Die Daten der Anderen: Shadow Profiles

Von sogenannten „Shadow Profiles“ – Schattenprofilen – ist die Rede, wenn soziale Netzwerke Informationen über Personen sammeln, die bei ihnen gar nicht registriert sind. Bisher sind Schattenprofile technisch kaum zu verhindern, gesellschaftlich ein kollektives Problem und rechtlich, vor allem strafrechtlich, kaum erfasst. Das Centre for Human | Data | Society an der Universität Konstanz nimmt sich der Thematik an und betont: „Individualisierte Lösungen werden nicht ausreichen, um unsere Privatsphäre zu schützen“.
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Sie müssen gar nicht erst Mitglied bei einem der vielen sozialen Netzwerke oder Messenger-Dienste sein – mit hoher Wahrscheinlichkeit liegen dort dennoch private Informationen über Sie vor. Möglicherweise ist sogar ein unsichtbares Profil von Ihnen hinterlegt, wie eine Art Akte, selbst wenn Sie sich niemals eingeloggt und niemals in die Geschäftsbedingungen des jeweiligen Netzwerks eingewilligt haben. Es genügt vielmehr, dass eine ausreichende große Anzahl Ihrer Bekannten – im Netzwerk zumeist als „Freunde“ gelistet – dort einen Account angelegt hat. Über Informationen und Kontaktadressen, die Ihre Freunde im Netzwerk teilen, können ausreichend Informationen „gepuzzelt“ werden, um Rückschlüsse über Sie zu ziehen. Vereinfacht gesagt: Wenn das Netzwerk weiß, dass die Mehrzahl Ihrer Freunde Handball spielt, in Konstanz wohnt und sich für Migrationspolitik interessiert, dann stehen die Chancen gut, dass das auch auf Sie zutreffen könnte.


Wie Schattenprofile entstehen

Den Grundstein legt sehr oft der schnelle Klick, wenn das eigene Adressbuch mit dem Messenger-Dienst geteilt wird: Schon hat das Netzwerk Zugriff auf alle Ihre Kontaktdaten, kann den Telefonnummern Informationen zuordnen und Verbindungen zwischen ihnen herstellen. Das Informationspuzzle ergänzt sich nach und nach durch Mitteilungen und Fotos, die Ihr Bekanntenkreis im Netzwerk veröffentlicht, ebenso über deren Gruppenzugehörigkeiten, Kommentare, Likes und Dislikes.

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All dies geschieht ohne bösen Willen Ihrer Mitmenschen und völlig unbeabsichtigt, auch wenn niemand jemals Informationen über Sie preisgeben oder gar Ihre Privatsphäre verletzen wollte. Die veröffentlichten Nachrichten müssen noch nicht einmal Sie persönlich nennen. Doch aus der Summe all dieser kleinen Informationsbruchstücke aus Ihrem sozialen Umfeld ergibt sich ein grundlegendes Puzzle-Bild Ihrer Person: von Ihren Interessen und politischen Überzeugungen, von Ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Ihrem Wohnort, Ihrem Familienstand bis hin zu wahrscheinlichen Kaufinteressen.

Das Ergebnis ist eine Art nicht-offizielles Profil – ein „Shadow Profile“. Zum ersten Mal kamen Schattenprofile 2012 ans Licht, als sich bei einem Datenleck im sozialen Netzwerk Facebook herausstellte, dass das Netzwerk Informationen besaß, die es gar nicht hätte haben dürfen.

„Schattenprofile sind aber keineswegs nur ein Facebook-Problem. Jedes soziale Netzwerk, das Kontaktinformationen sammelt, kann potenziell Schattenprofile erzeugen.“

David Garcia, Professor für Social and Behavioural Data Science

Der Informatiker David Garcia ist einer der Forschenden des Centre for Human | Data | Society (CHDS) an der Universität Konstanz. Das Zentrum hat es sich als eines seiner übergreifenden Forschungsthemen zur Aufgabe gesetzt, Schattenprofile unter die Lupe zu nehmen und nach Möglichkeiten zu suchen, um den Menschen davor zu schützen. Die Stärke des CHDS: In einem von Grund auf multidisziplinären Verbund untersuchen Forschende aus der Informatik, der Rechtswissenschaft, den Sozial- und Kulturwissenschaften sowie der Psychologie zusammen das Phänomen in seiner Vielschichtigkeit.

