Interview: Prof. Dr. Stefan R. Hauser
Herr Professor Hauser, die Nachrichten aus dem Irak und aus Syrien sind alles andere als ermutigend.
Im Irak und in Syrien erleben wir zurzeit Zerstörungen historischer Stätten in einem Ausmaß, wie wir uns das nicht haben vorstellen können. Nachdem seit Jahren Raubgrabungen ein riesiges Problem darstellen, sind nun in den vergangenen Wochen mehrere große, für die Geschichte des Vorderen Orients zentrale Ruinenstätten offenbar mit Bulldozern und Vorschlaghämmern traktiert worden. Man hat versucht, die assyrischen Hauptstädte Ninive, Nimrud (das antike Kalchu) und Khorsabad (das antike Dur Scharruken) zu zerstören. Auch die wichtige Stadt Hatra wurde angeblich verwüstet.
Warum ist Hatra so wichtig?
Es handelt sich um eine Siedlung, die sich vom ersten bis dritten Jahrhundert nach Christus von einer Wasserstelle in der Steppe, an der sich wohl schon lange immer wieder Nomaden sammelten, zur Hauptstadt des in damaligen Inschriften so genannten „Königreichs der Araber“ und zum Zentrum einer Provinz des Reiches der Arsakiden wurde. Hatra liegt am Rande möglichen Regenfeldbaus und diente als politisches, religiöses und wirtschaftliches Zentrum für die Nomaden. Zudem gewann die Stadt Bedeutung durch ihre zentrale Lage zwischen dem Römischen Reich und dem Zentralirak, dem Zentrum von dessen östlichem Pendant, dem Arsakiden- oder Partherreich.
Im 2. Jahrhundert wurde Hatra auf 310 Hektar ausgebaut, also doppelt so groß wie das linksrheinische Konstanz, und komplett von einer doppelten Stadtmauer umgeben, die noch jüngst relativ gut erhalten war. Im Zentrum der Stadt gab es ein großes Heiligtum, in dessen Hof das mittelalterliche Konstanz gepasst hätte. Die Haupttempel hatten die Zeit seit der Eroberung und dem Verlassen der Stadt 240/241 n. Chr. in einer Höhe von fast 20 Metern überstanden und wurden in den 1970er-Jahren von der irakischen Antikenverwaltung restauriert. Wenn nun von den angeblichen Zerstörungen durch den IS, von dem keine Bilder vorliegen, die Rede ist, dann kann ich mir nur vorstellen, dass man diese Tempelanlagen in die Luft gejagt hat. Hatra wurde übrigens 1973 als einzige irakische Ruine auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes gesetzt – bis zur Ablösung Saddam Husseins 2003 gab es sonst keinen irakischen Ort auf dieser Liste.
Erinnern Sie sich noch, wann Sie das erste Mal von den altmediterranen Kulturen gehört haben?
Diese Frage nimmt den Titel meiner Professur auf. Diese ist aber in ihrem Namen und ihrer Art einzigartig. Normalerweise werden die altmediterranen, das heißt griechisch-römischen Kulturen von der Gräzistik, Latinistik, Alten Geschichte und der Klassischen Archäologie bearbeitet, während für den Vorderasiatischen Bereich ganz eigene Fächer existieren. Dass diese traditionellen Trennungen durch die seit Jahrhunderten vorherrschenden Erzählungen europäischer versus orientalischer Geschichte bedingt sind, was seinen Widerhall und eine Verstärkung in der Forschungsgeschichte der Fachdisziplinen findet, aber letztlich den historischen Situationen eher unangemessen ist, musste ich selber herausfinden.
Warum nicht?
