Interview: Prof. Dr. Thomas Götz

Der Konstanzer Bildungsforscher Prof. Dr. Thomas Götz erklärt „Im Gespräch“, was er sich unter der idealen Schulform vorstellt.
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Herr Prof. Götz, Sie haben einen spannenden Auftrag: Als Inhaber der Brückenprofessur für Empirische Bildungsforschung an der Universität Konstanz und der Pädagogischen Hochschule Kreuzlingen, Schweiz, arbeiten Sie an Schulentwicklungen mit, unter anderem in Konstanz. In einem früheren Interview für die Rubrik „Im Gespräch“ haben Sie Trägheit in unserem Schulsystem beklagt. Ist das der Grund, warum Sie als Experte an Schulentwicklungen mitarbeiten?

Der primäre Grund für mein Mitwirken ist, dass politische Entscheidungen im Bereich der Schulentwicklung oft wenig evidenzbasiert getroffen werden. Viele Diskussionen sind parteipolitisch oder ideologisch geprägt, ohne Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung zu berücksichtigen. Und immer wieder geht es bei Entscheidungen im Bereich unserer Schulsysteme um strukturelle Fragen. Die Qualität an unseren Schulen ist aber primär vom ganz konkreten Unterricht in der Klasse geprägt und weniger von den großen Strukturen.

Die Art und Weise des Unterrichtens muss in die entsprechenden Strukturen passen. Wenn wir unsere Strukturen ändern, zum Beispiel Gemeinschaftsschulen einführen, dann muss sich auch der Unterricht ändern, das heißt, die Prozesse im Unterricht müssen andere werden. Im Falle der Gemeinschaftsschulen müssen Lehrkräfte beispielsweise mit der großen Heterogenität in solchen Klassen umgehen und Heterogenität sogar als Chance nutzen können. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Als Experte möchte ich Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung in die Diskussionen einbringen und davor warnen, dass sich diese nur auf Strukturqualität beziehen, ohne zugleich auch die Prozessqualität zu berücksichtigen.

 

Herr Prof. Götz, sind Sie gerne zur Schule gegangen?

Meistens schon – das Lernen und Durchdenken von Dingen hat mir immer schon Spaß gemacht. Schule ist zudem auch ein sozialer Raum, in welchem ich mich sehr wohl gefühlt habe. Aber ich habe mich auch oft in der Schule gelangweilt – das ist vielleicht auch einer der Gründe, warum ich nun die Langeweile erforsche.

 

Welche Aufgabe genau haben Sie als Experte?

Ich bringe immer wieder Fakten, das heißt, evidenzbasierte Argumente ein. Zum Beispiel wird oft behauptet, dass längeres gemeinsames Lernen per se besser wäre, beispielsweise um soziale Disparitäten zu minimieren. Das sind aber Behauptungen, die sich empirisch nicht bestätigen lassen. Oder es wird oft auf andere Länder verwiesen, zum Beispiel auf Finnland. Auch hier betone ich immer wieder, dass es nicht sinnvoll ist, aus einem anderen sehr guten Schulsystem einzelne Aspekte herauszugreifen und diese bei uns zu implementieren. Es gibt bei uns ganz andere Rahmenbedingungen, die ein solches Vorgehen als problematisch erscheinen lassen. Hier herrscht oft ein falsches Verständnis von Kausalität vor, das heißt die Meinung, wenn wir es auch so machen, dann wird auch bei uns alles besser werden.

 

 

Sehen Sie in Ihrer Aufgabe die Möglichkeit, der idealen Schule ein Stück näher zu kommen?

Ich möchte einen Beitrag leisten, diesem Ziel zumindest ein kleines Stück näher zu kommen.

 

Was waren Ihre Lieblingsfächer?

Mathematik – das war für mich immer wie ein Knobel-Spiel, und Deutsch – obwohl ich als Linkshänder immer eine schreckliche Handschrift hatte und immer noch habe. Ich musste in der Grundschule unzählige zusätzliche „Schönschreib-Blätter“ ausfüllen.

