Türen öffnen sich zum Dialog

Es ist nicht nur das Geld, das den Unterschied macht. Die Literaturwissenschaftlerin Juliane Vogel erzählt davon, was der Leibniz-Preis alles ermöglicht und wie die Nomis Foundation ihr ungeahnte interdisziplinäre Einblicke verschafft.

Viele Menschen können bei ein paar sehr wichtigen Ereignissen sagen, wo sie waren, als sie davon erfuhren. So auch Juliane Vogel: „Und dann habe ich diesen klassischen Anruf bekommen. Ich weiß noch, es war ein Donnerstag, ich war hier im Büro.“ Der Anruf kam von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Juliane Vogel mitteilte, dass sie den Leibniz-Preis für das Jahr 2020 erhalten würde. Die Überraschung war so überwältigend, dass sie im ersten Moment wie neben sich stand: „Ich habe das gar nicht auf mich bezogen.“

Was in den nächsten Tagen los war, dürfte bis dahin in ihrem Leben einmalig gewesen sein. Viele schrieben Mails und gratulierten ihr, auch Menschen, die sie lange nicht mehr gesehen hatte oder die sie gar nicht kannte. Aus der Politik gab es ebenfalls Glückwünsche. Am Fachbereich Literaturwissenschaft war die Freude ohnehin groß, eine schöne Atmosphäre habe geherrscht. „Das tut einfach gut“, sagt die Preisträgerin.

Nicht zuletzt hatte der wichtigste deutsche Forschungspreis auch Folgen auf ihr Selbstverständnis. „Für mich persönlich hat es zu einer Beruhigung geführt. Ich hatte das Gefühl, das ist eine Anerkennung, die nicht mehr so leicht rückgängig zu machen ist. Seither sind die Krisen bei der eigenen Arbeit nicht mehr ganz so existentiell.“ Dabei konnte die Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft wenige Monate zuvor bereits eine großzügige Finanzierung für das Forschungsprojekt „Traveling Forms“ bei der Schweizer NOMIS Foundation einwerben, die neben naturwissenschaftlichen Projekten nun auch kulturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Projekte fördert.

Die Forschungsstelle „Formtheorie und historische Poetik“ untersucht Formbildungsprozesse. Historischer Ausgangspunkt sind die sogenannten Regelpoetiken der Vormoderne, das sind Formkompendien, die genau vorschreiben, wie eine poetische Form verfertigt wird, und in der frühen Neuzeit ausgearbeitet wurden. Sie widmet sich jedoch auch modernen Formtheorien. Ermöglicht wurde sie durch den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis, der mit 2,5 Millionen Euro dotiert ist.

Das interdisziplinäre Projekt „Traveling Forms“ verbindet in vier Teilprojekten literaturwissenschaftliche und anthropologische Perspektiven auf die Mobilität kultureller Formen. Die Untersuchungen beziehen sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart. Darüber hinaus wird der kulturwissenschaftliche Grundbegriff der Form in Hinblick auf seine Mobilität weiterentwickelt. Die Schweizer NOMIS Foundation fördert das Projekt mit rund 1,2 Millionen Euro.


https://youtu.be/ycHILQQdGjE?si=FE-oubcNcgLEGDpK

Gottfried Wilhelm Leibniz-Preisträgerin 2020 Juliane Vogel im Porträt

Forschung, die ausstrahlt

Juliane Vogel ist bestrebt, die mit den Mitteln des Leibniz-Preises ermöglichte Forschungsstelle „Historische Poetik und Formtheorie“ und das Projekt „Traveling Forms“ zu einem Forschungsschwerpunkt „Form“ zusammenzuführen: „Ich merke, dass es eine Resonanz auf diese Art der Forschung gibt. Wir hoffen, dass wir Impulse geben können, die über die Universität Konstanz hinausgehen.“ Als „Komplementärbewegung“ zur Kulturwissenschaft bezeichnet sie diesen Formansatz, der in den vergangenen Jahren zu sehr in den Hintergrund gerückt sei:

„Kulturelle Kommunikation kann nicht hinreichend beschrieben werden, wenn die Form nicht mitgedacht wird. Es ist ein Unterschied, ob ich etwas in Form eines Traktats, eines Twitter-Eintrags oder eines Versepos kommuniziere.“

Juliane Vogel

Welchen Stellenwert Formexpertise in der Forschung hat, wurde beispielsweise auch während der an der Forschungsstelle veranstalteten Tagung „Liquide Formen“ im Herbst 2023 diskutiert, in der es u. a. um die Frage ging, wie sich Flüssiges formen lässt. Zum Beispiel gibt es um 1800 auffallende Parallelen von Flussregulierung und Versregulierung. Für Ende 2024 ist eine Tagung zum Thema „Regelpoetik/Poetik der Regel“ geplant. Doch Auszeichnungen wie der Leibniz-Preis bringen nicht nur die nötigen Mittel ein, um wissenschaftliche Treffen zu finanzieren. Sie bringen darüber hinaus das Renommee mit sich, das Türen öffnet.