Weil für Stätten, die in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen werden sollen, ein touristisches Erschließungs-, Erhaltungs- und Restaurierungskonzept entwickelt werden muss. Genau an diesem Punkt scheitern Länder wie beispielsweise der Irak, in dem es Ruinen gibt, die von der Qualität und kulturhistorischen Bedeutung her weit über europäischen liegen. Das reiche Deutschland kann es sich leisten, keine Möglichkeit auszulassen, tolle Orte mit dem Titel UNESCO-Weltkulturerbe zu schmücken. Da nur Staaten Orte auf ihrem jeweiligen Territorium vorschlagen können, ist die UNESCO-Liste eher Ausdruck wirtschaftlicher Möglichkeiten als der realen Verteilung kulturhistorisch bedeutender Stätten.
Zurück zu den Zerstörungen. Auch der Name Mossul ist gefallen.
Ja, leider. Anfang März haben wir von der umfangreichen Zerstörung des Museums in Mossul erfahren. Dorthin waren die überlebensgroßen Statuen von Königen und Notablen der Stadt wie beispielsweise Stammesführern gebracht worden, die seit den 1950er-Jahren in Hatra ausgegraben worden waren. Bereits nach dem Sturz von Saddam Hussein war das Museum in Mossul wie auch das in Bagdad von wütenden Horden gestürmt worden. Dabei waren auch Statuen umgestürzt. Meiner italienischen Kollegin Roberta Venco war es in Zusammenarbeit mit dem damaligen Museumsdirektor, einem inzwischen längst geflohenen Christen, und der Hilfe italienischen Militärs gelungen, die Köpfe und Körper der Kalksteinstatuen wieder zusammenzufügen.
Im Video haben wir gesehen, wie nun erneut Statuen zerstört wurden, darunter aber einige – vom IS vielleicht nicht einmal erkannte – Gipskopien. Mitarbeiter der irakischen Antikenverwaltung, soweit sie noch im Land sind, sind da völlig hilflos. Unbestätigten Berichten zufolge hat der IS auch Leute gezwungen, bei den Zerstörungen mitzuhelfen. Andernfalls würden sie getötet. Gefilmt wurde beispielsweise ein westlich gekleideter Mann ohne Bart, der mit großer Energie einen Hammer schwingt. Wir konnten ihn nicht identifizieren, aber ich gehe davon aus, dass er eigentlich nicht zum IS gehört.
Gab es ein Schlüsselerlebnis, wodurch Ihr Interesse für diese Kulturen geweckt wurde?
Wichtig war sicherlich ein Buch über das alte Anatolien, das mir meine Eltern schenkten, als ich 15 war. Nachdrücklich in Erinnerung ist auch ein Ausstellungsbesuch, bei dem ich zum ersten Mal Bilder der Säulenstraßen der Oasenstadt Palmyra sah. Noch als Schüler hatte ich so den Wunsch, zumindest einmal nach Syrien zu kommen. Dass ich Jahre später in Palmyra und mit meinen Studierenden über Palmyra arbeiten würde, ist ein unerwartetes Glück.
Ist in dem Video auch zu sehen, wie kleinere Gegenstände zerstört werden?
Nein. Ein irakischer Kollege meinte sofort, dass wir die machtvollen Zerstörungen im Museum in Mossul vorgeführt bekommen, um davon abgelenkt zu werden, dass transportable Dinge nicht zerstört, sondern auf den internationalen Kunstmarkt wandern und dort verkauft werden. Schlimm ist für uns Archäologen auch, dass im Museum in Mossul Objekte aus Ninive, der berühmten assyrischen Hauptstadt mit ihrer 8000-jährigen durchgängigen Siedlungsgeschichte, waren und ebenfalls zerstört wurden. Ninive liegt ja genau gegenüber von Mossul, auf der anderen Seite des Tigris, und ist seit Jahren Teil des Mossuler Stadtgebiets. Ninive war im 7. Jahrhundert vor Christus die politische Hauptstadt des Assyrischen Reiches und hatte bei zirka 750 Hektar Stadtgebiet ein Minimum von 100.000 Einwohnern, vermutlich waren es sogar 200.000 bis 300.000.
In Ninive, dessen Stadtmauern noch heute auf Satellitenbildern sehr gut zu erkennen sind, und den anderen anfangs genannten assyrischen Hauptstädten begann Mitte des 19. Jahrhundert die Erforschung des „Alten Orients“: Man entdeckte große Paläste aus dem 9., 8. und 7. Jahrhundert v. Chr., die über hunderte von Metern mit Reliefs verziert waren. Als ein Teil dieser Reliefs 1851 bei der Weltausstellung in London gezeigt wurde, sorgte das für eine große Assyrien-Begeisterung. Die Reiche, die zuvor nur aus der Bibel bekannt waren, wurden nun sichtbar. Noch heute kann man diese Reliefs, auf denen Löwenjagden, aber vor allem Kriegszüge in großer Detailfreude, die Belagerung von Städten und die Deportation von Gefangenen, ein wichtiges Element in der assyrischen Politik, in diversen Räumen vor allem im British Museum und anderen Museen in Europa und den USA anschauen. Die Reliefs dagegen, die in Mossul geblieben sind, wurden vom IS zerstört.
Sie waren mehrfach im Irak und in Syrien unterwegs. Hatten Sie ein Erlebnis, das Ihnen in Erinnerung geblieben ist?
Es gibt viele kleine Geschichten von Begegnungen mit Menschen in Ausgrabungen, Dörfern und Städten. Ich denke aber im Moment eher an die von gelegentlichem Vogelgezwitscher und Windsausen unterbrochene Stille und Weite der Steppen Syriens mit dem spezifischen Geruch von Sand und Staub, der von der Hitze in kleinen Windhosen über die Landschaft getrieben wird. Das beinhaltet eine unbedingte Ruhe, die sich auch auf Menschen überträgt.
Unvorstellbar.
Ja, der IS hat jetzt passenderweise auch assyrische Darstellungen von Plünderungen und brutalen Tötungen zerstört, die sein eigenes Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung sehr schön illustrieren könnten. Bei aller Trauer über die Zerstörung der Ruinen sollten wir uns allerdings vergegenwärtigen, dass für den IS Bilder offenbar eine viel größere Bedeutung haben als für uns. Während wir Bilder oft kaum mehr wahrnehmen, nimmt der IS sie so ernst, dass er sich von ihnen verunsichern lässt, misst ihnen offenbar so viel Wert bei, dass sie für ihn zur Bedrohung werden und deshalb zerstört werden müssen. Insofern ähneln sie den Babyloniern und Medern, die Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. bei der Eroberung der assyrischen Paläste den Königsdarstellungen Augen und Nase aushackten und so die Macht der Bilder zu brechen versuchten.
Immer wieder werden solche Bilderstürmereien damit gerechtfertigt, es dürfe keine Abbildungen von Gott geben …
… beziehungsweise von Göttern, wobei der IS zu ungebildet ist, um zu verstehen, dass die angeblichen Götterstatuen nur Menschen darstellen. Aber das wäre ihnen letztlich auch egal. Die Interpretation des IS geht so weit, dass es auch Überlegungen und Drohungen gab, selbst die Kaaba in Mekka zu zerstören, weil dort Götzendienst geleistet werde – obwohl die Kaaba ja bildfrei ist. Schlimm ist, dass der IS nicht nur Bilder, sondern auch Bauwerke zerstört, in denen gebetet wird. Sie sind für den IS jenseits dessen, was er unter Religion versteht.
So kommt es, dass neben den antiken Stätten auch vor allem die ganzen christlichen Kirchen zerstört wurden. Das ist ein Drama, weil der Nordirak intensiv mit dem Christentum verknüpft ist. Leider ist es hierzulande so gut wie unbekannt, dass sich das Christentum schon im 1. Jahrhundert nicht nur nach Westen, sondern zeitgleich auch nach Osten ausbreitete. Nach einer lokalen Chronik gab es ab dem 2. Jahrhundert nach Christus in Seleukia, 30 Kilometer südlich von Bagdad gelegen, einen Bischof. Im 5. Jahrhundert nach Christus war das Christentum im Sasanidenreich, dessen politisches Zentrum der Irak damals bildete, so weit etabliert, dass Christen die Mehrheit der Bevölkerung in diesem Gebiet ausmachten. Das blieb so bis ins 7. Jahrhundert – damals wurden die Gebiete von muslimischen Stämmen erobert. Aber noch vor wenigen Jahren waren die Christen eine große Minderheit im Irak.
Derzeit können Sie diese Gebiete nicht bereisen. Auf welche Quellen stützen Sie sich dann während Ihrer Arbeit?
Bei Archäologie denken die meisten Menschen an Ausgrabungen. Das ist ein romantischer Irrtum, denn so viel Spaß die Feldarbeit macht, die meiste Arbeit findet am Schreibtisch statt. Wir arbeiten seit vielen Jahren mit Satelliten- und Luftbildern, die uns viele Aufschlüsse zur Lage und Gestalt von Orten in ihrer Umgebung geben. Viele ältere Ausgrabungen sind noch nicht hinreichend aufgearbeitet und publiziert. Im Moment bereiten wir die Publikation einer Ausgrabung in Syrien vor, die mein Vorgänger auf der Professur, Prof. Sürenhagen, durchgeführt hatte. Als studentisches Projekt wird das begleitet von einer Ausstellung über diesen Tell Jenderes, die ab Dezember 2015 im KulturTURM in Konstanz zu sehen sein wird. Entscheidend sind aber so oder so die Fragen, die wir an neues oder schon bekanntes Material richten. Und die gehen uns nicht aus.
Sie sagen, dass es leider so gut wie unbekannt ist, dass sich das Christentum schon im 1. Jahrhundert nicht nur nach Westen, sondern zeitgleich auch nach Osten ausbreitete. Warum ist dieser Teil der Geschichte des Christentums so wenig bekannt?
Unsere Vorstellungen von Kirchengeschichte sind geprägt von der Geschichte der römischen Kirche, die sich im 4. Jahrhundert mit den römischen Kaisern verband. Die orientalischen Christen, die teilweise andere Glaubensvorstellungen hatten, kooperierten ab dem 5. Jahrhundert mit den Sasanidenkönigen und spielen deshalb in der westlichen Kirchengeschichte keine Rolle. Und auch jenseits der Kirchengeschichte haben sie niemanden in der Forschung interessiert.
Warum nicht?
Bei der Erforschung der orientalischen Länder, ein zunächst koloniales, später dann postkoloniales Unternehmen, hat man mit altorientalischen Großreichen begonnen und sich lange auf die Zeit von der Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus bis Mitte des 1. Jahrtausend vor Christus konzentriert. Die archäologische Forschung hat sich darin lange von den Philologen dominieren lassen. Alles, was nach Alexander dem Großen, das heißt, dem späten 4. Jahrhundert v. Chr., im Orient geschah, war immer ein Bereich, der die Forschung nicht groß interessiert hat. Forschungsinteresse setzte erst mit dem frühen Islam für das 7. Jahrhundert n. Chr. wieder ein. Über einen Zeitraum von 1000 Jahren, in dem unter anderem das entstehende Christentum im Irak zu beobachten gewesen wäre, gab es also lange fast keine Forschung.
Und jetzt ist es zu spät dafür?
Es wird auf jeden Fall nicht mehr so leicht möglich sein. In Mossul und Umgebung gibt, das heißt, gab es hunderte von Kirchen, die bis in spätantike oder mittelalterliche Zeiten zurückreichen. Ich sehe im Moment aber auf Jahre hinaus keine Möglichkeit, solche Kirchen archäologisch oder kunsthistorisch zu bearbeiten, zu dokumentieren.
Es ist aber so, dass durch den IS nicht nur Kirchen, sondern auch sehr wichtige Moscheen und Gräber islamischer Heiliger zerstört werden. Ein besonderer Fall ist dabei die Nebi Yunus Moschee in Ninive, die das angebliche Grab des Propheten Jonas enthielt und im Juli 2014 vom IS gesprengt wurde. Die Moschee mit Grabmal reicht wahrscheinlich bis ins 8. Jahrhundert zurück und stand oberhalb eines assyrischen Palastes (der deshalb nie ausgegraben werden konnte). Jonas wird als Prophet von Juden, Christen und vielen Muslimen gleichermaßen verehrt. Er wird zwei Mal in den Suren erwähnt. Just deshalb aber hat der IS die Moschee, die zuletzt von Saddam Hussein in den 1990er-Jahren sehr stark erweitert wurde, als Symbol der Gemeinsamkeit von Religionen auslöschen wollen.
Angenommen, Sie bekommen Geld für archäologische Forschungen zur freien Verfügung. Welches Projekt würden Sie in Angriff nehmen?
Ich würde das Geld weder in Ausgrabungen, noch in die Restaurierung von schon Bekanntem stecken, sondern in die Dokumentation von zurzeit noch sichtbaren Resten in unerforschten Orten. Meine eigenen geplanten Projekte werden momentan durch die Sicherheitslage in Syrien und dem Irak, die ja auch in die Südosttürkei und nach Jordanien ausstrahlt, verhindert. Gerade in der Südosttürkei fallen mir genügend Orte ein, wo man aber keine Arbeitsgenehmigung bekommen würde.
Ist von der Moschee nach der Zerstörung etwas übrig geblieben?
Wir können den Grad der Zerstörung sehr genau beschreiben, denn dadurch, dass die Moschee mitten im Stadtgebiet lag, haben wir diverse Handybilder vom 24. Juli 2014, dem Tag der Zerstörung, und auch Satellitenaufnahmen, die von amerikanischen Kollegen veröffentlicht wurden. Von der Moschee ist nur ein großer Trümmerhaufen übrig.
In den Irak zu reisen ist derzeit nicht möglich. Sie sind deshalb auf Fotos angewiesen, die andere machen, Ihnen zukommen lassen oder ins Netz stellen. Oder auf Satellitenaufnahmen.
Das stimmt. Auf Bildern, die im Zusammenhang mit den Zerstörungen im Museum in Mossul und dem Palast in Ninive publiziert wurden, können wir einwandfrei sagen, was genau zerstört wurde, beispielsweise assyrische Türwächterfiguren, denen der Kopf mit Presslufthämmern abgetrennt wurde. Für unsere Arbeit sind auch aktuelle, hoch auflösende Satellitenaufnahmen wichtig, um die Zerstörung ganzer Orte zu dokumentieren. Doch leider haben wir Archäologen normalerweise kein Geld, um sie zu kaufen. Insbesondere das amerikanische Militär besitzt Satellitenaufnahmen mit einer hervorragenden Auflösung. Die hält es aber leider unter Verschluss.
Blutet Ihnen das Herz, wenn sie auf Bildern das Ausmaß der Zerstörung sehen?
Ja. Eine Kollegin hat vor kurzem der ZEIT in einem Interview gesagt, dass sie immer Pazifistin gewesen sei. Jetzt fühle sie zum ersten Mal in ihrem Leben, als wäre ein Militäreinsatz dringend geboten. Ich teile das Gefühl, wobei meine Betroffenheit und Wut nicht erst durch die Verwüstung der Ruinenstädte hervorgerufen wurde, sondern durch das unglaubliche menschliche Leid und Elend, das die Kriege im Irak und Syrien seit Jahren verursachen. Der IS dreht nun die Schraube der geistigen und humanitären Verwahrlosung und allgemeinen Verrohung noch weiter durch die gnadenlose Verfolgung von Minderheiten, Andersgläubigen oder auch von Leuten, die nur nicht bereit sind, denselben Radikalismus an den Tag zu legen. Das Schicksal der Yeziden ist, wie das der Christen, grauenvoll.
Wie erklären Sie sich diese Radikalisierung?
In Syrien geht es meines Erachtens vor allem um Pfründe in einem immer weiter eskalierenden Konflikt. Für den Irak, glaube ich, ist der Zeitraum von 1991 bis 2003, über den in der Presse bei historischen Darstellungen normalerweise gar nicht gesprochen wird, für die Entwicklung mitentscheidend. Nachdem Saddam Hussein 1990 in Kuweit einmarschiert war, ist die internationale Koalition, allen voran die Amerikaner, 1991 in den Irak bis kurz vor Bagdad eingedrungen. Die Regierung Saddam Hussein wurde in ihrem Machtanspruch weitgehend reduziert, aber nicht beseitigt. Stattdessen wurde ein Embargo aufgrund der teilweise erwiesenermaßen fälschlichen Annahme verhängt, es würden außer chemischen Waffen, die ja in der Tat gegen Kurden eingesetzt worden waren, auch atomare Waffen produziert. Dieses Embargo hat den Irak unglaublich hart getroffen und zu einer irrsinnigen Verarmung und Auflösung sozialer Strukturen geführt. Die medizinische Versorgung wurde ein Riesenproblem.
Die Kindersterblichkeit im Irak hat sich als Folge des Embargos innerhalb von wenigen Jahren vervielfacht. In der irakischen Regierung kam es zu einer stärkeren Konzentration auf die Kräfte, denen Saddam wirklich bedingungslos vertrauen konnte – wobei zu sagen ist, dass dort nicht nur Sunniten aus Tikrit, sondern auch immer ein Anteil von Christen und auch Schiiten beteiligt war. Die 1990er-Jahre haben aber nicht nur die Autorität des Regimes, sondern auch mancher Stammesführer untergraben. Parallel zu der Verarmung haben sich viele Menschen der Religion zugewandt. Selbst Saddam Hussein sah sich genötigt, vor Fernsehkameras häufig in die Moschee zu gehen. Das war in den 1980er-Jahren kein Thema – die Regierung war eine westlich ausschauende sozialistische Regierung eines Schwellenlands, auf einer Entwicklungsstufe beispielsweise wie Brasilien. Als 2003 das ganze Regime wegfiel, blieb nichts anderes mehr als der religiöse Rettungsanker. Mit diesem Problem kämpfen wir heute.
Ihr wichtigster Wunsch für den Irak und Syrien?
Frieden! Das heißt zunächst einmal eine möglichst baldige Einstellung aller Kampfhandlungen und die Möglichkeit für möglichst viele Menschen, in ihre Häuser zurückkehren zu können, ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen. Allerdings ist es mir völlig schleierhaft, wie eine Aussöhnung nach so viel Leid und Hass, Entführungen, Morden, Vergewaltigungen, körperlichen und seelischen Verletzungen bewerkstelligt werden könnte. Beide Länder waren über Jahrhunderte multireligiös. Diesen glücklichen Zustand werden wir wohl kaum wiedersehen.
Wie schätzen Sie die Rolle der Stämme ein?
Ich finde diese Frage sehr schwierig zu beantworten, da Presseberichte, die ja auch nur unter Lebensgefahr erstellt werden, an diesem Punkt viel zu ungenau sind. In den Gebieten, in denen der IS herrscht, gibt es diverse kleinere und größere Stämme, die in der Presse üblicherweise einfach als sunnitisch bezeichnet werden. Das ist aber nicht deren primäre Selbstdefinition – Stämme definieren sich als Verwandtschaftsgruppen. Zum anderen sind die großen Stämme nicht auf ein Land beschränkt, sondern haben Wandergebiete und Verwandte in Syrien, Irak und Saudi Arabien. Teilweise sind sie offenbar mit dem IS verbündet, aber eben zum Teil auch nicht. Wir kennen genügend Berichte, dass am Habur, dem Nebenfluss des Euphrat auf syrischer Seite, Stämme beziehungsweise Mitglieder bestimmter Stämme massakriert wurden, die sich dem IS nicht unterordnen wollten.
Der derzeitige Vormarsch auf Tikrit wiederum wird angeblich weitgehend von schiitischen Brigaden dominiert. Für die Chancen auf zukünftiges Zusammenleben wird viel davon abhängen, inwieweit sich auch sunnitische Stämme am Kampf gegen den IS beteiligen. Sehr viel hängt auch davon ab, inwieweit es die iranischen Berater der schiitischen Brigaden schaffen, in Tikrit und den umliegenden Dörfern Plünderungen und das Massakrieren von Leuten zu verhindern, klarzumachen, dass die schiitischen Brigaden nicht als Besatzer, sondern als Befreier kommen.
Noch einmal zurück zur Zerstörung von Kulturgütern durch den IS. Sie und Ihre Kollegen gehen davon aus, dass Objekte, die transportiert werden können, auf dem Kunstmarkt landen und dort zugunsten der IS-Finanzierung verkauft werden. Auch in Deutschland?
Nicht nur zur Finanzierung des IS, sondern auch anderer krimineller Banden. Und wir sollten nicht vergessen, dass es für viele verarmte Syrer und Irakerinnen gar keine andere Einkunftsquelle gibt, als in Raubgrabungen die reichlich vorhandenen archäologischen Schätze zu heben. Bevor die Antiken auf dem Kunstmarkt angeboten werden, müssen sie aber aus dem Land gebracht werden. Wenn Sie sich die Grenzen von Syrien und Irak anschauen, kann man die gut überqueren – über hunderte von Kilometern hinweg ist Wüstensteppe. Diese Antiken gehen in die Türkei oder in die Golfstaaten, Schwerpunkt Qatar, Kuweit. Da denke ich, wäre es sinnvoll, auch diese Länder daran zu erinnern, dass illegaler Erwerb von Kulturgütern nach wie vor illegal ist.
Ich glaube, dass wir zwar zurecht darüber diskutieren, dass es auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern skrupellose Menschen gibt, die sich an diesem Kulturgut gerne bereichern wollen, aber die Masse der Dinge kommt vermutlich überhaupt nicht mehr nach Europa, sondern landet möglicherweise in Sammlungen am Golf. Da gibt es genügend reiche Abnehmer, die sagen, dass es sich um allgemeinarabisches Kulturgut handelt. Sehr viel geht auch nach Ostasien. Die Japaner sind seit vielen Jahren interessiert, auch wenn ihre Begeisterung für solche Antiken etwas nachgelassen hat. Und wir sollten auch den potentiellen chinesischen Markt nicht vergessen – auch da gibt es inzwischen Leute, die Interesse an solchen Dingen und das dafür erforderliche Geld besitzen. Aber was mit den riesigen Mengen an Antiken zurzeit wirklich passiert, ist kaum nachzuvollziehen.
Prof. Dr. Stefan R. Hauser...
kam nach einem Studium in Bonn und Berlin und wissenschaftlichen Stationen – unter anderem in Washington (Dumbarton Oaks und National Gallery), New York (Columbia), beides USA, und an der Universität Halle – Anfang 2009 als Professor für Archäologie an die Universität Konstanz. Hier zeigt er den Studierenden vor allem in den Studiengängen der Geschichte und der Kulturwissenschaft der Antike den Umgang mit den vielfältigen Formen materieller Kultur als Quelle für die Rekonstruktion und Interpretation historischer Strukturen und Ereignisse. Seine Publikationsthemen reichen von dem Verhältnis von Lebenden und Toten in Assyrien (Habilitationsschrift) bis zur Luxusgüterproduktion in der Spätantike und der Archäologie des Östlichen Christentums.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Forschungsgeschichte und Wahrnehmung „des Orients“ im 19./20. Jahrhundert („Orientalismus“). Im Zentrum seiner Forschungen steht aber das Arsakidenreich, das in römischer Zeit von Syrien bis Pakistan reichte und dessen Geschichte er zurzeit monographisch aufarbeitet. Über Jahre hat Stefan R. Hauser Projekte geleitet, die sich mit der syrischen Oasenstadt Palmyra und mit dem heute irakischen Hatra und seiner Umgebung beschäftigten. Um Hatra herum entdeckte er auch unter anderem die größten nun bekannten Belagerungsanlagen der Antike.