Etablierte Provisorien oder wie Zugehörigkeit von Geflüchteten vor Ort ausgehandelt wird
Wie Geflüchtete kommunal an- und unterkommen, untersuchte der Soziologe Dr. Philipp Schäfer in seiner Doktorarbeit am Beispiel der Stadt Leipzig. Nun erhält er eine besondere Auszeichnung für seine Forschung: Seine Dissertation wurde als zweitbeste Arbeit im Wettbewerb um den Lieselotte Pongratz-Preis prämiert. Die Studienstiftung des deutschen Volkes verleiht diesen Preis 2022 erstmals für herausragende gesellschaftswissenschaftliche Dissertationen. Die Jury hob das „beeindruckend umfangreiche Datenmaterial“ seiner Doktorarbeit hervor, wie 60 leitfadengestützte Interviews, Beobachtungsprotokolle und Zeitungsartikel.
Schäfer promovierte am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz bei dem Ethnologen Prof. Dr. Thomas Kirsch und forscht heute am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Seine Dissertation Etablierte Provisorien. Leipzig und der lange Sommer der Migration ist Mitte März im Campus-Verlag erschienen.
Züge voller Kriegsflüchtlinge, die in deutschen Städten ankommen: Aktuelle Bilder erinnern an den Sommer 2015, als viele Geflüchtete aus Syrien hier ankamen. Was ist heute anders in Ihrer Heimatstadt Leipzig?
Philipp Schäfer: Zunächst fallen mir Gemeinsamkeiten auf: Menschen oder Gruppen, die 2015 aktiv waren, setzen sich heute ebenfalls für die ankommenden Geflüchteten ein. Wieder eröffnen Notunterkünfte in der Stadt. Ich sehe also in der Art und Weise, wie diesen Menschen Hilfe und Unterstützung zuteilwird, einige Ähnlichkeiten.
Die Verfahren, die Anwendung finden, unterscheiden sich jedoch: Beispielsweise gibt es heute eine gewisse Freizügigkeit, wo sich die Geflüchteten niederlassen und dass sie Arbeit ergreifen können. Zumindest nach aktuellem Stand der Dinge durchlaufen sie nicht zwangsläufig ein strenges Asylverfahren, was ihnen sofort eine Unterkunft und Unterstützungsleistungen zuweisen, ihnen aber auch Rechte verwehren würde, etwa zu arbeiten. Insgesamt ist der Staat weniger involviert in die Aufnahme, die heute viel mehr zivilgesellschaftlich gestützt und getragen wird. Es ist unglaublich, wie schnell zivilgesellschaftliche Strukturen greifen.
© Dr. Philipp Schäfer
Wie der Umgang mit den Ankommenden verhandelt wurde und wird, darin stelle ich einen zentralen Unterschied fest. Diese Aushandlungsprozesse, mit denen ich mich in meiner Dissertation auseinandergesetzt habe, sind heute weniger konfliktreich als 2015. Grundsätzliche Fragen, ob, wo und wie viele Schutzsuchende heute aufgenommen werden sollen, stehen überhaupt nicht erst zur Disposition.
Herrscht in der Gesellschaft heute eine höhere Zustimmung für die Aufnahme Geflüchteter?
Die Geflüchteten, die im Sommer 2015 nach Deutschland kamen, waren vielen rassistischen Vorurteilen ausgesetzt, die auch im medialen Diskurs bedient wurden. Das ähnelt den Erfahrungen, von denen zum Beispiel afrikanische Studierende, die aus der Ukraine fliehen mussten, berichten.
Anders scheint es den ukrainischen Frauen und Kindern zu gehen, die in den letzten Wochen nach Deutschland flüchteten. Hier setzte sich ein anderer Diskurs über Verletzlichkeit durch, die in diesem Fall als höher wahrgenommen wird als bei den Geflüchteten 2015.
Was fasziniert Sie an der Aufnahmesituation von Geflüchteten?
Schon während meines Studiums beschäftigte ich mich damit, wie in Leipzig Geflüchtete untergebracht werden. Ich fand es spannend zu beobachten, wie Zugehörigkeit vor Ort ausgehandelt wird! 2012 war dort eine Debatte über die Dezentralisierung der Unterkünfte im Gange: Schließen wir die zentralen Sammelunterkünfte und bringen die Geflüchteten stattdessen in mehreren kleinen Unterkünften über die Stadt verteilt unter – nicht mehr am Stadtrand auf der grünen Wiese. Dies kam einem Paradigmenwechsel gleich! Der Plan wurde im Juli 2012 vom Leipziger Stadtrat beschlossen.