 

Wie könnte die ideale Schule aussehen?

Eine ideale Schule wäre eine Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Fähigkeiten und Interessen optimal individuell gefördert werden.

 

 

Sie betonen immer wieder, wie wichtig es ist, dass Schüler individuell gefördert werden. Kann eine Gemeinschaftsschule diesen Wunsch erfüllen?

Zumindest ist es ein Kerngedanke, in Gemeinschaftsschulen die Heterogenität als Chance zu nutzen. Ob die Gemeinschaftsschule erfolgreich sein wird, hängt von den dort realisierten pädagogischen Konzepten ab und von der Qualität des Unterrichts, in welchem Individualisierung eine zentrale Rolle spielen sollte. Nur so kann mit der stark ausgeprägten Heterogenität an diesen Schulen sinnvoll umgegangen werden und nur so kann sie als Chance genutzt werden.

Wichtig ist hierbei zu betonen, dass Individualisierung nicht bedeutet, dass Lehrkräfte auf alle einzelnen Schülerinnen und Schüler speziell eingehen – es geht vielmehr darum, Lernumgebungen an Schulen zu schaffen, in denen Wissen und Kompetenzen individuell angeeignet werden können. Ein Beispiel hierzu sind Lernmaterialien unterschiedlicher Schwierigkeit, die von Schülerinnen und Schüler in ihrem spezifischen Tempo bearbeitet werden. Die Lehrkräfte unterstützen und begleiten diesen Prozess. An manchen Schulen wird dies schon praktiziert, unter anderem am Gymnasium Wilhelmsdorf – eine unserer Partnerschulen, die wir im Rahmen ihrer Schulentwicklung begleiten.

 

Zu Ihrer Schulzeit hatten Sie nicht die große Schulauswahl. Bedauern Sie das?

Nein, letztlich waren es die einzelnen Lehrkräfte, welche meine Schulzeit geprägt haben.

 

Wie beurteilen Sie als erfahrener Wissenschaftler die Chancen und Risiken von Gemeinschaftsschulen?

Die Chancen sehe ich darin, dass die Gemeinschaftsschulen unsere Schullandschaft erweitern und bereichern und Innovationspotential im Umgang mit Heterogenität haben können. Da Individualisierung auch bei anderen Schulformen wichtig ist, können die in Gemeinschaftsschulen entwickelten und implementierten Konzepte zum Teil auch in anderen Schulen umgesetzt werden. Zudem können an Gemeinschaftsschulen verstärkt gemeinsame Lernerfahrungen von Schülerinnen und Schülern aus unterschiedlichen Milieus gemacht werden.

 

Wären Sie gerne individueller gefördert geworden?

Ja. Es gab Fächer, wie Mathematik, die für mich sehr einfach waren und in denen ich mich oft unterfordert fühlte. Und dann gab es aber auch Fächer, in welchen ich wirklich Probleme hatte, wie zum Beispiel in Chemie. Hier wäre eine individuelle Förderung hilfreich gewesen. Aber außerhalb der Schule wurde ich von meinen Eltern sehr individuell gefördert – beispielsweise durch den Klavierunterricht.

 

Aber es gibt auch viele Risiken. Lehrkräfte müssen auf diese neue Schulstruktur intensiv vorbereitet werden. Hier sollte auf keinen Fall etwas überstürzt werden. Wenn wir unsere Lehrkräfte überfordern, indem wir sie nicht ausreichend auf das Unterrichten in den Gemeinschaftsschulen vorbereiten, dann schadet das nicht nur ihnen selbst, sondern sicher auch den Schülerinnen und Schülern. Hier muss ganz klar vor einem übereilten Vorgehen gewarnt werden. Das G8 hat ja gezeigt, was es bedeutet, Schulreformen überstürzt einzuführen. Ein weiteres Problem sind die räumlichen Ressourcen. Gemeinschaftsschulen benötigen mehr Raumkapazitäten als andere Schulen, zum Beispiel um Gruppen- und Projektarbeit sinnvoll durchführen zu können. Dies muss unbedingt gewährleistet sein, bevor Gemeinschaftsschulen starten. Und die Einführung von Gemeinschaftsschulen muss intensiv evaluiert werden, so dass wir auch empirisch sagen können, welche Vor- und Nachteile sie gegenüber anderen Schulformen haben.