David Garcia ist Professor für Social and Behavioural Data Science an der Universität Konstanz und seit Oktober 2022 Mitglied des erweiterten Direktoriums des Centre for Human | Data | Society. Der Informatiker ist ein Experte im Bereich der Computational Social Science. Er erforscht unter anderem den Einfluss von digitalen Medien auf den Menschen und die Gesellschaft sowie kollektive Emotionen in Online-Communities.

Denn Schattenprofile sind nicht nur ein technisches Problem – sie stellen politische, rechtliche und kulturelle Herausforderungen an unsere Gesellschaft. Was bedeutet ein Recht auf Privatheit in der virtuellen Welt? Und welchen Umfang hat es? Was ist die persönliche Handlungsfreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung noch wert, wenn die Veröffentlichung meiner Daten immer zugleich auch Informationen über andere preisgibt?

Welche Varianten von Schattenprofilen gibt es?

Schattenprofile gibt es in unterschiedlichem Ausmaß:

  • Ein partielles Schattenprofil liegt vor, wenn jemand zwar einen eigenen Account bei einem sozialen Netzwerk besitzt, sich aber entschieden hat, bestimmte Informationen (zum Beispiel persönliche Angaben oder die eigene Telefonnummer) dort nicht zu teilen – und das Netzwerk die „fehlenden Informationen“ aus den Kontakten erschließt.
  • Von einem vollen Schattenprofil ist die Rede, wenn eine Person keinen Account bei dem Netzwerk angelegt und niemals in dessen Geschäftsbedingungen eingewilligt hat, das Unternehmen aber dennoch ein Profil über die Person erstellt.
  • Ein Schattenprofil kann aber auch dann entstehen, wenn eine Person ihren Account löscht. Das Netzwerk löscht zwar gewissenhaft alle Daten des Accounts, kann das Profil aber (jederzeit) durch indirekte Informationen aus den Kontakten teilweise wiederherstellen.

Da bisher kein Unternehmen ein Schattenprofil veröffentlicht hat, lassen sich keine Aussagen über deren Präzision treffen. In einer Studie mit öffentlich zugänglichen Daten konnte David Garcia aufzeigen, dass sich anhand von indirekten Kontaktinformationen der Wohnort einer Person auf einen Radius von unter 50 km festlegen ließe – weltweit, und das mit verhältnismäßig spärlichen Daten. Es ist davon auszugehen, dass die echten sozialen Netzwerke deutlich detailliertere Daten vorliegen haben und Shadow Profiles deshalb noch wesentlich präziser sind. Auch Informationen wie den Familienstand oder die sexuelle Identität konnte Garcia in seiner datenbasierten Simulation eines Schattenprofils mit recht wenig Aufwand nachvollziehen.

Sind Schattenprofile illegal?

Unser Bauchgefühl sagt uns, dass Schattenprofile illegal sein müssen. Tatsächlich bestehen hier jedoch Strafbarkeitslücken, wie Rechtswissenschaftlerin Liane Wörner, Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung, Medizinstrafrecht und Rechtstheorie an der Universität Konstanz und Direktorin des Centre for Human | Data | Society, aufzeigt. Die deutschen Gesetze, die für illegales Datensammeln herangezogen werden können, greifen bei Schattenprofilen meist nicht.

Maßgeblich sind in Deutschland die Gesetze zur digitalen Datenveränderung und zum Ausspähen von Daten.

