„Nicht zur Tagesordnung übergehen“
Herr Seibel, in Ihrem Buch „Verwaltungsdesaster“ arbeiten Sie minutiös die gravierenden Fehlentscheidungen der Duisburger Stadtverwaltung auf, die 2010 zu dem katastrophalen Loveparade-Unglück führten. Das juristische Verfahren dieses Falls soll nun eingestellt werden. Endet der Fall ohne Konsequenzen?
Prof. Dr. Wolfgang Seibel: Wir dürfen nun nicht zur Tagesordnung übergehen und sagen: Das Gericht hat ja festgestellt, da war nichts. Die strafrechtliche Aufarbeitung ist die eine Seite. Auf der anderen Seite steht die Aufklärung des schwerwiegenden Versagens der Verwaltungsbehörde in der Stadtverwaltung Duisburg, die eine Großveranstaltung genehmigte, von der die eigenen Mitarbeiter in der Genehmigungsbehörde gesagt haben: Sie ist eigentlich gar nicht genehmigungsfähig. Umso wichtiger ist in der jetzigen Situation, dass endlich eine amtliche Aufarbeitung entweder durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss oder eine Regierungskommission in Gang gesetzt wird – so wie das ja in anderen Fällen von schwerwiegendem Verwaltungsversagen geschehen ist, zum Beispiel im Fall Amri oder bei den NSU-Morden. Dass in Duisburg eine solche Aufarbeitung des Behördenversagens gar nicht stattgefunden hat, obwohl 21 Menschen gestorben sind, ist für mich der Skandal im Skandal.
„Die Entscheidungen, die zur Genehmigung der Loveparade führten, waren nicht auf Stümperei, Dilettantismus oder sonstiges Unvermögen der Beteiligten zurückzuführen, sondern auf planvolles Kalkül leitender Beamter der Duisburger Stadtverwaltung, die sich über die Bedenken der Mitarbeiter der zuständigen Genehmigungsbehörde und der Polizei hinwegsetzten und die gesetzlichen Sicherheitsbestimmungen gezielt umgingen.“
Aus: Wolfgang Seibel et. al.: Verwaltungsdesaster. Von der Loveparade bis zu den NSU-Ermittlungen, S. 82.
In Ihrem Buch zeigen Sie, dass politischer Druck auf die Verwaltung eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Die Politisierung von Fachentscheidungen ist ein generelles Risiko der öffentlichen Verwaltung. Das ist nichts Neues und erfahrene Verwaltungsbeschäftigte wissen in der Regel damit umzugehen. Die prestigeträchtige Loveparade sollte in Duisburg auf Biegen und Brechen durchgeführt werden. In einer solchen Situation, wenn politisch Druck gemacht wird, kommt es darauf an, dass die unmittelbar Verantwortlichen in der Verwaltung diesem Druck standhalten und sagen: „Das ist alles schön und gut, aber wir haben unsere Vorschriften, und die sind nicht nur reine Bürokratie, sondern hier geht es um den Schutz von Leib und Leben.“ Daran hat es in Duisburg gefehlt.
Sie sehen nun den Staat in der Pflicht, die Ursachen aufzuklären?
Der Staat ist nach dem Grundgesetz verantwortlich für den Schutz von Leib und Leben. Wenn Behördenversagen dazu beiträgt, dass 21 Menschen sterben, ist der Staat erst recht dafür verantwortlich, die Ursachen aufzuklären. Das muss ganz unabhängig von möglichen strafrechtlichen Konsequenzen geschehen. Also besteht diese Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Hergangs und der Ursachen des fatalen Behördenversagens in der Stadt Duisburg erst recht, wenn nun die strafrechtliche Prüfung abgeschlossen ist. Das ist zum einen eine Frage der politischen Ethik im Hinblick auf die Pflicht und Schuldigkeit gegenüber den Hinterbliebenen der 21 Toten. Zum anderen ist rigorose Ursachenanalyse aber erneut die unabdingbare Pflicht des Staates beim Schutz von Leib und Leben, so wie wir das aus anderen Bereichen physischer Sicherheit auch kennen, etwa bei Unfällen im Flugverkehr.
Die Aufarbeitung ist folglich nicht allein eine strafrechtliche Frage, sondern vor allem auch eine Frage der Verantwortung.
Man muss aus Fehlern lernen, und wer die Fehler erst gar nicht suchen will, handelt eben neuerlich verantwortungslos. Das ist auch ganz konkret der Lackmustest für das Verantwortungsbewusstsein der Landtagsabgeordneten in Nordrhein-Westfalen und der Landesregierung in Düsseldorf. In Duisburg sind am 24. Juli 2010 durch schwerwiegende Fehler der Behörden 21 junge Menschen gestorben. Das sind mehr als doppelt so viele wie die Mordopfer des NSU – und das Behördenversagen beim Untertauchen des NSU und den Ermittlungen in der nachfolgenden Mordserie war inzwischen Gegenstand von einem Dutzend Untersuchungsausschüssen; ähnlich beim Behördenversagen im Fall Amri und den zwölf Opfern des Massakers vom Berliner Breitscheidplatz. In Duisburg hat die Politisierung einer Fachentscheidung zur Genehmigung einer nicht genehmigungsfähigen Großveranstaltung geführt. Die Verantwortlichen in Nordrhein-Westfalen dürfen nun nicht denselben Fehler ein zweites Mal begehen und die Aufklärung der einzelnen Ursachen des Desasters von politischen Opportunitäten abhängig machen.
Prof. Dr. Wolfgang Seibel ist Professor für Innenpolitik und öffentliche Verwaltung an der Universität Konstanz. Im Rahmen seines Projekts „Schwarze Schwäne in der Verwaltung: Seltenes Organisationsversagen mit schwerwiegenden Folgen“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Reinhart Koselleck-Programms gefördert wird, erforscht er die Ursachen gravierenden Verwaltungsversagens.