Immun gegen Informationen

Eine Studie der Universität Konstanz untersucht die persönliche Einstellung zu Impfungen. Sie zeigt, dass vorgefasste Meinungen so widerstandsfähig sein können, dass sie gegen die Ansichten Anderer praktisch immun machen.
© Bild: Arek Socha auf Pixabay

Impfen oder nicht Impfen? Das ist eine der am meisten polarisierenden Fragen unserer Zeit. Das vorbelastete Thema wird hitzig diskutiert. Die Schuld daran, dass die emotional geführte Diskussion für die Gesundheit der Bevölkerung zur Gefahr wird, wird besonders gern Online-Plattformen zugeschoben, auf denen Impfrisiken hochgespielt und die positiven Wirkungen des Impfens angezweifelt werden. Zeigen diese Foren nicht besonders deutlich die problematische Tendenz, provokante Informationen besonders zu verstärken? Treiben sie die Menschen nicht immer tiefer hinein in die Meinungsblase? Zumindest ist dies das Narrativ, das überall zu hören und lesen ist.
 
In einer gerade im Fachjournal Vaccine veröffentlichten Studie wird nun erstmals im Detail untersucht , wie unsere Einstellung gegenüber dem Impfen (hier: der Grippeschutzimpfung) von Kräften im Internet beeinflusst wird – und erlaubt damit einen Blick in die psychologischen Mechanismen von Vorurteilen. Die Studie stammt von Psychologen der Universität Konstanz und zeigt entgegen den Erwartungen, dass bestehende Meinungen zum Impfen sehr widerstandsfähig gegen Radikalisierung sind, Diese Widerstandsfähigkeit scheint so hoch zu sein, dass vorgefasste Meinungen gegen äußere Einflüsse regelrecht immun sind.
 
"Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die persönlichen Einstellungen zum Impfen nicht der oft erzählten Mär von den Echokammern im Netz entsprechen, in denen Meinungen automatisch immer polarisierter werden", sagt der Psychologe Dr. Helge Giese, Erstautor der neuen Studie, der an der Universität Konstanz die soziale Dynamik von Informationsflüssen untersucht.

Dr. Helge Giese untersucht die Dynamik sozialer Einflüsse und Netzwerke. Seit 2016 ist er Forscher im Bereich "Sozialpsychologie und Entscheidungsforschung".


 
Die Debatte rund ums Impfen
Impfskepsis – ein Begriff, der den Widerwillen beschreibt, sich oder seine Kinder gegen vermeidbare ansteckende Krankheiten zu impfen – steht weltweit im Rampenlicht. Eine kleine Zahl von Impfgegnern erhält viel öffentliche Aufmerksamkeit. Die Wiederkehr der Masern in Großbritannien und den USA, wo diese Krankheit bereits für ausgerottet erklärt worden war, hat in anderen Ländern drastisches politisches Handeln ausgelöst. In Deutschland etwa wurde im November 2019 ein Gesetz verabschiedet, das die Masernimpfung für Kinder in Kinderbetreuungseinrichtungen sowie vor der Einschulung zwingend vorschreibt. In der öffentlichen Debatte über dieses Gesetzesvorhaben, wie auch in den Warnungen von Gesundheitsexperten vor der Impfskepsis überhaupt, ist das Narrativ von den gefährlichen Interaktionsmechanismen im Netz ein häufig wiederkehrendes Argument.
 
 
Skeptiker und "Echokammern"
"Nach allem, was wir aus unserer früheren Arbeit wussten, hielten wir die Möglichkeit für sehr real, dass jemand, der online nach Informationen über Impfungen sucht, leichter zum Impfskeptiker wird", sagt Prof. Wolfgang Gaissmaier, leitender Autor der Studie und Kopf der Arbeitsgruppe Sozialpsychologie und Entscheidungsforschung an der Universität Konstanz.
 
2015 hatten Gaissmaier und sein Team eine vielbeachtete Studie veröffentlicht, die zeigte, dass negative Informationen in sozialen Netzwerken weiter und schneller verbreitet werden als positive. Bei der Einstellung zu Impfungen schien es sich um eine Thematik zu handeln, bei der die Mechanismen der "sozialen Verstärkung von Risiko", wie die frühere Untersuchung sie gefunden hatte, greifen und alarmistische Ansichten übersteigern würden.
 
