Gedenken im Netzwerk

Ein Kriegsverbrechen im nördlichen Italien hat Spuren in der Erinnerung von Menschen und in der Umgebung hinterlassen. 80 Jahre später befasst sich eine Gruppe von Studierenden der Universität Konstanz damit und gestaltet das Ausstellungsprojekt „ÜberLeben Erzählen“. Seminar-Teilnehmerin Amélie Kroneis berichtet von ihren Eindrücken vor Ort – und erklärt, warum Netzwerke eine zentrale Rolle für das Gedenken spielen.

Das Dritte Reich im Geschichtsunterricht – eigentlich dachte ich, an meiner Schule sei dieses Thema ausführlich behandelt worden. Aber von den Verbrechen deutscher Truppen in Italien, das vor Mussolinis Sturz 1943 ja Verbündeter Hitler-Deutschlands gewesen war und danach die Seiten wechselte, wusste ich nichts. Auch nicht von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Norditalien, die danach zwischen Mussolinis faschistischen Truppen und italienischen PartisanInnen herrschten.

Das Massaker und seine Aufarbeitung
Das toskanische Bergdorf Sant‘Anna di Stazzema lag im Sommer 1944 im Frontgebiet zwischen den Deutschen und italienischen Faschisten einerseits und den nach Norden vorrückenden Alliierten sowie italienischen PartisanInnen andererseits. Am 12. August 1944 ermordeten hier deutsche Einheiten, vorgeblich im Rahmen der „Partisanenbekämpfung“, 560 Menschen auf zum Teil grausamste Weise. Es waren ausschließlich ZivilistInnen unter den Opfern.

Die Aufarbeitung der deutschen und italienischen faschistischen Verbrechen im Nachkriegs-Italien verlief lange schleppend (Stichwort: Schrank der Schande). Anfang der 1970er Jahre brachten Enio Mancini und der mittlerweile verstorbene Enrico Pieri wichtige Anstöße für die Gedenkarbeit in Sant’Anna. Beide hatten das Massaker als Kinder überlebt. Seither kümmern sich verschiedene Verbände um das Gedenken. Auf dem Gebiet um das Bergdorf ist der Parco nazionale della Pace entstanden, der u.a. ein Museum und ein Mahnmal beherbergt sowie Kunst- und Begegnungsprojekte fördert.

Die Erinnerung an das, was in Sant’Anna die Stazzema passiert ist, halten viele AkteurInnen am Leben, unter anderem der Überlebenden- und Angehörigen-Verein Associazione Martiri Sant'Anna di Stazzema 12 Agosto 1944 und die Associazione Nazionale Partigiani d’Italia (Nationaler Partisanenverband). Auch Mitglieder des Naturschutzvereins Amici del Parco regionale delle Alpi Apuane setzen sich durch Instandhaltungsmaßnahmen der historischen Wege für den Erhalt von Sant’Anna als Erinnerungsort ein. Das Netzwerk um Sant’Anna umfasst auch zahlreiche deutsche Initiativen. Da gibt es die AnStifter e.V. aus Stuttgart, die dort mit Aktionen auf die mangelnde Aufarbeitung von deutscher Seite aufmerksam machen, das Ehepaar Westermann aus Hamburg mit ihrer Friedensorgel-Initiative und den jährlich stattfindenden deutsch-italienische Jugendaustausch Campo della Pace.

ÜberLeben Erzählen
Im Sommer 2024 beschäftigten wir, Studierende der Fächer Ethnologie und Literatur der Universität Konstanz, uns filmisch und fotografisch mit dem Ort und seiner Geschichte. Unter der Leitung von Maria Lidola, Sarah Seidel und Petra Quintini entwickelten wir eine Ausstellung mit dem Titel ÜberLeben Erzählen, die das Gedenken an das Massaker von Sant’Anna weitertragen möchte. Während einer Exkursion nach Italien im Mai lernten wir Überlebende, Nachgeborene und UnterstützerInnen kennen. Wir hörten ZeugInnenberichte, begleiteten Rituale des Erinnerns, erwanderten die Zugangswege zu dem entlegenen Ort, erkundeten verlassene Häuser und tauchten in das heutige Leben im Dorf ein. Ein anderer Teil des Kurses ging den aktivistischen Netzwerken in Deutschland, vor allem Stuttgart, nach.

