den Systemtypus genau kennen, mit dem man es zu tun hat. Dann kann man auch die systemspezifischen kausalen Mechanismen identifizieren und aus deren fallspezifischen Fehlfunktionen verallgemeinerungsfähige Schlüsse ziehen. Das ist bei seltenen ‚Unfällen‘ mit schwerwiegenden Folgen die notwendige Voraussetzung von Präventionswissen. Formale Organisationen wie Verwaltungen haben ihre systemspezifischen ‚Sollbruchstellen‘ – zum Beispiel Koordinationsprobleme oder Informationsdefizite – und denen sind bzw. waren wir im engeren Sinne auf der Spur.“
Titelbild: Loveparade-Gedenkstätte. Copyright: RundschauDuisburg from Duisburg, Deutschland, CC BY-SA 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons