Über Zufallsschwankungen, Verzerrungen und Vorhersagen bei Wahlumfragen

Peter Selb, Professor für Umfrageforschung an der Universität Konstanz, über die Zuverlässigkeit von Wahlprognosen und die Auswirkungen auf die Umfragen, die sich aus der Dreierkonstellation der KanzlerkandidatInnen bei der kommenden Bundestagswahl ergeben.
© blickpixel, Pixabay

Prof. Selb, in den vergangenen Jahren sind Wahlprognosen zunehmend in die Kritik geraten. Geben uns Wahlumfragen noch ein zuverlässiges politisches Stimmungsbild?

Prof. Dr. Peter Selb: Auch wenn der Eindruck durch einige prominente Patzer wie bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 oder dem Brexit-Votum entstanden sein mag, sind Wahlumfragen über die letzten Jahre und Jahrzehnte generell nicht ungenauer geworden. Das zeigt eine aktuelle Studie, die über 25.000 Wahlumfragen in 45 Ländern betrachtet.

Das heißt aber nicht, dass Wahlumfragen so zuverlässig sind, wie das von Meinungsforschungsinstituten und Medien behauptet wird. Die häufig berichteten Fehlermargen von zwei bis drei Prozentpunkten greifen zu tief. Resultate variieren nicht nur stärker über Umfragen hinweg, als man das aus Sicht der Stichprobentheorie erwarten würde. Eine Meta-Studie aus den USA findet darüber hinaus auch systematische Fehler.

Bei Präsidentschaftswahlen liegt der Mittelwert der Umfragen normalerweise zwei Prozentpunkte neben dem tatsächlichen Wahlergebnis.

© Jespah Holthof

„Das sind keine Zufallsschwankungen, auf die sich die Institute gerne mal berufen, wenn etwas schieflief. Das sind Verzerrungen, die alle Institute und alle Umfragen mehr oder weniger gleichermaßen betreffen.“

Prof. Dr. Peter Selb, Professor für Umfrageforschung an der Universität Konstanz

Woher kommen solche Verzerrungen?

Schwer zu sagen. Im Detail validieren lassen sich Umfragedaten aufgrund des Wahlgeheimnisses kaum. Grundsätzlich gibt es aber zwei mögliche Gründe: Entweder die Leute, die an Umfragen teilnehmen, repräsentieren die Wählerschaft nicht vollständig. Oder die geäußerten Wahlabsichten entsprechen letztlich nicht der Wahlentscheidung der Befragten. In der Forschung, vor allem aus den USA, mehren sich die Hinweise darauf, dass sich die Teilnahmebereitschaft an Umfragen zwischen den politischen Lagern unterscheidet. Eigentlich kein Wunder bei einem Kandidaten wie Trump, der kaum eine Gelegenheit ausließ, gegen die Mainstream-Medien zu hetzen, die ja die Hauptsponsoren von Wahlumfragen sind.
Gut denkbar also, dass Trump-AnhängerInnen weniger auskunftsfreudig waren und so die Umfrageergebnisse bei den beiden jüngsten Präsidentschaftswahlen verzerrt haben. Aber ob sich nun Wahlen, bei denen Kandidaten oder Parteien mit einer Anti-Establishment-Agenda antreten, generell schwerer vorhersagen lassen, wissen wir noch nicht. Auch zu dieser Frage forschen wir gerade.

Wie fehleranfällig waren die Prognosen bei den bisherigen Bundestagswahlen – und gibt es eine Tendenz zur Verbesserung?

In einem bisher nicht veröffentlichten Arbeitspapier schauen wir uns mehr als 4.000 nationale und regionale Wahlumfragen aus Deutschland an. Die Befunde sind eigentlich ganz ähnlich wie die aus der bereits erwähnten US-amerikanischen Studie: Wir beobachten mehr Zufallsschwankungen als statistisch zu erwarten. Zudem gibt es systematische Verzerrungen von durchschnittlich zwei Prozentpunkten bei Bundes- und von drei Prozentpunkten bei Landtagswahlen. Einen klaren Zeittrend beobachten wir nicht, zumindest nicht seit 1990. Entgegen der landläufigen Meinung finden wir auch keine „Hauseffekte“, also systematische Unterschiede zwischen den Instituten in den projizierten Wähleranteilen bestimmter Parteien.

Was beobachten Sie bei den gegenwärtigen Wahlumfragen?

Noch ist ja nicht Tag der Wahrheit. Bemerkenswert finde ich derzeit aber die Dreierkonstellation an der Spitze der Umfragen. Schon vorstellbar, dass diese, gepaart mit den unklaren Koalitionsaussichten, einige WählerInnen zu einer strategischen Stimmabgabe bewegt. Wen soll ich denn nun beispielsweise als Anhänger der Grünen wählen? Die Partei meines Herzens oder doch besser die SPD, um eine linke Regierung zu ermöglichen oder zumindest einen Kanzler Laschet zu verhindern? Was aber, wenn die Umfragen die politische Stimmung verzerrt wiedergeben und die SPD überschätzen? Werden Umfragen so möglicherweise zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung?

Pandemiebedingt werden wir bei den diesjährigen Bundestagswahlen eine verstärkte Briefwahl haben. Welche Rolle spielt dies für die Wahlprognosen?

Interessante Frage. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im Frühjahr haben mehr als die Hälfte der WählerInnen brieflich abgestimmt. Soweit ich weiß, dürfen die Institute nicht direkt nach der Briefwahlentscheidung fragen bzw. diese Daten nicht vor der Wahl veröffentlichen. Jedenfalls haben in Baden-Württemberg die Parteien je nach Art der Stimmabgabe unterschiedlich abgeschnitten: Unter den BriefwählerInnen waren im Vergleich zu den UrnengängerInnen die Grünen besonders stark, die AfD besonders schwach. Entsprechend variiert auch die Empfänglichkeit für Ereignisse in der Endphase des Wahlkampfs. Wer schon gewählt hat, kann nicht mehr beeinflusst werden – auch nicht durch veröffentlichte Wahlumfragen.
 
Die Fragen stellte Dr. Jürgen Graf.

Dr. Jürgen Graf

Von Dr. Jürgen Graf - 20.09.2021