"Wir nahmen an, dass im Netz vorherrschende negative Informationen durch einen 'Echokammer-Effekt' noch weiter verstärkt würden", sagt Giese. Impfbefürworter, so die Erwartung, würden online ebenfalls enger zusammenrücken, und ihre Ansichten extremer werden. "Nach unserer Hypothese sollten zwei Dinge passieren: Gruppen, die einer Meinung sind, würden diese Meinung zunehmend extrem vertreten. Und dieser Effekt würde in der Gruppe der Impfgegner deutlich stärker ausfallen", erklärt Giese.

Professor Wolfgang Gaissmaier forscht zu Heuristiken, Risikowahrnehmung und -kommunikation sowie zur medizinischen Entscheidungsfindung. Er leitet die Arbeitsgruppe "Sozialpsychologie und Entscheidungsforschung" seit 2014.


 
Eine Runde "Stille Post"
Um diese Hypothesen zu testen, entwickelte ein Forscherteam der Universitäten Konstanz und Erfurt sowie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung ein neuartiges Experiment. Die Forscher gingen dafür einen anderen Weg als in manchen ähnlich gelagerten Untersuchungen, in denen Daten aus der Beobachtung von realem Verhalten (zum Beispiel Twitter-Nutzung) stammten: Sie machten die Weitergabe von Informationen über Impfrisiken in Online-Kommunikationsketten zur Aufgabe, und konnten durch gezielte Beeinflussung der Parameter im Experiment direkt die Polarisierung in der Informationsweitergabe messen.
 
Die Forscher simulierten das Ökosystem der Online-Kommunikation mit einer sogenannten "Diffusionskette", in der Botschaften über das Thema Grippeschutzimpfung von einer Person zur nächsten weitergegeben wurden. Schon der erste wichtige Schritt, Impfbefürworter und Impfgegner als Testpersonen zu finden, stellte sich als gar nicht so einfach heraus: "Es ist leicht, Menschen mit einer positiven Haltung zum Impfen zu finden", erklärt Helge Giese, "aber es war ziemlich schwierig, genügend Teilnehmer zu bekommen, die sich gegen die Grippeschutzimpfung aussprechen."
 
Die Teilnehmer wurden nach ihrer Einstellung teils gemischten, teils einheitlichen Gruppen zugewiesen, um zu vergleichen, ob Meinungen in Gruppen mit ähnlicher Meinung stärker polarisieren. Ein Teilnehmer in jeder Gruppe erhielt ein Informationspaket zur Lektüre und Auswertung, und wurde dann gebeten, diese oder jede andere Information zum Thema an den nächsten Teilnehmer in der Kette weiterzuleiten. Der Empfänger ging die so erhaltenen Informationen durch und sollte wiederum die für am wichtigsten gehaltenen Informationen an das nächste Glied in der Diffusionskette weiterreichen. "Der ganze Prozess war ein wenig wie ein 'Stille Post'-Spiel", kommentiert Dr. Hansjörg Neth, Mitarbeiter an der Professur von Wolfgang Gaissmaier und Ko-Autor der Studie.
 
Die Wissenschaftler konnten durch dieses Forschungsdesign steuern, ob die Teilnehmer Informationen erhielten, die mit ihrer vorgefassten Meinung übereinstimmten, oder solche, die ihr widersprachen. Indem sie in einheitlich denkende Gruppen zur Einstellung passende Informationen einspeisten, konnten die Forscher überprüfen, ob dies einen "Echokammer-Effekt" erzeugt. "Darin liegt die Stärke dieser Studie", erklärt Neth. "Wir gehen insofern über andere Untersuchungen hinaus, als wir diese Vorstellung von der Echokammer tatsächlich experimentell überprüft haben."
 
Die Forscher konzentrierten sich auf drei Aspekte der Kommunikation: Welche Informationen die Teilnehmer auswählten und der nächsten Person weiterleiteten; wie die Sicht der Teilnehmer auf das Thema durch neue Informationen beeinflusst wurde; und wie die Teilnehmer ihnen zugeleitete Informationen bewerteten. Das Ergebnis der Untersuchung war ziemlich erstaunlich.

Dr. Hansjörg Neth untersucht adaptives Verhalten und heuristische Entscheidungsfindung in Individuen und Kollektiven. Er forscht im Bereich "Sozialpsychologie und Entscheidungsforschung" seit der Gründung dieser Arbeitsgruppe in 2014.


