Toleranz schulen

Was, wenn der Schulbesuch zum Spießrutenlauf wird? Wenn niemand mit einem zusammenarbeiten will? Wenn man in den Pausen alleine bleibt? Jeanine Grütter, Hochschuldozentin an der Universität Konstanz für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Inklusion, erforscht, welche sozialen Dynamiken sich in den Klassenzimmern heute abspielen. Insbesondere untersucht sie Diskriminierung und Vorurteile in Schulklassen. Ein Gespräch
© Unsplash, Taylor Flowe

Der erste Teil des Interviews war der Frage auf der Spur, wie es zu Diskriminierung an Schulen kommt. Im zweiten Teil erklärt Jeanine Grütter, was Schulen und Lehrkräfte konkret gegen Diskriminierung tun können.

Laut einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung verlassen Zehntausende von Jugendlichen in Deutschland die Schule ohne Abschluss. 2021 waren es 47.500 junge Menschen. Könnte ein inklusiveres, offeneres Schul-Milieu diese Kinder besser auffangen?

Jeanine Grütter: Auf jeden Fall. Die Pisa-Daten zeigen, dass das Zugehörigkeitsgefühl zur Schule seit 2003 stark abgenommen hat, vor allem bei Jugendlichen, aber auch schon im jüngeren Alter. Wer Schule nicht als etwas Sinnvolles erlebt, ist oft nicht mehr bereit zu lernen, etwas zu investieren. Genau da halte ich es für sehr wichtig, inklusivere Schulen zu gestalten, die die Kinder so akzeptieren, wie sie sind, und auf die Interessen der SchülerInnen und ihre Stärken eingehen.

Wo liegen heute die Herausforderungen, wenn wir die Zusammensetzung der Schulklassen betrachten?

Die Diversität, Vielfalt in den Schulklassen hat unter anderem infolge wachsender Migration zugenommen. Dazu kamen Änderungen im Schulgesetz, zum Beispiel, dass Kinder mit besonderem Bildungsbedarf in der Regelschule beschult werden. Das sind Kinder, die aufgrund von Behinderung, Lernstörungen oder sozio-emotionalen Entwicklungsverzögerungen zusätzliche Unterstützung brauchen, um am Unterricht teilnehmen zu können. Die Corona-Pandemie hat Schulen zusätzlich belastet, weil sozio-emotionale Probleme bei Kindern und Jugendlichen stark zugenommen haben.

Trotz Bemühungen für eine inklusivere Schule haben wir leider immer noch ein stark segregiertes Schulsystem. Abhängig vom Wohngebiet gibt es zum Beispiel Schulen, die über 70% Kinder mit Migrationshintergrund oder aus sozial benachteiligten Verhältnissen unterrichten. Das heißt, leider findet nicht so viel Durchmischung statt, wie man sich das wünschen würde. Auch in Punkto Chancengleichheit hat sich leider in den letzten Jahren nicht viel getan.

Führt mehr Diversität auch dazu, dass mehr Kinder ausgegrenzt, diskriminiert werden?

Mehrere Studien haben untersucht, wie sich Diversität auf das soziale Gefüge in Schulklassen auswirkt, mit unterschiedlichen Befunden. Die einen sagen, je unterschiedlicher die Klasse sei, desto mehr Diskriminierung gebe es, vor allem vonseiten der Kinder, die der sozialen Mehrheit angehören. Andere Studien stellen fest: Je diverser die Schule ist, umso stärker werden Vorurteile abgebaut und umso toleranter werden die Kinder und Jugendlichen. Unsere eigenen Studien zeigen, dass es stark von den Schulen selbst abhängt, ob Diversität positive Erfahrungen bei den SchülerInnen ermöglicht. Es geht vor allem darum, wie dort mit Unterschiedlichkeit umgegangen wird.

Wie äußert sich die Diskriminierung an Schulen?

Wenn ein Kind aufgrund von seiner Zugehörigkeit benachteiligt wird oder negative Erfahrungen macht. Dies kann auf sprachlicher Ebene geschehen, dass ein Kind beschimpft wird oder Gerüchte verbreitet werden. Diskriminierung kann aber auch aggressives, gewaltsames Verhalten beinhalten. Hintergrund ist ähnlich wie bei Mobbing oft ein Machtungleichgewicht im Klassengefüge. Im Durchschnitt werden pro Klasse etwa ein bis zwei Kinder ausgeschlossen oder leiden unter Mobbing.

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Mobbing und Diskriminierung
„Mobbing und Diskriminierung beschreiben beide negative soziale Erfahrungen. In unseren Studien unterscheiden wir, ob jemand aufgrund einer persönlichen Eigenschaft gemobbt wird. Wenn jemand aufgrund einer sozialen Kategorie systematisch benachteiligt oder angegriffen wird, sprechen wir von Diskriminierung.“ (Grütter)

Aufgrund von welchen Merkmalen werden KlassenkameradInnen diskriminiert?

Solche sozialen Merkmale können die Herkunft sein, eine Behinderung oder auch die sexuelle Identität. Alle möglichen sozialen Merkmale, aufgrund deren jemand als unterschiedlich wahrgenommen wird. Wenn ein Kind aufgrund eines solchen Merkmals negative Erfahrungen macht oder benachteiligt wird, erlebt es dies häufig als unkontrollierbar, weil es seine soziale Zugehörigkeit beispielsweise nicht ändern kann. Daher fühlt es sich dem häufig ausgeliefert.