 

 

Müssten die Lehrerinnen und Lehrer also speziell geschult werden?

Ja, unbedingt. Alles andere wäre als verantwortungslos zu bezeichnen. Und hier genügt sicher kein Wochenendkurs. Neue Konzepte müssen eingeführt und erprobt werden. Auf keinen Fall dürfen die ersten Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschule zu Versuchskaninchen überstürzter Strukturreformen werden.

 

Wie sieht Ihre Traumschule aus?

Eine Schule, in der nicht das Lehren, sondern das Lernen der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund steht und die Lernprozesse entsprechend deren Fähigkeiten und Interessen angeregt und begleitet werden.

 

Sitzenbleiben soll in Gemeinschaftsschulen kein Thema mehr sein. Könnte dies einen Motivationsschub für manche Schüler bedeuten?

Dass es das Sitzenbleiben noch immer gibt ist unglaublich und fast schon skandalös. Wenn ein Schüler in einem Fach nicht ausreichende Leistung zeigt, muss er alle anderen Fächer ein ganzes Jahr wiederholen, in denen er eventuell gute oder sogar sehr gute Leistungen erzielt hat. Hier müssen Frühwarnsysteme eingebaut werden. Zum Beispiel sollten gefährdete Schülerinnen und Schüler rechtzeitig zusätzlich gefördert werden – durchaus auch in den Ferien. Der Individualisierungsgedanke an den Gemeinschaftsschulen könnte in der Tat verhindern, dass Schülerinnen und Schüler in einzelnen Fächern sehr schwache Leistungen zeigen.

 

 

In Gemeinschaftsschulen sollen nicht mehr die Lehrer, sondern die Eltern entscheiden, wie es nach der vierten Grundschulklasse weiter geht. Sehen Sie darin eine Chance?

Es geht hier nicht nur um die Gemeinschaftsschule. Allgemein ist die verbindliche Grundschulempfehlung in Baden Württemberg abgeschafft worden. Wohl gemerkt: Es wird weiterhin Empfehlungen geben, die aber eben nicht mehr verbindlich sind. Ich sehe darin eine große Gefahr. Sieht man sich die Bildungsaspirationen unterschiedlicher sozialer Schichten an, so wünschen sich Akademiker viel stärker einen Gymnasialbesuch ihrer Kinder als Nicht-Akademiker. Bei einer unverbindlichen Empfehlung werden voraussichtlich bei gleicher Leistung noch mehr Akademiker-Kinder und noch weniger Nicht-Akademiker-Kinder aufs Gymnasium gehen. Das heißt, es werden beispielsweise bei einer Empfehlung, eher nicht aufs Gymnasium zu gehen, Akademiker voraussichtlich häufiger ihre Kinder dennoch auf Gymnasium schicken als Nicht-Akademiker. Ich denke, die Schere wird sich in diesem Bereich noch weiter öffnen, das heißt, die soziale Ungerechtigkeit wird in diesem Feld meines Erachtens durch die Einführung der unverbindlichen Grundschulempfehlung zunehmen.

 

Muss diese Traumschule eine Illusion bleiben?

Wenn wir keine Soll-Vorstellungen haben, dann können wir die Ist-Soll-Differenz nicht reduzieren. Anders ausgedrückt: Wenn wir keine Träume hätten, könnten diese auch niemals Wirklichkeit werden.

