Nichts als Leere
Es beginnt mit einem Interesse für Zeitlichkeit. Kalender aus dem 17. Jahrhundert weckten die Neugier des Frühneuzeithistorikers Achim Landwehr. Als billige Massenmedien wurden sie damals millionenfach verkauft. Jeder Haushalt hatte so einen Kalender, der jedoch ganz anders aussah als heute: Vollgestopft mit Informationen sagten Kalender für ein Jahr voraus, was passieren würde – bezüglich Wetter oder Planetenkonstellationen beispielsweise – und gaben Tipps, wann man Haare schneiden oder die Ernte einfahren sollte. Überrascht stellt Landwehr fest: In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts leeren sich diese Kalender, außer dem Datum enthalten sie zuletzt nichts mehr. Weshalb?
„Mein Verdacht war“, führt der Wissenschaftler aus, „dass hinter dieser banalen medialen Entwicklung mehr steckt. Dass sich darin eine andere Einstellung zur Zeit zeigt, ein anderer Umgang mit Zeit und, wenn man so will, ein anderer Umgang mit Welt. Wenn nicht mehr die Vorstellung herrscht, dass alles schon im göttlichen Schöpfungsplan steht, ist Zeit auf einmal nicht mehr vorherbestimmbar. Damit kann sie aber zu einer bewirtschaftbaren Größe werden. Diese leeren Kalender fordern dazu auf: Befülle mich.“
Schreib-Calender/ Auf ein besondere Form und Weiß/ allen Obrigkeiten/ Kauff- und Handels-Leuthen/auch männiglich zum täglichen Nutz also eingericht Auf das Jahr nach der Geburt JESU Christi MDCCXVII. Samt einer kurtzen Practica/ darneben auch die fürnehmste Messen/ und allen Jahr-Märckten im Fürstenthum Ober- und Nidern-Bayrn, München 1716
Ein allgegenwärtiges Phänomen
Das Faszinierende an zeitlichen Leerstellen: Sie betreffen jeden einzelnen wie auch die gesamte Gesellschaft, jede Epoche, das Lokale und das Universum. Menschen wissen über den allergrößten Teil der Zeit, mit der sie zu tun haben, noch nichts oder nichts mehr.
„Obwohl wir keinen Zugriff auf diese abwesenden Zeiten haben, existieren wir nicht nur im Hier und Jetzt, sondern wir existieren und arbeiten mit diesen Vergangenheiten und Zukünften. Wir arbeiten also permanent mit Leerstellen, sind ständig dabei, diese Kalenderseiten wieder zu füllen. Dabei wissen wir aber, dass einige dieser Seiten permanent leer bleiben werden. Vergangenes lässt sich nicht eins zu eins rekonstruieren. Und bei allen modernen Prognosemöglichkeiten sind uns deren Grenzen bewusst.“
Achim Landwehr, Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Konstanz
Ob in Politik, Wissenschaft, Technik oder Wirtschaft, je mehr Landwehr nach Leerstellen-Phänomenen sucht, umso mehr wird er fündig. Das berühmte Fass ohne Boden. Weil er keine Universalgeschichte schreiben will, konzentriert er sich auf Beispiele in der Frühen Neuzeit, also dem 16. bis 18. Jahrhundert. Besonders interessiert ihn dabei, welche Rolle Leerstellen in neuzeitlichen, modernen Gesellschaften spielen – in einer Phase der Weltgeschichte, die von europäisch-westlichen Kulturen immer mehr dominiert wird.
Etwa zeitgleich mit den sich leerenden Kalendern kommt die Diskussion über das Vakuum auf. Zuvor in der europäischen Diskussion quasi ausgeschlossen, wurde es laut Landwehr plötzlich denkmöglich, dass es so etwas wie einen leeren Raum gebe. Innerhalb von zwanzig Jahren, in den 1640er bis 60er Jahren, treten europaweit mehrere Forschende – Otto von Guericke beispielsweise in Magdeburg oder Blaise Pascal in Paris – auf, die diesen leeren Raum mittels Experimenten nachweisen. „Und das hat massive Auswirkungen“, erläutert der Historiker. „Denn plötzlich stimmt all das, was man über 2000 Jahre abendländischer Tradition für richtig und wahr befunden hat, nicht mehr. Die aristotelische Tradition, die der Natur eine Abscheu vor Leere zuschrieb, und nach ihr das Christentum. Das löst einerseits eine Krise aus, andererseits offenbart es neue Möglichkeiten, was man mit dieser Leere anfangen kann.“
Wie entstehen Leerstellen?
Rufen wir die letzten 24 Stunden ab, wie gut gelingt uns das? Wie viel schwieriger wird die Sache, wenn es um die letzten 10, 100, 500 Jahre geht? Bei Zeiten, die uns nicht mehr unmittelbar zur Verfügung stehen, sind Leerstellen laut Landwehr der Normalfall. Vergessen, Verlust, Überlieferungslücken unvermeidbar. „Was uns übrig bleibt, ist nicht etwa die Spitze des Eisbergs, sondern eher eine kleine Schneekuppe auf der Spitze des Eisbergs“, so stellt der Historiker es dar.
Es gibt jedoch auch bewusst hergestellte Leerstellen, gerade wenn es um Vergangenheitsbilder und Geschichtserzählungen geht.
