Entzauberberg

„Ausgeschlossen aus dem großen Theater des Lebens“: Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk spricht in Konstanz über die Ausschließung der Frau aus Literatur und Gesellschaft. Eine Lesung und Diskussion mit der Nobelpreisträgerin im Rahmen der Reihe „Unsere Uni – unser Buch“.

„Als ich Thomas Manns Zauberberg mit 15 Jahren zum ersten Mal gelesen habe, habe ich angenommen, dieses geniale Buch erklärt mir die Welt. Aber ich habe schnell gemerkt: Es ist eine Welt ohne Frauen. Eine Welt, in der sie keinen Platz haben.“

Olga Tokarczuk

Ein halbes Jahrhundert später ist die Fünfzehnjährige von damals eine Nobelpreisträgerin für Literatur. Mit dem Roman „Empusion“ schreibt Olga Tokarczuk ihre literarische Antwort auf den Zauberberg. Wer hier aber mit einer Abrechnung mit dem Roman rechnet, liegt falsch: Olga Tokarczuk bekennt sich als Fan des Zauberbergs, hat ihn zigfach gelesen, kennt ganze Passagen daraus auswendig. Empusion ist eine Hommage an den Zauberberg, aber geschrieben aus einer Perspektive, die Thomas Manns Roman fremd bleibt: die Perspektive der ausgeschlossenen Personen, insbesondere der Frauen. „Ausgeschlossen aus dem großen Theater des Lebens“, wie Olga Tokarczuk es formuliert.

Für eine Lesung und Diskussion kam die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk im November 2023 nach Konstanz, auf Einladung der Universität Konstanz und der C. G. Jung Gesellschaft Bodensee. Das persönliche Treffen mit der Autorin war die Abschlussveranstaltung der Reihe „Eine Uni – ein Buch“, die vom Stifterverband und der Klaus Tschira Stiftung gefördert wird. Die Universität hatte sich darin mit der Autorin und insbesondere ihrem Roman „Die Jakobsbücher“ auseinandergesetzt.

Im Konstanzer Bürgersaal diskutierte Olga Tokarczuk nun mit den Literaturwissenschaftlerinnen Sylwia Werner und Agnieszka Vojta sowie der Vorsitzenden der C. G. Jung Gesellschaft Bodensee, Elisabeth Kauder, über die Rolle von Mythen und Erzählungen, über Gattungen und im Besonderen über ihren neuen Roman Empusion. Der Saal war bis auf den letzten Platz ausgebucht, rund 400 Personen schauten vor Ort oder online zu. Der Andrang war so groß, dass die Lesung kurzfristig ins Rosgartenmuseum übertragen und zudem online live gestreamt wurde. Besonders eindrücklich: Die Sprechkünstlerin Julia Katterfeld ließ Textpassagen aus Empusion mit knisternder Stimme lebendig werden.

Entzauberung eines Berges
„Man sollte Empusion nicht mit dem Zauberberg vergleichen“, schickt Olga Tokarczuk voraus. Und trotzdem ist die Silhouette des Zauberbergs in ihrem Roman nicht zu übersehen. Wo Thomas Mann den Kurort Davos als eine in sich abgeschlossene Welt präsentiert, in der ein Männerzirkel über Politik, Liebe und die Welt philosophiert, steht in Tokarczuks Roman eine ganz ähnliche Lungenheilanstalt im schlesischen Görbersdorf als Gegenstück.

Auch hier dreht sich die Handlung um eine Männergesellschaft unter sich. Es ist eine Gesellschaft der Monokel und bestickten Taschentücher. Illustre Titel und graue Haarschöpfe, Tweed-Jacket, natürlich allesamt Weinkenner, gespeist wird Tafelspitz. Das heiterste in dieser Tischrunde ist ein Spiegelei.

Sie alle philosophieren über Gott und die Welt, am meisten jedoch über ihr Frauenbild. Je mehr sie ihre pompös aufgeblähten Reden schwingen, desto mehr enthüllen sie doch nur ihre Frauenfeindlichkeit und ihre eigene Borniertheit. Alle frauenfeindlichen Dialoge in dem Roman sind historisch belegt, betont Tokarczuk. Es sind Zitate aus Literatur und Weltgeschichte, die der Roman gleichermaßen präsentiert und bloßstellt. Olga Tokarczuks Kniff ist, dass sie alles Gesagte im Wortlaut stehen lässt, aber durch die Perspektive ihres Romans die innewohnende Ideologie enthüllt. Es ist kein Zauberberg, der in ihrem Roman steht, sondern die Entzauberung der Mythen einer Männergesellschaft. Ein Entzauberberg.

Eine Schauergeschichte
In der Diskussion mit der Autorin legt Literaturwissenschaftlerin Sylwia Werner den Finger zielsicher auf Schlüsselaspekte des Romans: die Frage nach seiner Perspektive, auch seiner Gattung. Tokarczuk erzählt, wie sie mit Gattungen spielt, sie als Element ihrer Erzählung nutzt. Sie habe sich vorgenommen, aus jeder Gattung ein Buch zu schreiben. Empusion ist ihre Schauergeschichte.

„Literatur ist nicht die Arbeit mit dem Text, sondern die Arbeit mit Bildern, die man in einen Text verwandeln muss.“

Olga Tokarczuk

So blitzt das Grauen immer wieder in der Kulisse des Kurorts auf. Auf dem Tisch, an dem die Männerrunde genussvoll ihren Tafelspitz verspeist, lag kurz zuvor noch der Leichnam der kürzlich verstorbenen Frau des Gastgebers aufgebahrt. Der Tafelspitz verschmilzt symbolisch mit dem Leib der Frau, in einem fast schon kannibalistischen Akt: Das Patriarchat verschlingt sinnbildlich die Frau. Sie wolle ihrem Publikum aber keine Angst machen, dass ihr Roman ein „langweiliges politisches Pamphlet“ sei, beteuert Tokarczuk. „Seien sie versichert: Ich hasse langweilige Bücher!“

Elisabeth Kauder geht in der Diskussion der Spur der Mythen nach, die Olga Tokarczuk gelegt hat. „Es gibt keine neuen Erzählungen“, proklamiert Tokarczuk. In unseren heutigen Erzählungen seien wir den alten Mythen doch ganz nah: „In Serien auf Netflix sehen wir die gleichen alten Mythen.“ Es sind dieselben Bilder unseres Menschseins, nur neu gedacht. „Literatur ist nicht die Arbeit mit dem Text, sondern die Arbeit mit Bildern, die man in einen Text verwandeln muss.“
 

Jürgen Graf

Von Jürgen Graf - 17.11.2023