Interview: Hannes Rappitsch

Seit Januar 2014 koordiniert Hannes Rappitsch als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Brückenprofessur Bildung und Entwicklung in der Frühen Kindheit der Universität Konstanz und der Pädagogischen Hochschule Thurgau das Kompetenznetzwerk „Frühe Kindheit“. „Im Gespräch“ erläutert er, was es damit genau auf sich hat.

Herr Rappitsch, was genau ist das Kompetenznetzwerk „Frühe Kindheit“?

Die Universität Konstanz und die Pädagogische Hochschule Thurgau bilden mit den Kernpartnern, dem Marie Meierhofer Institut für das Kind in Zürich und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychologie des Universitätsklinikums Ulm sowie weiteren spezialisierten Institutionen und Organisationen, das „Kompetenznetzwerk Frühe Kindheit“. Gegründet wurde es im Rahmen des Masterstudiengangs Frühe Kindheit, den es seit 2011 gibt und den 2013/2014 erstmals 19 Absolventinnen und Absolventen abgeschlossen haben. Dieses interdisziplinäre Kompetenznetzwerk bildete hierfür den strukturellen Rahmen, wobei in der Zwischenzeit immer mehr die Öffnung auch zu anderen Studienrichtungen und zum gemeinsamen Nutzen von anderen Institutionen – im Sinne von Win-Win-Situationen – im Fokus steht.

 

 

Was ist die Aufgabe des Netzwerkes?

Das Kompetenznetzwerk bündelt Wissen, Können und Ressourcen der Forschungseinrichtungen verschiedener Institutionen. Damit wird es Partner für Forschungsprojekte und Evaluationen. Die beiden Hochschulen haben sich zum Ziel gesetzt, durch forschungsbasierte Projekte mit starkem Praxisbezug einen innovativen und zukunftsweisenden Beitrag zum Themenfeld Frühe Kindheit zu leisten. Das Netzwerk lädt Expertinnen und Experten ein, Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis zu bauen und die dafür nötige „Übersetzungsarbeit“ zu leisten. Mein Aufgabenfeld umfasst nun in diesem Bereich die Pflege, den Ausbau und die Weiterentwicklung des Kompetenznetzwerks Frühe Kindheit. Neben der Betreuung der schweizer Webseite Frühkeindheit, wo das Netzwerk und seine unterschiedlichen Aktivitäten sichtbar gemacht werden, wird viel auf den unterschiedlichsten Ebenen kommuniziert, um diverse Anfragen, Bedürfnisse und Wünsche zwischen Praxis, Forschung, Lehre und Studium weiterzuleiten, zusammenzuführen oder zu beantworten. Das ist die alltägliche Vernetzungsarbeit unabhängig von organisierten Veranstaltungen.

 

Sie sind seit über 20 Jahren diplomierter Sozialarbeiter. Hätten Sie sich schon früher ein solches Netzwerk gewünscht?

Egal mit welchen Zielgruppen ich in meiner beruflichen Beratungstätigkeit aktiv war, war mir immer ein ressourcenorientierter Ansatz wichtig. Dieser beinhaltet nicht nur, die Ressourcen des einzelnen, sondern auch die Ressourcen der Umwelt und der Hilfsangebote in den Fokus zu nehmen. Von daher war ich es gewohnt, vernetzt zu denken und in und mit Netzwerken zu handeln.

 

Wer ist Teil des Netzwerkes Frühe Kindheit?

Aktuell sind 29 Partnerinstitutionen aus Wissenschaft und Praxis in diesem Netzwerk Mitglied. Es sind unterschiedliche Institutionen aus Deutschland und der Schweiz, aus Forschung und Praxis, wobei der Fokus regional rund um den Bodensee gelegt wird und somit auch Organisationen aus Vorarlberg/Österreich miteinbezogen werden können. Die Bandbreite der Netzwerkpartner erstreckt sich von anderen (pädagogischen) Hochschulen, universitären und kommunalen Einrichtungen, Forschungsinstitutionen, Trägerorganisationen von Spielgruppen und Kindertagesstätten bis hin zu unterschiedlichen Beratungsstellen und Präventions- und Interventionseinrichtungen wie auch klinischen, therapeutischen Hilfsangeboten im frühkindlichen Bereich. 

 

 

Wie sieht es mit der Vermittlung von Theorie und Praxis aus?