„Wie lange war es in Deutschland möglich, zwölf Jahre Nationalsozialismus in der Unternehmensgeschichte mit einem Halbsatz zu übergehen? Diese Art und Weise, Erinnerungslücken zu produzieren, ist ein altbekanntes und immer wieder auftauchendes Phänomen.“
Achim Landwehr
Auch in der frühen Moderne wurden Leerstellen gezielt hergestellt, beispielsweise als europäische Kolonialmächte auf die einheimischen Völker trafen. Letzteren wurde regelmäßig abgesprochen, eine eigene Geschichte zu haben. Dies wiederum diente, so der Historiker, nicht nur dem Zweck, die eigene Überlegenheit gegenüber den Indigenen zu postulieren, sondern auch, ihnen den Rechtstitel auf das Land, auf dem sie lebten, abzusprechen. Eine Strategie, die im 19. Jahrhundert in Afrika noch viel weitergetrieben worden sei.
Labor der Moderne
Das 17. Jahrhundert findet Landwehr deshalb besonders interessant, weil ganz viele der Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten, die unser modernes Leben auszeichnen, sich in der damaligen Zeit wie in einer Laborsituation beobachten lassen. Ein Beispiel: Mit der kleinen Eiszeit war auch das 17. Jahrhundert mit einer Klimakrise konfrontiert, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen.
Zwischen 1570 und 1720 sank die Temperatur europaweit durchschnittlich um etwa 1,5 Grad. Aufgrund einer Veränderung der Sonnenflecken verringerte sich die Intensität der Sonneneinstrahlung. Mehrfache Ernteausfälle führten zu Hungerkatastrophen. Menschen fürchteten den Weltuntergang. Auf der Suche nach Schuldigen kam es zu Hexenverfolgungen, deren Höhepunkt genau parallel zu der kleinen Eiszeit liegen.
Die Menschen bemerkten die klimatische Abkühlung und fragten sich: Was passiert hier gerade? Was bedeutet das für uns? Fragen nach der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit des eigenen Tuns werden laut. Und die Frage nach der Zukunft. „Die Antworten angesichts der kleinen Eiszeit fielen gänzlich anders aus als auf die Klimakrise heute“, erklärt Landwehr, „weil sie auf religiöser Ebene gesucht wurden. Sie lauteten in etwa: ‚Gott will uns strafen mit dem, was da passiert, weil wir irgendetwas falsch gemacht haben. Also müssen wir versuchen, das System wieder in Ordnung zu bringen.‘“
Die kleine Eiszeit bescherte den Niederlanden Schnee und Eis wie die Kunst bis heute bezeugt.
Die größte Leerstelle des 17. Jahrhunderts
Die durch die kleine Eiszeit ausgelöste Unsicherheit der Menschen leitete einen Vorgang ein, den man sich laut Landwehr als extrem fundamental vorstellen müsse:
„Das ist wohl die größte Leerstelle, die in dieser Zeit produziert wurde: Dass ein über gut anderthalb Jahrtausende unwidersprochen gültiges Weltmodell, nämlich das christlich geprägte religiöse Weltmodell, allmählich zu bröckeln beginnt.“
Achim Landwehr
Erste explizit atheistische Diskussionen seien ab dem späten 17. Jahrhundert geführt worden. Die Idee, dass es Gott einfach nicht geben könnte, sei so unerhört und radikal gewesen, dass sie welterschütternd gewirkt habe. Gleichzeitig traten andere welterklärende, naturwissenschaftliche Modelle auf.
Die Parallelen zwischen dem 17. Jahrhundert und der Gegenwart sieht der Historiker daher nicht in der Frage nach Verantwortung, sondern in der Psychologie einer Situation, in der vermeintlich verlässliche Grundlagen „flöten gehen“. Wie heute der Glaube an Fortschritt, an grenzenloses Wachstum und an eine Zukunft mit offenen Möglichkeiten. „Die Problemkonstellation ist beide Male eine, in der bisherige Antworten nicht mehr funktionieren und man deshalb neue Antworten und Methoden suchen muss. Nur wie, das wusste und weiß man noch nicht so genau“, so Landwehr.
© Poul la Cour & Jacob Appel, Public domain, via Wikimedia Commons / https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Magdeburg_hemispheres.jpgDie Magdeburger Halbkugeln gehörten zu den naturwissenschaftlichen Experimenten Otto von Guerickes. Guericke belegte – wie schon Torricelli und Pascal kurz vor ihm – die Existenz des Vakuums.
Abschied vom Fortschrittsmodell
„Anders als damals ist heute diese Sinnkrise nicht mehr eindeutig zu beantworten“, meint der Historiker. „Wie sich in der aktuellen Polykrise überhaupt noch sinnhaft von der Existenz des Menschen auf diesem Planeten erzählen lässt, dafür gibt es keine selbstverständliche Antwort mehr.“ Auch das bezeichnet Landwehr als eine Leerstelle, eine kulturelle und auch eine historische Leerstelle: Denn auch in den Geschichtswissenschaften werde noch nach einem Wachstums- und Fortschrittsmodell erzählt, das chronologisch abläuft. Wenn man die Chronologie richtig hinbekomme – so die Idee dahinter – werde die Geschichte auf diese Weise auch weitergehen.
Und hier hakt der Historiker ein: „Doch das haut heute nicht mehr hin. Damit geht es nicht mehr nur um Leere als Thema, sondern auch um Leere als Unvermögen, wie man in dieser Situation noch historische Sinnangebote macht, das menschliche Erdzeitalter weiterzuerzählen. Ich habe dazu auch noch keine Antwort. Aber genau darum geht es ja in Wissenschaft: sich mit Fragen auseinanderzusetzen, deren Antwort man noch nicht kennt.“