Toleranz schulen – Teil 2: Von Willkommenskultur, Rollenmodellen und Beziehungsmanagement
In diesem zweiten Teil des Interviews erklärt Jeanine Grütter, was Schulen und Lehrkräfte konkret gegen Diskriminierung tun können. Der erste Teil des Interviews war der Frage auf der Spur, wie es zu Diskriminierung an Schulen kommt.
Was kann die Schule, was können die Lehrkräfte tun, um ein tolerantes Umfeld zu schaffen?
Jeanine Grütter: Beginnen wir mit der Schule: Es braucht eine Willkommenskultur an der Schule, Anlaufstellen für die Kinder und Jugendlichen bei persönlichen Fragen oder Schwierigkeiten, ein Lehrerteam, das wirklich zusammen einsteht für eine gute Schulkultur. Dies alles ist absolut wichtig, um ein tolerantes Umfeld zu bereiten.
Die Lehrkraft kann ein Rollenmodell für die Kinder sein. In unseren Studien haben wir mehrfach gezeigt, dass die Kinder auch eher diverse Freundschaften eingehen, wenn die Lehrkraft Diversität positiv gegenübersteht. Auch, wie die Lehrperson selbst mit den Kindern umgeht, wirkt als Rollenmodell für die Kinder. Denn die Kinder nehmen sie als Referenz dafür, wie sie ihre eigenen Beziehungen auswählen und gestalten.
© Daniel Müller, illumueller.ch. Die Illustrationen sind dem Kinderbuch „Die Buschbanditen – Gefahr für Herrn Tännle“ entnommen. Dieses dient als Grundlage des Freundschaftsprojekts, das Jeanine Grütter an Schulen durchführt.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Jeanine Grütter: Ein Kind leidet unter ADHS, zeigt also hyperaktives Verhalten. Wenn nun die Lehrkraft dieses Kind immer wieder tadelt und das negativ auffällt, nehmen andere Kinder dieses Verhalten möglicherweise als Referenz, bewerten das Kind selbst negativ und schließen es eher aus. Das schwächt den Ruf und die soziale Position des Kindes, was Längsschnitt-Studien gezeigt haben. Anders in Klassen, in denen sich die Lehrkraft allen SchülerInnen gegenüber gleich positiv verhält: Hier existieren viel weniger soziale Hierarchien, mehr diverse Freundschaften und eine bessere Zusammenarbeit.
Welche Rolle spielt die Lehrkraft, wenn es zu Diskriminierung in einer Klasse kommt?
© Daniel Müller
Jeanine Grütter: Dann ist es umso wichtiger, wie die LehrerInnen reagieren. Wenn die Lehrkraft eingreift, signalisiert sie dem ausgeschlossenen Kind, dass es sich auf sie verlassen kann, und es erlebt die Schule als sicheres Umfeld. Die negativ agierenden Kinder merken, dass sie mit ihrem Verhalten nicht durchkommen. Am wichtigsten aber sind die Kinder, die nicht direkt Teil der Handlungen sind, sondern nur beobachten, die sogenannten Bystander. Diese sehen: „An dieser Schule werden Kinder nicht ausgeschlossen und, wenn es passiert, dann tritt jemand für sie ein. Also mache ich das auch.“ Eine solche Motivierung der Bystander ist eigentlich das effektivste Mittel, damit Mobbing, Ausschluss oder Diskriminierung gar nicht erst stattfinden.
Immer noch begegne ich jedoch leider manchmal der Haltung: „Das geht mich als Lehrperson wenig an, das ist nicht meine Verantwortung“. Aber es liegt sehr wohl in deren Verantwortung, ob sich die Kinder in der Schule wohlfühlen, sich zugehörig fühlen.
Wird diese Art von Beziehungs-Management im Lehramtsstudium vermittelt?
Jeanine Grütter: Das ist eine meiner Zuständigkeiten in der Lehrerausbildung hier an der Universität. In praxisnahen Seminaren können Studierende analysieren: Wie ist ihre eigene Haltung? Sind ihre Bewertungen der SchülerInnen vielleicht voreingenommen? Haben sie sich potenziell diskriminierend verhalten? In zwei meiner Seminare üben wir diese Art von Selbstreflexion und überlegen Möglichkeiten, wie die Studierenden Vorurteilen und verzerrter Wahrnehmung vorbeugen können.
Für bereits erfahrene Lehrkräfte habe ich mit KollegInnen an der Schweizerischen PH Luzern das Weiterbildungsprogramm „Positive Beziehungen fördern in heterogenen Schulklassen“ konzipiert. Da schauen wir uns verschiedene Strategien an, um das Klassenklima positiv zu gestalten, unter anderem wie Kinder miteinander in Kontakt gebracht werden können, die sich sonst nicht kennenlernen würden.
Außerdem haben wir ein Programm zur Förderung von Freundschaften an Schulen entwickelt, das Freundschaftsprojekt, welches wir in der Form eines Lehrmittels den Lehrpersonen zugänglich machen.
Was können Lehrkräfte konkret tun, um soziale Dynamiken positiv zu beeinflussen?
Jeanine Grütter: Da gibt es viele Möglichkeiten. Der erste Schritt ist zu erkennen, was in der Klasse abläuft. Um dies zu verstehen, zeichnen wir jeweils soziale Netzwerke von einer Klasse und schauen dann, welche soziale Stellung die Kinder haben und wie man diese verändern könnte: zum Beispiel über strategisch geplante Gruppenspiele, Gruppendiskussionen, aber auch Sitzplatzanordnungen oder sonstige Lerngruppeneinteilungen. So kann man bewusst viele Begegnungsräume für die Kinder schaffen und sie zu Offenheit bei Gruppenbildung ermuntern.