In dem Netzwerk geht es sowohl um Vermittlung von Wissen aus der Theorie als auch aus der Praxis. Idealerweise wird dies durch Vernetzung erreicht. So sollte das generierte Wissen der Forschung den Praktikerinnen und Praktikern sowie den Lehrenden zur Verfügung gestellt werden. Auf diese Weise entsteht ein direkter Nutzen in der Praxis. Andererseits sollten die Themen und Fragestellungen der Praxis auch direkt in der Lehre und Ausbildung wie auch in der Forschung aufgegriffen werden können, damit ein aktueller Bezug zur Praxis hergestellt wird. In diesem Kontext gehören die regelmäßigen Veranstaltungen des Netzwerkes, wie die vierteljährlich stattfindenden Ringvorlesungen „Forschung und Praxis in der Frühen Kindheit“ und das einmal im Jahr stattfindende Herbstmeeting, bei dem sich die Kooperationspartner aus Forschung und Praxis treffen, um sich zu vernetzen und inhaltlich zu einem Schwerpunktthema auszutauschen.  

 

Was meinen Sie damit, dass Sie froh seien, durch das Kompetenznetzwerk "Frühe Kindheit" einen anderen Fokus bekommen zu haben?

Mehr als 20 Jahre war mein beruflicher Alltag geprägt von der Arbeit mit Menschen, bei denen schon sehr viel an negativer Entwicklung geschehen ist und wo es darum ging den Schaden möglichst gering zu halten oder eine Art Neubeginn zu ermöglichen. Auch aufgrund meiner privaten familiären Situation bin ich in dem Arbeitsfeld der Frühen Kindheit gelandet, wo ich eher die Möglichkeit sah, gewissen Fehlentwicklungen entgegenzusteuern beziehungsweise die kindliche Entwicklung von Anfang an (positiv) zu beeinflussen. Nachdem ich den ersten Masterstudiengang Frühe Kindheit absolvieren konnte, bin ich sehr froh, dass ich nun hier beruflich neu starten konnte. Mit Jahresbeginn konnte ich nun als frisch „gebackener“ M.A. Frühe Kindheit von Dr. Julia Everke die Koordination des Kompetenznetzwerkes Frühe Kindheit übernehmen.

 

Gibt es Forschungsprojekte, an denen gerade gearbeitet wird?

Die Arbeitsgruppe für Bildung und Entwicklung in der Frühen Kindheit, bestehend aus Psychologen und Erziehungswissenschaftlern, forscht gerade aktuell schwerpunktmäßig in den folgenden Themenbereichen: Peerbeziehungen, soziale Kompetenz und psychische Gesundheit; frühkindliche Bildung und Betreuung in Kindertagesstätten und Spielgruppen (vor allem Interaktionsqualitäten); Entwicklung von Kindern mit individuellen oder familiären Risikofaktoren. Es handelt sich sowohl um Grundlagenforschung als auch um Forschungsprojekte in Zusammenarbeit mit Praxispartnern in der Schweiz und in Deutschland. Für diese Forschungsprojekte werden verschiedene quantitative und qualitative sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden angewandt. 

 

 

Können Sie den Inhalt eines Forschungsprojekts beispielhaft näher umreißen? Worum geht es dabei?

Der Titel eines aktuelles Projekts im Rahmen des Kompetenznetzwerks lautet „Umgang mit Teilzeit betreuten Kindern in Kindertagesstätten“: Im Auftrag des Sozialdepartements der Stadt Zürich werden in diesem Praxisforschungsprojekt, das in Kooperation von Universität Konstanz, Pädagogische Hochschule Thurgau in Kreuzlingen und Marie Meierhofer Institut in Zürich durchgeführt wird, auf wissenschaftlicher Basis sowie in Zusammenarbeit mit Praktikern und Praktikerinnen konkrete Handlungsempfehlungen bezüglich folgender Fragestellungen entworfen: Welche Organisationsformen sind geeignet, um die Stabilität der Kindergruppe zu erhöhen? Und: Wie müssen soziale Beziehungen und pädagogisches Handeln in der Kita gestaltet werden, um Teilzeit und Vollzeit betreuten Kindern in ihrer Entwicklung gerecht zu werden?

 

Sie sind gebürtiger Österreicher, arbeiten jetzt in der Schweiz und in Deutschland. Was ist die besondere Herausforderung?

Als besondere Herausforderung erlebte ich zu Beginn das Bewerkstelligen des Ineinanderwirkens der einzelnen Systeme in den jeweiligen Ländern, die für ein Arbeitsverhältnis von Bedeutung sind, wie zum Beispiel Krankenkassen und Finanzämter. Ansonsten erlebe ich als gebürtiger Österreicher die Herausforderungen bei meiner aktuellen beruflichen Tätigkeit als absolut im Rahmen, auch dadurch, dass mir in den unterschiedlichen Teams sehr viel Wohlwollen, Verständnis und Wille zur Zusammenarbeit entgegengebracht wird.

 

Sie sind im Dreiländereck tätig, wo es auch unterschiedliche Systeme gibt, was beispielsweise die Kinderbetreuung anbelangt. Sind die Erkenntnisse des Netzwerks universell anwendbar?

