Honigbienen stechen in größeren Gruppen seltener
„Mit einem Löffel Honig fängt man mehr Fliegen als mit einem Fass voll Essig“, lautet ein Sprichwort. Honigbienen hingegen wollen eigentlich niemanden fangen. Aber ihr Honig lockt zahlreiche Fressfeinde in die Kolonie. Fliegen sind noch leicht zu vertreiben, viele Räuber sind oft deutlich größer. Sie nehmen zahlreiche Stiche der Honigbienen in Kauf, damit sie an die süße Nahrung kommen. Um sie mit einem gemeinsamen Stechangriff abzuwehren, müssen sich die Honigbienen zusammenschließen.
Diese Verteidigungsreaktion wird in der Regel von vorübergehend spezialisierten Honigbienen, den so genannten Wächterbienen, ausgelöst. Sie überwachen die Umgebung der Kolonie. Wenn sie ein großes Tier entdecken, das sich dem Bienenvolk nähert, stechen die Wächterbienen den Eindringling entweder. Oder sie fahren als Drohhaltung ihren Stachel aus und schlagen mit den Flügeln, wobei sie manchmal zeitgleich in den Bienenstock zu den anderen Bienen fliegen.
© Nicolas Buenaventura„In beiden Fällen bewirkt ihr Verhalten die Freisetzung des Alarmpheromons, einer komplexen Geruchsmischung, die direkt am Stachel sitzt.“
Biologin Morgane Nouvian.
Honigbienen holen andere Bienen des Volkes zu Hilfe
Durch dieses chemische Signal werden andere Honigbienen in der Nähe alarmiert und an den Ort der Störung gerufen. Dort entscheiden sie, ob sie sich entweder an der Verteidigung beteiligen und den Räuber stechen oder ihn mit anderen Mitteln vertreiben. Das Alarmpheromon am Stachel spielt folglich eine wichtige Rolle bei der Verteidigung der Kolonie. Doch hat auch die Gruppengröße einen Einfluss?
Interdisziplinäre Studie zur Untersuchung der Auswirkung der Rahmenbedingungen auf die Abwehrreaktion einzelner Bienen
In einer interdisziplinären Zusammenarbeit entwickelten Nachwuchswissenschaftlerinnen vom Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour der Universität Konstanz ein Modell und eine Methodik, um herauszufinden, wie sich die Reaktion von Honigbienen auf das bei der Verteidigung ausgeschüttete Alarmpheromon je nach Gruppengröße verändert. Die Ergebnisse wurden kürzlich (15.09.2022) in PLOS Computational Biology veröffentlicht.
„Unser Ziel ist es, die Auswirkung der Rahmenbedingungen auf die Abwehrreaktion der einzelnen Bienen zu untersuchen“, sagt Hauptautorin Morgane Nouvian. Das Team konzentrierte sich hierfür auf die Gruppengröße, da frühere Studien zeigten, dass dieser Faktor aggressive Reaktionen bei sozialen Insekten beeinflussen kann.
© Elisabeth BökerMorgane Nouvian steht vor ihren Bienenstöcken auf dem Dach der Universität Konstanz.
„Dieses biologische Fragestellung stellte eine neue Herausforderung für die Computerwissenschaften dar“, sagt Informatikerin Petrov. „Soziales Feedback zu verstehen – also die Anpassung des kollektiven Verhaltens an Veränderungen der Gruppengröße –, erforderte den Umgang mit komplexen Modellen und begrenzten experimentellen Daten und damit die Integration modellbasierter und datengesteuerter Methoden.“
Zweigleisiger Forschungsansatz
Die Autorinnen beobachteten zunächst das Verhalten von Bienengruppen, die in einer Vorrichtung mit einer rotierenden Attrappe konfrontiert wurden. Das Forscherteam quantifizierte die Abwehrreaktion der Insekten. Dafür zählten sie am Ende eines jeden Versuchs die Anzahl der Stacheln in der Attrappe. Im nächsten Schritt verwendeten sie ein mathematisches Modell der Gruppendynamik, das die Wahrscheinlichkeit, ob eine einzelne Biene bei einer bestimmten Pheromon-Konzentration sticht, transparent mit dem im Experiment beobachteten Ergebnis ins Verhältnis setzt.
© Elisabeth BökerBienengruppen, die in einer Vorrichtung mit einer rotierenden Attrappe konfrontiert wird.
Das Verhalten Einzelner aus Gruppendaten zu extrahieren, sei aus Sicht der Informatik auf mehreren Ebenen herausfordernd, meint Petrov: „Es gibt bei Modellen über Gruppenverhalten viel zu viele Kombinationsmöglichkeiten und eine wachsende Anzahl von Modellparametern“, erklärt die Informatikerin. „Zudem sind Methoden zur Quantifizierung von Unsicherheitsfaktoren notwendig, um unbekannte Parameter oder die begrenzte Größe der Datenstichprobe mit einzubeziehen.“
Bienen berücksichtigen ihr soziales Umfeld bei ihrer Entscheidung zu stechen.
Die Zusammenarbeit zwischen InformatikerInnen und NeurobiologInnen eröffnete beiden Seiten eine neue Forschungsperspektive, wie die Autorinnen resümieren:
© Privat„Computertechnisch haben wir eine neuartige Methode vorgeschlagen, um individuelles Verhalten aus Populationsdaten zu extrahieren. Wir haben modernste formale Methoden und statistische Schlussfolgerungen kombiniert.“
Informatikerin Tatjana Petrov
Das Softwaretool der Autorinnen integriert alle Analyseschritte modular. Vom Doktoranden Matej Hajnal entwickelt und gewartet, ermöglicht die Software die Konzentration auf die biologische Fragestellung, während sie sowohl eine eindeutige Modellinterpretation als auch eine Quantifizierung der Unsicherheit liefert.
„Auf der biologischen Seite haben wir den Beweis erbracht, dass Bienen bei der Entscheidung zu stechen, ihren sozialen Kontext berücksichtigen“, fasst Nouvian zusammen.
Ein Markov-Kettenmodell von vier verschiedenen Stichszenarien für eine Gruppe von zwei Bienen.
„Zu dem Ergebnis kommen wir, indem wir unsere Analyse für jede Gruppengröße separat durchgeführt und dann die Dosis-Wirkungs-Kurve mit dem erhaltenen Alarmpheromon verglichen haben.“ Die Autorinnen zeigen, dass mit zunehmender Gruppengröße weniger weitere Bienen zu Hilfe fliegen – was als sozialer Bremsmechanismus zusätzlich zur Alarmpheromon-Kommunikation im Spiel ist.
Übertragbarkeit auf eine Reihe von anderen biologischen Systemen
„Unsere Methodik befasst sich zwar mit einem spezifischen sozialen Phänomen bei Honigbienen, kann aber auch als Proof-of-Concept für die aktuelle Herausforderung betrachtet werden, die Blackbox-Modelle des beobachteten kollektiven Verhaltens zu ‚öffnen‘ und interpretierbare Verhaltenshypothesen auf Ebene der Individuen zu erstellen“, sagt Petrov. Sie geht davon aus, dass sich ihr Ansatz auf eine Reihe anderer biologischer Systeme übertragen lässt. „Im Hinblick auf eine breitere Anwendung unseres Ansatzes stehen wir aber vor neuen rechnerischen Herausforderungen, insbesondere im Hinblick auf die Skalierbarkeit und die Quantifizierung von Unsicherheiten, z. B. bei großen Populationen, ungenauen Messungen und einer größeren kognitiven Kapazität von Individuen.“