Sowohl die Forschungsstelle „Historische Poetik und Formtheorie“ als auch das Projekt „Traveling Forms“ sind interdisziplinär konzipiert. Die enge Verbindung und Wechselwirkung zwischen ästhetischen Formen und sozialen Formen versprechen einen fruchtbaren Austausch mit den Sozialwissenschaften. Die Anthropologie und Soziologie sind mit dabei, einen wichtigen Kontakt stellt für Juliane Vogel auch die Rechtswissenschaft dar. Verfassungen, Regelwerke, überhaupt Normbildungsprozesse, sind dort die Parallelen, die ihr bei ihrer Forschung zur Regulation von Formbildungsprozessen Impulse geben. „Ich forsche als jemand, der lernt, nicht als jemand, der weiß. Das ist wichtig“, sagt sie.

Eine aufregende Entdeckung

Juliane Vogel ist auch an Gesprächen mit anderen Disziplinen interessiert, die für gewöhnlich nicht die nächsten Adressen für eine Literaturwissenschaftlerin darstellen. Die NOMIS Foundation, die bis vor wenigen Jahren hauptsächlich Naturwissenschaften förderte, sorgt hier ebenfalls für Anregungen. Auch in Vorträgen über Zellbildungsprozesse im Embryonalstadium kann man etwas über Formbildungen lernen, wie sie bei NOMIS-Treffen erfährt.

„Wir waren völlig frappiert, wie verständlich diese organisch-biologischen Prozesse für uns waren. Wir kennen vergleichbare Vorgänge aus den Kulturwissenschaften und der Philosophie. Die Begrifflichkeit war für uns vollkommen geläufig und hat bestimmte Dinge für mich nochmals verdeutlicht, die uns auch auf unserem Feld begegnen.“

Juliane Vogel

Zum Beispiel, wie sich Körper formieren, wie Körperachsen eingezogen werden oder Symmetrien entstehen, wie sich Formen durch Teilung und Polarisierung ausdifferenzieren. Juliane Vogel präzisiert: „Wir wollen natürlich nicht biologisch argumentieren, aber es ist anregend für uns, auf dieses Feld der Formenbildung zu schauen. Manche Organismus- oder Formmodelle der Naturwissenschaft interessieren mich sehr.“

Große Chance

Der Schwerpunkt zum Thema Form bedeutet für Juliane Vogel so etwas wie eine große Chance, die Möglichkeit, durch die vermehrte Aufmerksamkeit, die der Leibniz-Preis verursacht, dafür einzutreten, die Bedeutung der Form und die Bedeutung von Formen in der Wissenschaft wieder in den Vordergrund zu rücken. Mit den Mitteln des Leibniz-Preises konnte sie auch wissenschaftliche Stellen schaffen, die nicht nur ihre Arbeitsgruppe in Forschung und Lehre unterstützen, sondern dem Fachbereich Literaturwissenschaft einen Mehrwert einbringen.

Dass die Lehre profitiert, ist ihr besonders wichtig. „Ich weiß genau, dass die Art von Forschung, die ich mache, Kosten hat“, sagt sie in Hinblick auf ihr Lehrdeputat. „Ich bin froh, dass ich durch die Schaffung von Stellen auch das Lehrangebot im Fachbereich erweitern und bereichern kann.“ Auch Konstanz University Press profitiert von ihren Preisgeldern, was der Verlag für Übersetzungen und damit für mehr Internationalität im Programm nutzt. Nicht nur in die eigene Tasche wirtschaften, sagt Juliane Vogel dazu. Auch solch eine Haltung machen großzügige Preisgelder wie die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Nomis Foundation möglich.

Juliane Vogel ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie ist eine der bedeutendsten deutschen Dramenforscherinnen, deren disziplinübergreifende Arbeit durch die Verknüpfung von literarischen, kulturwissenschaftlichen und technischen Aspekten die Forschung im deutschen und nordamerikanischen Sprachraum maßgeblich beeinflusst hat.

Titelbild: Ines Janas

Maria Schorpp

Von Maria Schorpp - 14.03.2024