Für die Gruppendiskussionen eigenen sich Geschichten von Kindern, die divers sind, sehr gut. Anhand solcher Geschichten kann die Gruppe diskutieren: War es fair oder unfair, wie sich die Charaktere verhalten haben, wenn zum Beispiel ein Kind ausgeschlossen wurde, weil es langsam lernt? Was könnten sie sich dabei gedacht haben? Wie fühlen sich die Beteiligten? Die Idee ist, dass die Kinder all diese Gedankengänge nachvollziehen und so ihr Bewusstsein für ihre eigenen Haltungen und Verhaltensweisen schärfen und eigene Strategien überlegen. Wichtig ist dabei, dass die Lehrperson sich in der Diskussion zurücknimmt und nur nachfragt, um der Diskussion mehr Tiefe zu geben.
Eine geeignete Geschichte haben Sie selbst geschrieben.
Jeanine Grütter: Wir haben zusammen mit Kindern und Jugendlichen ein Kinderbuch „Die Buschbanditen – Gefahr für Herrn Tännle“ erarbeitet, das als Grundlage unseres „Freundschaftsprojekts“ dient. In der Geschichte geht es um einen Jungen mit Lernschwierigkeiten, der in eine neue Schule kommt. Die anderen Kinder begegnen ihm zunächst sehr skeptisch, wollen ihn nicht integrieren. Schließlich nehmen die Buschbanditen, die beliebtesten Kinder der Schule und spezialisiert auf das Lösen von Kriminalfällen, den Jungen mit den Lernschwierigkeiten auf. Gemeinsam müssen sie einen Papageien retten, der entführt wurde, erleben sehr viele Abenteuer und entdecken sich dabei immer wieder neu. So entstehen auch Freundschaften, welche als Modell für die Kinder dienen, die das Kinderbuch lesen oder vorgelesen bekommen. Es kommt in der Geschichte auch immer wieder zu negativen Vorfällen, die für Diskussionsstoff sorgen. Beispielsweise, wenn die Kinder aufgrund von Vorurteilen handeln.
© Daniel Müller
Wie läuft das „Freundschaftsprojekt“ ab?
Jeanine Grütter: Je nach Klasse ist das Programm eher präventiv oder als Intervention gedacht. Entsprechend analysieren wir anfangs zusammen mit der Lehrkraft die soziale Dynamik, die in der Klasse vorherrscht. Das Programm wird während sechs Wochen durchgeführt. Die Klasse beschäftigt sich dabei intensiv mit den Themen Anderssein, Gruppenbildung, Anschluss finden, Freundschaften, Mobbing und Ausschluss. Zum Beispiel: Wie wähle ich meine Freunde? Was sind gute Freunde? Was bedeutet das, wenn ein Kind diskriminiert wird? Wie könnte ich da unterstützen?
Das Kinderbuch liefert sehr viel Material für die Klasse, um zu diskutieren. Das Lehrmittel enthält aber auch viele Übungen, was uns besonders wichtig ist. Hier arbeiten wir viel mit Theaterpädagogik, mit Rollenspielen, bei denen die Kinder selber verschiedene Strategien ausprobieren können: Wie können sie beispielsweise einen Konflikt lösen? Wie können sie für eine Person einstehen, die ausgeschlossen wird?
Welche Wirkung erzielt das Projekt?
"Wir haben Wirkungen unseres Programms bereits in mehreren Studien untersucht und konnten zeigen, dass Kinder offener wurden im Umgang mit Anderssein, sich in der Schule akzeptierter und zugehöriger fühlten, mehr Freundschaften entstanden und das Klassenklima positiver und inklusiver beurteilten."
Jeanine Grütter. Jeanine Grütter ist Hochschuldozentin für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Inklusion an der Universität Konstanz.
Während des Programms geben wir den Schulklassen viele Übungsmöglichkeiten, welche zu einem positiven Klima beitragen können. Wir denken, dass die Lehrpersonen und SchülerInnen dadurch neue Strategien für die Klasse erproben können und hoffen, dass dieser Prozess somit auch nach den sechs Wochen noch weitergeführt wird.
Zum Abschluss des Programms schreiben die Kinder immer Briefe an die Busch-Banditen. Fast alle wünschen sich eine Fortsetzung dieser Geschichte. Wir überlegen deshalb gerade, ein neues Thema aufzuarbeiten. Hier könnte eine Geschichte für Jugendliche entstehen, die ihnen hilft, sich mit dem Thema Identität und Anderssein auseinanderzusetzen.
Wo wird das Projekt derzeit umgesetzt?
Jeanine Grütter: In der Schweiz haben wir das Projekt, das sich an die Klassenstufen drei bis sechs richtet, schon am Lehrplan ausgerichtet und Weiterbildungsangebote für Lehrpersonen konzipiert. Das Programm wurde nun schon von über 60 Klassen erfolgreich umgesetzt. Es kann entweder als Schwerpunktthema Deutsch oder Natur, Mensch und Gesellschaft integriert werden. Wir sind gerade dabei, es auch am deutschen Lehrplan auszurichten, wobei sich Deutsch oder Gemeinschaftskunde anbieten würden. In der Region arbeiten wir gerade mit Schulen vor Ort in Konstanz zusammen, die Lust haben, das Programm auszuprobieren.
Das langfristige Ziel wäre, dass das Programm in die Lehrpläne aufgenommen würde.
© Bild von Jeanine Grütter: John Flury