Was bedeutet das für die betroffenen Kinder?

Die Kinder sind meistens eingeschränkt in ihren schulischen Leistungen, weil sie vor allem ihre Aufmerksamkeit darauf lenken: „Was machen jetzt gerade die anderen? Werde ich gleich wieder Zielscheibe?“ Sprich, sie konzentrieren sich weniger auf den Stoff und sind auch weniger bereit, sich am Unterricht zu beteiligen.

Kinder und Jugendliche, die Diskriminierung erleben, nehmen die Schule nicht mehr als sicheres Umfeld wahr und fühlen sich häufig auch nicht mehr zu der Schule zugehörig. Mitunter suchen sie sich andere Quellen, wo sie sich als eine positive Person wahrnehmen können. Und durch die negativen Erfahrungen mit Gleichaltrigen kann der Selbstwert sehr stark beeinträchtigt werden, sodass sie später ein höheres Risiko für psychische Störungen haben.

Das Lernen von sozialen Kategorien
„Soziale Kategorien werden früh gelernt, abhängig von der jeweiligen Kategorie. Babys können zum Beispiel schon mit sechs bis acht Monaten Personen nach Hautfarben unterscheiden. Herkunft oder Migrationshintergrund stellt eine etwas komplexere soziale Kategorie dar, das Verständnis hierfür beginnt in der späteren Kindheit. An sich sind diese Kategorisierungen nichts Schlechtes und helfen uns, die komplexe Welt zu vereinfachen. Wenn Kinder diese Kategorien jedoch mit negativen Bedeutungen versehen, können sie ausschließendes Verhalten zur Folge haben. Solche negativen Bedeutungen wiederum lernen die Kinder durch das Umfeld. So entstehen Stereotype und Vorurteile. An Schulen lernen Kinder übrigens sehr früh, ihre Klasse anhand von Leistung zu kategorisieren. Ein Kind hat mal bei einem Interview zu Unterschieden in der Schule gesagt: „Es gibt die Starken und es gibt die Schwachen.“ Daraus resultieren häufig Machtverhältnisse in der Klasse und das ist es, was die Kinder am meisten stört.“ (Grütter)

Inwieweit denken Kinder darüber nach, wie fair oder unfair ihr eigenes Verhalten ist?

Kinder reagieren schon sehr früh auf die unfaire Behandlung von Mitmenschen, wie zum Beispiel bei sozialem Ausschluss, und haben ein sehr großes Bedürfnis, fair zu sein. Eine Kollegin führte zum Beispiel eine spannende Studie unter Achtjährigen durch: In Geschichten wurden Kinder aus ärmeren und wohlhabenderen Schulen beschrieben. Die StudienteilnehmerInnen durften Gutscheine für die Teilnahme an Sommer-Camps verteilen. Sie gaben den ärmeren Kindern mehr Gutscheine, weil die ohnehin schon benachteiligt seien und diese bräuchten, damit sie dort lernen und Spaß haben können. In solchen Aussagen erkennt man einen großen Wunsch nach Gerechtigkeit.

In der Jugend steigt das Bedürfnis nach Gerechtigkeit noch stärker, gleichzeitig wächst aber auch der Gruppendruck. Da finden dann häufig Abwägungsprozesse statt, beispielsweise, wenn Jugendliche jemanden ausschließen: „Was ist mir jetzt gerade wichtiger? Ich will eigentlich nicht, dass jemand ausgeschlossen wird. Aber wenn ich jetzt mit der Person, die die anderen uncool finden, abhänge, dann finden die anderen mich doof und ich werde selber zum Opfer.“ Ähnliche Aussagen hörten wir sehr oft in unseren Studien.

Den ausgeschlossenen Kindern würde es vermutlich sehr helfen, wenn jemand aus der Gruppe dieses Risiko einginge...

Ja, denn positive Kontakte zwischen Kindern, die verschieden sind, sind eigentlich das beste Mittel gegen Diskriminierung. Entstehen dadurch Freundschaften, lernen Kinder und Jugendliche Toleranz. Sie sehen plötzlich Ähnlichkeiten mit ihren FreundInnen und stehen für diese ein. Möglicherweise übertragen sie ihre tolerante Haltung auch auf andere Menschen, welche der gleichen sozialen Gruppe angehören. Zum Beispiel konnten wir in unseren Studien zeigen, dass Kinder ohne Lernschwierigkeiten generell stärkere Absichten entwickelten, Kinder mit Lernschwierigkeiten einzuschließen, wenn sie mindestens mit einem Kind befreundet waren, das zusätzliche Unterstützung beim Lernen in der Schule brauchte.

Aber solche Freundschaften kann man nicht erzwingen. Allenfalls kann man die Kinder zu Offenheit ermutigen, solche Freundschaften einzugehen, und Gelegenheiten schaffen für positive Kontakte, aus denen Freundschaften resultieren können. Hier hat auch die Schule eine große Verantwortung, solche Kontaktmöglichkeiten zu schaffen.

Marion Voigtmann

Von Marion Voigtmann - 09.05.2023