 
Vorurteile und Filter
Die Teilnehmer filterten Information direkt und überaus gründlich. Die ersten Glieder der Informationsketten leitete fast nichts aus dem empfangenen Material weiter. "Fast alle Informationen verschwanden sofort", sagt Neth, "aber was uns ebenfalls verblüfft hat: Obwohl Menschen solchen Informationen mehr vertrauen, die zu dem passen, was sie ohnehin schon glauben, und obwohl sie auch fast nur diese Informationen weitergeben, haben wir keine zunehmende Polarisierung gefunden." Es gab keinen Hinweis, der die Annahme unterstützt hätte, dass Meinungen in gleichgesinnten Gruppen extremer werden. Stattdessen deutete die Auswertung des Experiments darauf hin, dass Menschen dasjenige ignorieren, was nicht zu ihren eigenen Ansichten passt.
 
Ist das nun gut oder schlecht? Sollten wir lediglich die Botschaft mitnehmen, dass es hoffnungslos wäre, Impfgegner vom Gegenteil überzeugen zu wollen? Helge Giese ist der Meinung, dass wir aus den Ergebnissen seiner Studie auch positive Schlüsse für die öffentliche Gesundheitskommunikation ziehen können: "Wir konnten zeigen, dass das Sprechen von 'Echokammern' mit Vorsicht beurteilt werden sollte. Entgegen unseren Erwartungen wurden impfskeptische Einstellungen nicht leichter weitergegeben, und die Ansichten in unseren bereits Meinungs-einheitlichen Gruppen wurden durch die soziale Interaktion auch nicht extremer. Unser nächster Schritt muss jetzt sein, dass wir die sozialen Dynamiken der Meinungsbildung selbst in den Blick nehmen. Wir müssen besser verstehen, woher polarisierte Ansichten eigentlich kommen, und wie wissenschaftliche Erkenntnisse die Menschen jedweder Einstellung erreichen können. Für die Impfung sollte sich die Gesundheitskommunikation besonders auf die Personen konzentrieren, die sich noch keine feste Meinung gebildet haben."
 
Der Blick aufs größere Ganze: Mechanismen der Meinungsbildung
Die nun vorliegende Studie hat Implikationen, die weit über das Gebiet der öffentlichen Gesundheit hinausreichen. Das in Deutschland und anderswo derzeit emotional diskutierte Thema Impfpflicht führt vor Augen, wie wichtig es ist, die Mechanismen der Meinungsbildung, der Weitergabe von Informationen, und der Änderung von vorgefassten Meinungen besser zu verstehen. Ein erweiterter Blick auf diese Mechanismen zeigt, dass sie ein bestimmender Faktor in zahllosen vieldiskutierten Phänomenen unserer Zeit sind, ganz gleich, ob man Debatten über das Klima, Migration und Integration, Konsumgewohnheiten oder Chancengerechtigkeit betrachtet, oder ob man auf die Formierung von Parallelgesellschaften, verschwörungstheoretischen Netzwerken oder Spekulationsblasen blickt.
 
"Mechanismen der sozialen Einflussnahme sind ein Gegenstand, der für viele global wichtige Themen von zentraler Bedeutung ist", meint Wolfgang Gaissmaier. "Es ist daher nur folgerichtig, dass wir ihnen hier in Konstanz strategische Bedeutung beimessen." An der Universität Konstanz sind zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Exzellenzcluster angesiedelt, das „Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour" und "The Politics of Inequality". An beiden wird Grundlagenforschung zu der Frage betrieben, wie Individuen Ansichten und Meinungen bilden und weitergeben, und wie diese Ansichten und Meinungen Gruppenverhalten hervorbringen.
 
Vier Principal Investigators, darunter auch Wolfgang Gaissmaier, sind in beiden Clustern aktiv. Ihre Forschungsfelder verbinden psychologische und ökonomische Aspekte kollektiven Verhaltens mit großem Interesse an der politischen Dimension gesellschaftlicher Wahrnehmungen und sozialer Mobilisierung sowie politischen Antworten auf Ungleichheit. Die vorliegende Studie fügt sich unmittelbar in die Bemühungen ein, soziale Einflussnahme, die Dynamik von Meinungen und die Polarisierung in menschlichen Kollektiven besser zu verstehen.

Carla Avolio und Paul Töbelmann

Von Carla Avolio und Paul Töbelmann - 17.12.2019