Der Mensch, das Auto und die Elemente
Übers Jahr gesehen ist heute Autofahren relativ unabhängig von der Wetterlage. Je nachdem könnte man sich fragen, ob die Sommerreifen auf vereisten Wegen eine gute Idee sind oder ob man bei Unwetter in seinen Kleinwagen steigen sollte. Umweltfaktoren spielen beim Autofahren im Großen und Ganzen aber keine große Rolle mehr. Das alles war einmal anders. Es gab eine Zeit – zu Beginn der Automobilität – da war Autofahren eine „durch und durch umweltbezogene Erfahrung“, wie Timo Müller es ausdrückt.
Die Automobile hatten weder Dach noch Scheiben, die sich hoch- und runterdrehen ließen. Geschweige denn, dass es geteerte Straßen gab, die dem Automobilisten den Weg bereiteten. Wer in den 1890er Jahren in eines dieser neuen Gefährte mit Motorantrieb stieg, musste mit Cape und Brille gerüstet sein, die einigermaßen vor Schlamm, Staub und Wasser schützten. Wenn es regnete, hieß es ohnehin anhalten und möglichst Unterschlupf finden. Der Mensch war im Auto den Elementen ausgeliefert.
Das Gefühl von Freiheit
Im Gegensatz zu heute, wo beim Autofahren die natürliche Umgebung oft als Störfaktor betrachtet wird, setzten sich zu jener Zeit die Menschen in ihre Automobile, um Natur zu „erfahren“. Straßen gab es so gut wie nicht, den Weg mussten sie sich selbst suchen. Reiche Stadtbewohner, später auch Stadtbewohnerinnen, fuhren raus aufs Land, um dem Trubel zu entfliehen – und zwar kreuz und quer durch die Landschaft. „Sie fühlten sich freier, als mit einer Bahnlinie zu fahren, weil sie sich unabhängig vom Schienenverlauf orientieren konnten“, sagt Timo Müller.
Der Literaturwissenschaftler an der Universität Konstanz nimmt in seinem Projekt „Off the Road: The Environmental Aesthetics of Early Automobility“ diese „durch und durch umweltbezogene Erfahrung“ in amerikanischer Literatur aus den Jahren 1890 bis 1929 in Augenschein. Die Jahreszahlen markieren die Anfänge des Automobils in den USA als Verkehrsmittel bis in die Jahre, als asphaltierte Straßen und geschlossene Autos die Norm wurden.
„Die frühe Automobilität führt zu einer noch nie dagewesenen Art des Umgangs mit der Natur, eine Erfahrung, die neue Sinneswahrnehmungen, neue literarische Ausdrucksmittel und neue Formen von Umweltwissen hervorbrachte.“
Timo Müller
Was muss es für die Menschen damals für eine unglaubliche Erfahrung gewesen sein, mit 50 Meilen durch die Landschaft zu fahren. Das Forschungsteam um den Professor für Amerikanistik geht dem unter anderem in Erzähltexten und Gedichten nach, dort, wo sinnliche Erfahrungen und Gefühle Ausdruck finden. Das Forschungsprojekt, das von einem ERC Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats gefördert wird, basiert auf der Hypothese: Nach wie vor hängen Autofahren und Umwelt eng zusammen: „Wir wollen zeigen, dass man über Automobilität auch anders nachdenken kann als heute und dass es ganz lange auch anders war.“
Die Infrastruktur dahinter
So wenig selbstverständlich es in den Pionierzeiten war, in ein Auto zu steigen, um von A nach B zu kommen, genauso wenig selbstverständlich ist das in der Gegenwart mit den ungleich komfortableren automobilen Nachfolgemodellen. Tatsächlich versteckt sich hinter der vermeintlichen Selbstverständlichkeit eine immens umweltbelastende und teure Infrastruktur: von den Straßen über die Tankstellen, Reparaturwerkstätten und Hotels. Infrastrukturen, die technisch-materieller Natur sind, sich aber erst herausbilden konnten, nachdem die Menschen eine Vorstellung davon hatten, was ein Auto sein soll und was man damit machen kann.
Auch das ist in Romanen, Tagebüchern, Gedichten, Reiseliteratur und vor allem auch in Zeitungsartikeln zu ermitteln. Als geschichtliche Quellen betrachtet sagen sie einiges über Wahrnehmungsmuster, Denkmuster und auch Gefühle ihrer Zeit aus. So auch im Fall der Automobilität.