 

Von den Schülern wird in einer Gemeinschaftsschule mehr Selbständigkeit verlangt. Sie melden sich beispielsweise selbst zum Kompetenz-Test an. Besteht die Gefahr, dass manche Schüler nie das Lernziel erreichen?

Ein Prinzip an Gemeinschaftsschulen ist, dass es unterschiedliche Lernziele gibt. Und darin ist unter anderem die Stärke dieser Schulart zu sehen.

 

 

Immer wieder gibt es Klagen, die heutigen Schulabsolventen seien ungenügend gebildet. Könnte die Gemeinschaftsschule dieses Problem lösen?

Ich denke, man sollte die einzelnen Schularten nicht gegeneinander ausspielen. Die Gemeinschaftsschule ist eine Schulform, welche die jetzige Schullandschaft erweitern und hoffentlich auch bereichern wird. Die Gymnasien in Deutschland sind zum Beispiel sehr gute Schulen – die Geschichte des Gymnasiums in Deutschland ist durchaus als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen. Es gibt auch sehr gute Haupt- und Realschulen – das haben zum Beispiel die PISA-Studien gezeigt. Die Gemeinschaftsschule hat einen Schwerpunkt im Bereich individualisierten Unterrichtens, ist aber damit nicht per se als überlegene Schulart zu bezeichnen – sie sollte auch gar nicht dieses Ziel haben. Und selbstverständlich ist Individualisierung an allen Schulen ein zentrales Thema, aber eben für Gemeinschaftsschulen eine besondere Herausforderung durch die dort vorherrschende große Heterogenität.

 

Lexikon

Die Gemeinschaftsschule gilt als Alternative zu einem mehrgliedrigen Schulsystem, bei welcher die Schülerinnen und Schüler der ersten bis zehnten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet werden. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Schularten ist hierbei flexibel - bis hin zu deren vollständigen Zusammenführung. Dem Modell liegt die Überlegung zugrunde, Heterogenität im Klassenzimmer als Chance zu begreifen. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass bei der Einführung von Gemeinschaftsschulen nicht nur die strukturellen Veränderungen eine Rolle spielen, sondern in diesen neuen Strukturen spezifische Lehr-Lern-Prozesse eine herausragende Stellung einnehmen. Formen individualisierten Unterrichts kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Schulstruktur und Lernstruktur sind zwei Seiten einer Medaille.

 

Noch eine abschließende Frage zum achtjährigen Gymnasium, dem G8. Was sagen Sie dazu aus wissenschaftlicher Sicht?

Das ist letztlich keine Frage an die Wissenschaft. Es geht darum, welches Ausmaß an Grundbildung wir an Gymnasien in unserer Gesellschaft haben möchten. G8 führt zu einer früheren Spezialisierung auf Kosten der Allgemeinbildung.

Prof. Dr. Thomas Götz...

hat seit 2007 eine so genannte Brückenprofessur für Empirische Bildungsforschung an der Universität Konstanz und an der Pädagogischen Hochschule Thurgau (PHTG) im benachbarten Schweizer Kreuzlingen inne. An beiden Einrichtungen ist er in der studentischen Ausbildung für das gymnasiale Lehramt zuständig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Antezedenzien von Emotionen im Lern- und Leistungskontext, Domänenspezifität emotionalen Erlebens, Langeweile im Unterricht, Förderung selbstregulierten Lernens in der Sekundarstufe und Unterrichtsqualität. Vor seiner Zeit in Konstanz hatte er Vertretungsprofessuren an der Universität Erfurt und an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg. Thomas Götz wurde an der Ludwig-Maximilians-Universität in München im Fach Psychologie promoviert und hat sich dort auch über Pädagogische Psychologie habilitiert. Vor seinem Abschluss als Diplom-Psychologe an der Universität Regensburg war er bereits Diplom-Musiklehrer mit dem Hauptfach Orgel.

Dr. Maria Schorpp

Von Dr. Maria Schorpp - 06.11.2015