Die grundsätzlichen Erkenntnisse der Forschung sind prinzipiell universell anwendbar, da sie bei gleichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen (im Bereich der frühen Kindheit) wissenschaftlich abgesicherte, allgemeine Gültigkeit haben sollen. Das Spannende an dieser Arbeit im Netzwerk im Rahmen des Dreiländerecks sind Beobachtungen über den Tellerrand hinaus, wie diese Erkenntnisse im Bereich der frühen Kindheit beispielsweise bei der Kinderbetreuung umgesetzt werden beziehungsweise wie der strukturelle Rahmen dementsprechend gestaltet wird oder gestaltet werden kann?

In diesem Kontext bietet das Netzwerk vielfältige Lernmöglichkeiten, sei es über die Ländergrenzen hinweg oder auch über die Grenzen des Bundeslandes, des Kantons oder der unterschiedlichen Organisationsform hinweg. So gibt es unabhängig vom strukturellen Rahmen oder von Ausgangsvoraussetzungen die gleichen Probleme und Themen oder grundsätzliche Erkenntnisse oder Probleme in diesem Themenbereich der frühen Kindheit. Ihnen wird auf unterschiedlichen strukturellen Ebenen mit unterschiedlichen Mitteln und unterschiedlichem Erfolg begegnet.

 

 

Stellt das Netzwerk auch Aufgaben für Studierende, beispielsweise in Form von Themen für Abschluss beziehungsweise Doktorarbeiten?

Das aktuelle universitäre Lehrangebot besonders im Bereich des Masterstudienganges Frühe Kindheit umfasst die Bereiche Frühkindliche Bildung, Betreuung und Förderung, Entwicklung sozio-emotionaler Kompetenzen sowie Forschungsmethoden. Ausgehend von diesem Rahmen und dem bereits breiten Geflecht an Netzwerkbeziehungen zu unterschiedlichen Institutionen bestehen die Möglichkeiten, sowohl gezielte bedarfsgerechte Projektarbeiten und Praktika als auch mögliche Themen von Master- und Abschlussarbeiten in Kooperation mit einzelnen Netzwerkpartnern an Studierende zu vermitteln. Ausgehend von diesen Netzwerkbeziehungen ist auch bereits einiges entstanden an Kooperationen bei Projekt- und Masterarbeiten.

 

Sagen wir, Sie hätten bei "Frühe Kindheit" einen Wunsch frei. Welchen möchten Sie möglichst bald realisieren?

Der Wunsch wäre, dass das Kompetenznetzwerk ein etabliertes Forum mit ausreichenden personellen wie finanziellen Ressourcen wäre für Forschung, Praxis und Ausbildung. Dass es in diesem Forum eine gesunde Dynamik gäbe von Nehmen und Geben, von Antworten und Anliegen, der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und Übersetzungsarbeit zwischen den einzelnen Sparten, Ländern, Kantonen, Ausbildungsstätten und Professionen – all dies im Sinn eines konstruktiven, gegenseitigen inspirierenden Miteinanders im Dienste des Erkenntnisgewinns für dieses spannende und wichtige Gestaltungsfeld der frühen Kindheit. Unabhängig von den Ressourcen sollte es die bereits existierenden Veranstaltungen des Netzwerkes weiterhin geben.

 

Wie finanziert sich das Netzwerk?

Das Netzwerk wird in dieser Aufbauphase gleich wie der Masterstudiengang Frühe Kindheit durch das Budget der beiden Hochschulen, der Pädagogischen Hochschule Thurgau und der Universität Konstanz getragen.

 

 

Bekommen Sie auch Anfragen von Privatleuten?

Ja, auch das kommt vor, und das ist auch gut so, da es zeigt, dass dieses Themenfeld und unsere Netzwerkarbeit eben nicht nur im institutionellen Rahmen interessiert, sondern auch „private“ Anliegen und Bedürfnisse anspricht.

Hannes Rappitschs...

Ausbildung zum diplomierten Sozialarbeiter hat er 1991 an der Bundesakademie für Soziale Arbeit in St. Pölten/Niederösterreich absolviert. Danach war er mehr als 20 Jahre in der Beratungsarbeit mit diversen "Randgruppen" tätig – angefangen von der Arbeit mit Drogenabhängigen und Strichern bis hin zur Arbeit mit anerkannten Flüchtlingen. Hannes Rappitsch war am Aufbau einer Beratungsstelle für Integrationsarbeit beteiligt. 2011 schrieb er sich für den ersten Masterstudiengang Frühe Kindheit an der Universität Konstanz und der Pädagogischen Hochschule Thurgau (PHTG) ein und schloss ihn im Herbst 2013 mit dem double degree „Master of Arts of early childhood“ ab. Seit Januar 2014 ist Hannes Rappitsch als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. Sonja Perren an der Brückenprofessur Bildung und Entwicklung in der Frühen Kindheit tätig und für die Koordination des Kompetenznetzwerks Frühe Kindheit verantwortlich.

Dr. Maria Schorpp

Von Dr. Maria Schorpp - 25.03.2015