„Die meisten Amerikaner hatten bereits über Autos gelesen, bevor sie eines fuhren. Deswegen schauen wir uns an, was für Muster in der Umsetzung entstehen.“
Timo Müller
Selbst ganz konkrete Vorstellungen vom Autofahren sind in der fiktiven Literatur zu finden, ob es um die Frage geht, wo man das Benzin herbekommt, bis hin zu Überlegungen, wie Straßen aussehen sollen oder was einzelne Zielgruppen benötigen. Bis in die 1920er Jahre hinein waren diese hauptsächlich Ärzte und Bauern auf dem Land, die Ersten, die das Auto als Nutzfahrzeug erkannt hatten. Aber was bedeutet es für das Design, wenn Frauen zum Lenker greifen? Eine wichtige Überlegung, da die wohlhabende weibliche Stadtbevölkerung als potenzielle Kundschaft bereits im Blickfeld erschien.
© Underwood Archives, Inc / Alamy Stock Foto.Detroit, Michigan, im Jahr 1913. Die Model T-Montagelinie von Ford, an der der Schlitten auf das Fahrgestell fällt.
Straßen nach Beispielen von Romanen
So lieferten Romane oft Inspiration für technische Erfindungen.
„Man hat Straßen teilweise nach dem Beispiel von Romanen angelegt. Ingenieure und Techniker fragten sich: Kann man das vielleicht wirklich bauen?“
Timo Müller
So entstand in den USA eine Art von Straße, die als „Parkway“ bezeichnet wurde. Dabei sollte der Eindruck erweckt werden, man fahre durch einen Park, mit geschwungenen, netten kleinen Straßen und Bäumen rundherum. Ein Zusammenspiel von Technik und Imagination.
Die Menschen spielten damals schon vieles durch, was heute wieder diskutiert wird: elektronischer, Wasserstoff- und Verbrenner-Antrieb. Was sich durchsetzen wird, war Anfang des 20. Jahrhunderts völlig offen. Letztlich wurde es nicht so sehr auf Grundlage der Technik entschieden, sondern der Infrastruktur.
„Die Verbrenner-Lobby hat es geschafft, die Regierungen zu überzeugen, dass Verbrenner-Infrastrukturen besser sind. Hinter der vermeintlichen technisch-materiellen Zwangsläufigkeit der Entwicklung hin zu heutiger Automobilität steckt in Wirklichkeit ein hart umkämpftes Geflecht von Macht und Herrschaft.“
Timo Müller
Verschwiegene Kosten
Die Literatur über Automobilität selbst hat viel zum Unsichtbarmachen dieser teuren Infrastrukturen beigetragen, indem sie dem Tenor folgt: Man muss nur ins Auto steigen, dann ist man frei. So wenig diese Auffassung in den Anfangsjahren stimmte – ständig blieben die Automobile liegen – so wenig stimmt das heute angesichts einer riesigen Infrastruktur dahinter. Neben dem positiven Effekt, dass das Auto half, mehr über die umgebende Natur zu erfahren – die Disziplin der Ökologie bildete sich damals heraus –, barg es bereits ein Umweltproblem. „Man kann in den frühen Texten schon zeigen, wie die Infrastruktur dahinter verschwiegen und beschönigt wird.“ Die Autofabriken waren Moloche mit riesigem umweltschädlichem Ausstoß. Dass das Abgasproblem in den Städten nicht wahrgenommen wurde, lag lediglich an der geringen Zahl an Automobilen.
Das Projekt aus Literaturwissenschaft sowie den historischen Disziplinen Umweltgeschichte und Wissensgeschichte rekonstruiert diesen ökologischen Ansatz der Automobilität durch die Lektüre der „Straßenliteratur“ jener Zeit. Dazu wird ein Textkorpus, der bereits besteht und der laufend erweitert wird, digital ausgewertet. Unterstützung kommt vom Kommunikations-, Informations-, Medienzentrum (KIM) der Universität Konstanz. Die daraus resultierende Datenbank wird sowohl im Sinne des Wissenstransfers weltweit Forschenden als auch Menschen zur Verfügung gestellt, die sich für Road Novels interessieren.