  • Eine „Datenveränderung“ – das virtuelle Pendant zur Sachbeschädigung – liegt vor, wenn Daten (statt körperlichen Sachen) anderer verändert, unterdrückt oder unbrauchbar gemacht werden (§ 303a StGB). Nichts davon trifft auf Schattenprofile zu, die Daten selbst bleiben ja intakt.
  • Ein Ausspähen von Daten im Sinne von §202a StGB liegt vor, wenn sich jemand unbefugt „Zugang zu Daten, die nicht für ihn bestimmt und die gegen unberechtigten Zugang besonders gesichert sind, unter Überwindung der Zugangssicherung verschafft“.
    Auch hier ist das Problem offenkundig: Im Fall eines Schattenprofils wurden die Daten von den Nutzer*innen freiwillig im Netzwerk veröffentlicht, in der Regel für jede*n sichtbar. Eine Zugangssicherung gibt es nicht, das soziale Netzwerk kann jede*r betreten (und verlassen) – das Unternehmen, das es hostet, hat sowieso Zugang. Auch lässt sich schwer argumentieren, für wen öffentlich kommunizierte Mitteilungen innerhalb des Netzwerks nun bestimmt sind und für wen nicht.
  • Datenschutzrechtlich sind viele Fragen offen: Was wird geschützt, was nicht? Was darf geteilt werden, was nicht? Netzwerkverantwortliche müssen gegebenenfalls mit Bußgeldern nach § 83 Abs. 4 bis 6 DSGVO rechnen. Doch ob die Strafvorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes, namentlich § 42 BDSG, hier greifen können, ist zweifelhaft. Bestraft wird danach, wer nicht allgemein zugängliche personenbezogene Informationen verbreitet. Ob das auf von Nutzern geteilte Informationen überhaupt zutreffen kann, ist zweifelhaft.

„Strafverfolgung gibt es kaum“, schildert Liane Wörner, „und nur dann, wenn sich jemand wehrt. Das findet bei Schattenprofilen aber selten statt.“ Schließlich wissen die wenigsten Menschen überhaupt, dass ein heimliches Profil von ihnen existiert. In der Tat, das (Straf)recht schützt nicht vor der strukturierten Sammlung öffentlich zugänglicher Daten durch andere. In vielen Fällen sei eine Sammlung von Daten grundsätzlich sinnvoll, oft sogar die Idee von Diensten, etwa von Wikipedia, und erlaubt eine Vielzahl nützlicher Informationen für alle, vom präzisen Wetterbericht hin zur Stauprognose auf der Autobahn – oder auf der Konstanzer Fahrradbrücke.
 

„Meine Daten sind immer zugleich auch die Daten der Anderen“

„In der Öffentlichkeit herrscht noch kein umfassendes Bewusstsein darüber, dass die Verteilung der eigenen Daten im Netz stets auch die Verteilung von Informationen über andere bedeutet. Meine Daten sind immer zugleich auch die Daten der Anderen.“

Liane Wörner, Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung, Medizinstrafrecht und Rechtstheorie und Direktorin des Centre for Human | Data | Society

Liane Wörner ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung, Medizinstrafrecht und Rechtstheorie an der Universität Konstanz. Seit Oktober 2022 ist sie Direktorin des Centre for Human | Data | Society. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Auswirkungen neuer Verantwortungsstrukturen im Zuge der Technisierung für das Strafrecht sowie die (Neu-)Regelung des Lebensschutzes, insbesondere im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs.
 

Bei der Regulierung von digitalen Netzwerken neigen wir sehr häufig zu einer individualisierten Lösung: den Individuen die Kontrolle darüber zu geben, was sie auf der Plattform teilen. Das hilft aber nur begrenzt“, erläutert David Garcia. „Wenn wir glauben, dass der Schutz der Privatsphäre allein eine individuelle Entscheidung ist, dann verfehlen wir das größere Bild. Privatsphäre ist nicht nur ein individuelles Phänomen. Privatsphäre ist vielmehr eine kollektive Aufgabe.“

Der Informatiker warnt: „Individualisierte Lösungen werden nicht ausreichen, um unsere Privatsphäre zu schützen.“ Um Schattenprofile zu verhindern, empfiehlt er Regulierungen, die auf kollektiver Ebene greifen. „Ein Ansatz wäre, zentralisierte Datensammlungen zu verhindern, so dass nicht eine Person oder eine Institution die ganzen Daten in den Händen hält“, schlägt Garcia vor. Ferner sollten die Unternehmen aus seiner Sicht zur Einhaltung von Standards verpflichtet werden, die Schattenprofile verhindern und mehr Transparenz gewährleisten.