Spuren in der Landschaft
Meine Kleingruppe widmete sich den landschaftlichen Spuren rund um Sant‘Anna. Die Zugangswege zur Ortschaft, ehemalige ‚Maultierpfade‘, sind steil und verschlungen. Galileo Venturini vom Alpenverein führte uns hinauf. An verschiedenen Stellen machten wir halt –  ein verfallenes Haus, das vom bäuerlichen Leben Mitte des 20. Jahrhunderts zeugt; eine Kapelle, in der an eine Mutter und ihr Neugeborenes erinnert wird; eine Wegkreuzung, an der ein Gedenkstein für ein Kind angebracht ist, das die Nachbarn warnen wollte und nicht überlebte. Aus vier Himmelsrichtungen hatten sich deutsche Truppen in aller Herrgottsfrühe Sant’Anna und seinen Ortsteilen genähert. Alle vier Wege sind heute für BesucherInnen zugänglich, die Geschehnisse anhand von Tafeln nachvollziehbar. Die Vorstellung, über den selben Boden wie damals Opfer und Täter zu laufen, macht demütig.

"Was mir am eindrücklichsten von den beiden Besuchen in Sant’Anna in Erinnerung geblieben ist, ist das Netzwerk an Organisationen und Einzelpersonen, die die Erinnerung an die Geschehnisse wachhalten."

Amélie Kroneis, Studentin des Masterstudiengangs „Globale Europastudien“

Mit den noch lebenden ZeitzeugInnen im Zentrum ist um das tatsächliche Dorf Sant’Anna ein internationales Netz gelebten Gedenkens entstanden, das sich durch Begegnungsmöglichkeiten wie das Campo della Pace stetig vergrößert. Mit unserem Ausstellungsprojekt durften auch wir an diesem Netzwerk weiterknüpfen.

Doch was passiert, wenn die Zentren der Gedenk-Netzwerke, die ZeitzeugInnen, nicht mehr sind? Ihnen zu begegnen, war für uns TeilnehmerInnen ein großes Geschenk – ihre Bereitschaft, von ihrem Schmerz zu erzählen, und die Großzügigkeit, sich mit über 80 Jahren noch mit einer Gruppe deutscher StudentInnen auseinanderzusetzen. Mit dem Ausstellungsprojekt wird diese Begegnung im besten Fall ein Stück weit vermittelbar.

Ausstellungseröffnung zum Jahrestag
Am 11. August eröffneten wir die Ausstellung in Sant’Anna di Stazzema selbst; dort waren die Arbeiten für zwei Wochen rund um die 80-Jahr-Gedenkfeier zu sehen. Zum Festakt kamen nicht nur einige offizielle VertreterInnen; auch Überlebende besuchten die Eröffnung und befanden die Ausstellung – zu unserer Freude – für gut. Das vielstimmige Lob auch von anderen BesucherInnen zeigte uns, dass unser Anliegen, die Stimmen von ZeitzeugInnen des Zweiten Weltkrieges für die Nachwelt zu bewahren, geteilt wird.  

Vom 20. November bis 5. Dezember 2024 wird die Ausstellung „ÜberLeben Erzählen“ im Stadtpalais Stuttgart gezeigt. Vom 14. bis 31. Mai 2025 wird das Projekt im Bürgersaal Konstanz zu sehen sein. 

Am 10. Dezember 2024 um 18:30 Uhr zeigt das Zebra Kino Konstanz die Dokumentation „Das zweite Trauma – das ungesühnte Massaker von Sant’Anna di Stazzema“ des Konstanzer Filmemachers Jürgen Weber.

Amélie Kroneis

Von Amélie Kroneis - 08.11.2024