Wissenschaft und Politik folgen unterschiedlichen Logiken

Wirtschaftswissenschaftler Simon Jäger vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) erforscht die Ursprünge und Folgen von Ungleichheit, insbesondere im Arbeitsmarktkontext. Deshalb ist seine Expertise nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in Politik und Wirtschaft gefragt. Vom Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz wurde er 2024 mit dem „In_equality Research Award“ ausgezeichnet. Was bedeutet Transfer für ihn?
© David Degner

Der In_equality Research Award ist zum einen ein Preis für herausragende wissenschaftliche Leistung, zum anderen wollen wir damit Forschende auszeichnen, die sich besonders im Bereich Wissenschaftstransfer engagieren. Warum ist Transfer aus Ihrer Perspektive wichtig und gesellschaftlich relevant?

Simon Jäger: Zunächst ist es natürlich so, dass ganz viele gesellschaftliche und politische Fragen einen Arbeitsmarktbezug haben. Dementsprechend gibt es eine sehr große Nachfrage nach ökonomischer Expertise in diesem Bereich. Gleichzeitig gibt es sehr viel Forschung, die in den letzten Jahrzehnten auch deutlich besser geworden ist. Durch neue Datensätze und neue Methoden können wir zwar nicht alle, aber doch viele Fragen viel überzeugender beantworten.

Wissenschaftlich fundierte Beratung wird nachgefragt und hat einen hohen gesellschaftlichen Mehrwert. Das ist auch in gewisser Weise ein gesellschaftlicher Anspruch, den die SteuerzahlerInnen an Forschung haben, weil diese ja durch Steuergelder gefördert wird. Natürlich geht das für Forschende und Forschungsprojekte auch mit einem gesellschaftlichen Auftrag einher, zu Debatten beizutragen und Erkenntnisse nicht nur für eine wissenschaftliche Öffentlichkeit zu schreiben, sondern sich zu fragen: Für wen könnte das noch interessant sein

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen bei diesem Transfer?

Zum einen ist es schwierig, die Grenzen von Wissenschaft zu beschreiben. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind ja nie absolut, sondern bedingt: Sie hängen von vielen Faktoren ab und sind voraussetzungsvoll. Die öffentliche Debatte ist weniger komplex und lebt von einfacheren Botschaften. Eine große Herausforderung ist also, so zu vereinfachen, dass komplexe Zusammenhänge verständlich gemacht werden können, ohne die Ergebnisse an sich zu verfälschen.

"Wissenschaft, Politik und gesellschaftliche Debatten agieren nach unterschiedlichen Logiken. Die Wissenschaft ist auf Erkenntnis ausgerichtet: Was ist der Status quo? Wie funktioniert die Welt? Die Politik funktioniert nach anderen Logiken, z. B. Macht, und befasst sich eher mit normativen Fragen: Wie soll die Welt sein? Wie wollen wir sie gestalten? Die Antwort auf die eine Frage impliziert natürlich nicht die Antwort auf die andere. "

Simon Jäger

Es ist also eine gewisse normative Übersetzung nötig, bei der beispielsweise eigene Werturteile mit ins Spiel kommen. Es ist wichtig, das transparent zu machen. Was ist jetzt die wissenschaftliche Erkenntnis? Und was möchte man daraus gesellschaftlich machen?

Stichwort Gesellschaft: in Deutschland ist das Wissenschaftsjahr 2024 unter das Motto „Freiheit“ gestellt, und das Grundgesetz, vor dem wir alle „gleich“ sind, feiert 75-jähriges Bestehen. Ihre Einschätzung: Schließen sich Freiheit und Gleichheit aus?

Ich glaube nicht unbedingt, es kommt auf den Freiheits- und den Gleichheitsbegriff an. Ökonomen haben keinen guten Freiheitsbegriff, es ist kurioserweise keine Kategorie, in der wir häufig nachdenken. Zwar spielen „freie“ Märkte in unserer Forschung häufig eine Rolle, aber das ist ein sehr reduktionistischer Freiheitsbegriff. Ich glaube, es gab lange die Vorstellung, dass die beste Art und Weise, Politik, eine Gesellschaft, oder einen Markt zu organisieren, darin besteht, Märkte zunächst frei agieren zu lassen. Anschließend sollen die Marktergebnisse durch nachgelagerte Umverteilung korrigiert werden, um so mehr Gleichheit herzustellen.

In_equality Research Award

Der In_equality Research Award würdigt herausragende wissenschaftliche Leistungen, die eine große gesellschaftliche Wirkung haben und zur Verbesserung sozialer Systeme beitragen. Ziel ist es, mutige Forschung zu Ungleichheit zu fördern, die gleichzeitig gesellschaftliche Veränderungsprozesse anstößt. Der mit 20.000 Euro dotierte Preis kann für künftige Forschungsvorhaben verwendet werden, insbesondere in Zusammenarbeit mit dem Exzellenzcluster “The Politics of Inequality”.

2024 wurde der Preis dem Wirtschaftswissenschaftler Simon Jäger auf der In_equality Conference verliehen.
 

Vieles deutet darauf hin, dass das nicht unbedingt die beste Art ist, Dinge zu organisieren. Beispielsweise haben Mindestlöhne nicht die verheerende Wirkung gehabt, wie man immer gedacht hat, wenn man ein vereinfachtes Marktmodell zugrunde legt. Stattdessen haben sie weniger Beschäftigung verdrängt, und vielleicht sogar dazu geführt, dass diese ausgeweitet wurde. Das ist natürlich auch ein Freiheits-Trade-off: Einerseits wurde mehr ökonomische Freiheit geschaffen für diejenigen, die am unteren Ende der Lohnverteilung stehen. Andererseits hat man gleichzeitig die Freiheit derjenigen eingeschränkt, deren Geschäftsmodell darauf basiert, Arbeitsverträge unterhalb des Mindestlohnniveaus zu schließen. Deshalb weiß ich nicht, ob ich die Frage so allgemein beantworten kann.

Für unseren Cluster – das steht ja schon im Namen – ist Ungleichheit das zentrale Thema. Was ist Ihre Motivation, sich mit Ungleichheitsforschung zu beschäftigen?

Ich denke, die Gesellschaft kann eigentlich nur funktionieren, wenn möglichst viele Menschen direkt am Wohlstand und am Erfolg der Gesellschaft partizipieren können und wir Institutionen und Rahmenbedingungen so aufstellen, dass das möglich ist. Das ist eigentlich eine Kern-Motivation: sich damit zu beschäftigen welche Voraussetzungen es braucht, dass möglichst viele Menschen möglichst breit zu gesellschaftlichem Wohlstand beitragen und daran teilhaben können.

Das vollständige Interview lesen Sie nach im In_equality Magazin Nr. 7 „In_klusion & Diversität“

Simon Jäger ist Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und beschäftigt sich in seiner Forschung mit den Ursachen und Folgen von Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt sowie dem Einfluss von Institutionen auf die soziale und wirtschaftliche Teilhabe. Bis Ende 2023 war er CEO beim IZA (Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit) Darüber hinaus ist er Forschungsstipendiat am National Bureau of Economic Research (NBER) und anderen führenden Forschungseinrichtungen. Seit Februar 2024 berät er das von Robert Habeck geleitete Bundesministerium für Wirtschaft und Klimapolitik (BMWK).
 


 

Annalena Kampermann

Von Annalena Kampermann - 06.12.2024