Garcia selbst forscht an technischen Ansätzen, wie Menschen vor Schattenprofilen geschützt werden könnten. Eine Idee ist, gegenüber den Netzwerken „Informations-Noise“ zu erzeugen – also die echten Daten zu schützen, indem man Netzwerke mit einem „Hintergrundrauschen“ an automatisierten falschen Daten füttert. Schattenprofile wären dann wertlos, weil sie auf Fehlannahmen beruhten. Das strukturierte „Erpuzzeln“ von Profilen würde erschwert bzw. unmöglich gemacht. Darin liegt freilich zugleich die Gefahr, das mit den nunmehr auf Fehlannahmen beruhenden Angaben „Fake History“ entstünde; es droht, wenn nicht gezielt zugleich mit verhindert, eine Problemverlagerung, warnt Liane Wörner. Weiterer Forschung bedarf es, um zu verstehen, wie dieses Rauschen einerseits die Präzision von Schattenprofilen und andererseits die Nutzbarkeit des Netzwerks beeinflusst – eine Forschung, der das Centre for Human | Data | Society nun nachgehen möchte.

Die Lösung muss multidisziplinär erfolgen

Garcia möchte zudem ein Modell erarbeiten, mit dem sich einschätzen lässt, ab welcher „roten Linie“ ein Netzwerk zu viele Daten besitzt, so dass Schattenprofile zu präzise werden. Er betont aber immer, dass eine Lösung nicht von technischer oder juristischer Seite allein erfolgen kann, sondern stets aus einer multidisziplinären Perspektive kommen muss, die zugleich die kulturellen Auswirkungen für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen im Auge behält.

Liane Wörner stimmt ihrem Kollegen zu. Für die Rechtswissenschaftlerin geht es nicht nur um einen juristischen Regulierungsmechanismus. Die zentrale Frage lautet für sie vielmehr: In welcher datafizierten, also von Daten gestützten und geprägten Welt wollen wir eigentlich leben? Und wie können wir diese sinnvoll gestalten?

„Das Recht wird viel zu oft auf die Rolle des Regulators reduziert, der erst ganz am Ende einsetzt, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Eine zentrale Aufgabe des Rechts ist aber die Gestaltung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen“, unterstreicht Wörner. Die Juristin sieht eine große Chance für unsere Gesellschaft, wenn wir deren Digitalisierung und Datafizierung bewusst und klug gestalten. Die Voraussetzung dafür ist aber eine multidisziplinäre Perspektive, in der die Rechtswissenschaft, die Informatik und die Kulturwissenschaft Hand in Hand zusammenarbeiten. Das Centre for Human | Data | Society will hier Pionierarbeit leisten.

„Unser Aufruf aus Konstanz ist, an gemeinsamen Konzepten des Daten-Sharings zu arbeiten. Wie wir gemeinsam eine sinnvolle Daten-Welt generieren können, deren Teil wir sind und die wir gemeinsam nutzen und gemeinsam steuern können. Ein schnelles Internet haben wir schon. Aber ein gutes Internet, das haben wir nicht. Gute Daten, die wollen wir haben. Und was das ist, darüber müssen wir diskutieren.“

Liane Wörner

Das Centre for Human | Data | Society (CHDS) wurde im Herbst 2022 an der Universität Konstanz gegründet. Das Forschungszentrum untersucht die Prozesse der Digitalisierung und Datafizierung in unserer (Daten-)Gesellschaft und stellt dabei den Menschen in den Mittelpunkt: Welche Interaktionen bestehen zwischen Mensch und Datengesellschaft? Was
für eine Datengesellschaft wollen wir und wie soll sie gestaltet werden? Das CHDS analysiert hierfür mit einer transdisziplinären Perspektive die technischen, rechtlichen, politischen, psychologischen, medienkulturellen, historischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der Datengesellschaft.

 

Jürgen Graf

Von Jürgen Graf - 20.09.2023