Was charakterisierte damals diese Situation?
Die dezentralen Unterkünfte für Geflüchtete rückten durch den Dezentralisierungsplan auf einmal mitten in die Stadt. Sie waren quasi omnipräsent, jedes Viertel, jede Nachbarschaft hatte nun eine solche Unterkunft. Und die Frage, wie eigentlich mit Geflüchteten umgegangen wird, sprang einem plötzlich ins Auge, man musste sich damit auseinandersetzen. In den Jahren zuvor wurde diese Frage zwar durchaus problematisiert, aber gleichzeitig räumlich aus dem Blickfeld geschafft.
© Dr. Philipp Schäfer
Im „langen Sommer der Migration“ 2015 verschärften sich Dynamik und Brisanz des Themas noch weiter. Und angesichts der seit 2014 und 2015 stark steigenden Ankunftszahlen wurde die Umsetzung des Dezentralisierungsvorhabens wieder eingeschränkt.
Der Titel Ihres Buches lautet „Etablierte Provisorien“ – widerspricht sich das nicht?
In meiner Dissertation vertrete ich das Argument, dass 2015 keine einmalige Situation darstellte, sondern es eine Geschichte der provisorischen Unterbringung Geflüchteter in den Städten und Gemeinden gibt. Mit etablierten Provisorien bezeichne ich nicht nur die Behausungen, sondern auch den Modus, wie die Unterbringung gehandhabt wurde. Etablierte Provisorien sind ein auf Dauer gestellter Zustand der Vorläufigkeit. Das hat etwas Widersprüchliches, schließt sich aber nicht aus. Was paradox erscheint, beschreibt eine Praktik, die die Prozesse des Ankommens verzögert und das Noch-nicht-Angenommensein verlängert.
Mich beschäftigte dabei die Frage, wie solche Zustände institutionalisiert und rationalisiert werden – etwa durch räumliche Ausschließungen, zeitliche Verzögerungstaktiken und moralische Bewertungen.
Welche Bedeutung hat das Lokale für den Aufnahmeprozess?
An der Gesetzgebung können die AkteurInnen vor Ort nichts ändern. Aber sie können Regelungen gewichten und unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Für mich war es bei der Arbeit besonders spannend, mehr über die Geschichte lokalen Engagements zu erfahren und zu beobachten, wie sich der Status der Initiativen entwickelt hat. Der Leipziger Flüchtlingsrat beispielsweise, 2015 ein zentraler Akteur, arbeitete seit den 90er Jahren daran, dass die Aufnahme von einem Verwaltungsakt zu einem Interesse der Öffentlichkeit wurde. Nach einem Finanzskandal wurde der Rat inzwischen aufgelöst.
Wie ging es den AkteurInnen vor Ort mit den sich etablierenden Provisorien?
Der Erfahrung des Provisorischen unterliegen natürlich die Geflüchteten, die für die Dauer ihres Asylverfahrens zahlreiche Einschränkungen hinnehmen, die teilweise rechtlicher Natur sind.
Für lokalpolitische AkteurInnen hatten Erfahrungen des Provisorischen einen doppelten Effekt: Einerseits verhindern etablierte Provisorien Irreversibilität. Sie lassen Dinge bewusst in der Schwebe, was wiederum Agieren ermöglicht. Dies ist insofern hilfreich, als Handlungsspielräume der lokalen Verwaltung mitunter stark eingeschränkt sind.
Andererseits ist es für lokalpolitische AkteurInnen auch nicht immer ideal, Dinge provisorisch zu halten. Das lässt sich am rechtlichen Status der Duldung erkennen, der paradigmatisch für ein etabliertes Provisorium steht: Kettenduldung heißt, dass eine temporäre Aufenthaltserlaubnis immer wieder erneuert wird. Und das schafft natürlich für die Betroffenen große Probleme, eine fortwährende Perspektivlosigkeit, und für die Verwaltung schafft und bindet es Arbeit, ist also keine Lösung.
Neben aller berechtigten Kritik muss man aber auch anerkennen, dass die Stadt Leipzig den Wandel, also die Dezentralisierung, umgesetzt hat. Und da kommen auch wieder konkrete AkteurInnen ins Spiel. Diese braucht es, denn lokale Migrationsregime können sehr träge sein.
„Etablierte Provisorien. Leipzig und der lange Sommer der Migration“ erscheint Open Access im Campus-Verlag. Die Veröffentlichung wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Publikationsfonds der Universität Konstanz.