Mit Musik gegen Umweltver­seuchung kämpfen

Umweltzerstörung, Armut und Hungerkrisen – wie drücken Menschen in Afrika ihre Sorge und Ohnmacht musikalisch aus? Und wie setzen Künstlernnen Musik ein, um mehr Klimagerechtigkeit zu erreichen? Olusegun Stephen Titus forscht im Bereich Ökomusikologie, wie afrikanische Musik mit ökologischen und sozialen Missständen vor Ort zusammenhängt. In seinem Buch über Ökomusikologie, das er während seines Forschungsaufenthalts an der Universität Konstanz vollendet, geht es um die Politik des Erdöls, Ausbeutung, erzwungene Migration sowie Musik-Aktivismus im Nigerdelta.
© Sara Leigh Lewis

Nigeria ist heute einer der führenden Öl- und Gasproduzenten in Afrika. Können wir deshalb von einem reichen Land sprechen? „Nigeria ist reich und arm zugleich“, sagt Olusegun Stephen Titus, ein führender Forscher auf dem Gebiet der Ökomusikologie in Afrika. „Das Land ist reich an Öl, Gas und anderen Bodenschätzen, aber die Gewinne fließen in nur wenige Taschen, während die Bevölkerung unter sehr schlechten Lebensbedingungen leidet.“

Schon seit Jahrzehnten fördern Joint Ventures zwischen der nigerianischen Regierung und internationalen Ölkonzernen Öl im Nigerdelta. „Während Millionen von Nigerianern unter der extremen Armutsgrenze von 2,15 US$ pro Person und Tag leben, machen einige wenige, vor allem Regierungsbeamte und ausländische Unternehmen, unglaubliche Gewinne: mehr Geld, als die Banken vor Ort aufbewahren, weshalb die Profiteure es in Wassertanks verstecken oder im Boden vergraben“, sagt Titus und klagt im gleichen Atemzug über eine Kultur der Korruption: „Alles andere verschlechtert sich. Die Straßen gehen kaputt, werden aber nicht repariert, was zu vielen tödlichen Unfällen führt. Entführungen sind zu einem Geschäftsmodell geworden, so dass Menschen sich nicht mehr sicher fühlen können. Und in einer ökologischen Apokalypse sterben nicht nur Pflanzen und Tiere aus, sondern ist auch die menschliche Gesundheit gefährdet.“

Ölverseuchungen haben verheerende Auswirkungen auf das Ökosystem, und das nicht nur im Meer vor der nigerianischen Küste. Große Teile der Mangrovenwälder wurden zerstört und Flüsse, Böden und das Grundwasser durch ausgelaufenes Öl verseucht. Da das Land nicht mehr für Landwirtschaft nutzbar ist, leiden die Menschen täglich an Hunger. Außerdem verschmutzt das Abfackeln von Erdgas die Luft und setzt eine Vielzahl potenziell giftiger Chemikalien frei. „In Port Harcourt, das als Ölstadt bezeichnet wird, ist die Luft so verschmutzt, dass niemand seine Wäsche draußen trocknen würde“, schildert Titus.

© Olusegun Stephen Titus

Verschmutztes Ufer des Boodoo Flusses in einer der Ogoni Gemeinden.

Seit Jahrzehnten führt die enorme Umweltverschmutzung zu Konflikten und Protesten. So erzählt Titus:

„Die Demonstrierenden beschweren sich beispielsweise, dass die Regierung, die Eliten und die multinationalen Ölkonzerne ihr Land ruinierten. Und die Zusagen der föderalen Regierung, 13% der Gewinne mit den ölproduzierenden Bundesstaaten zu teilen, sind bei der Bevölkerung nicht wirklich angekommen. Verschmutzung und Hungersnot führten zu friedlichen Protesten, die die Regierung nicht unbeantwortet ließ. In den 1980er und 1990er Jahren beispielsweise ließ der damalige Staatschef einige der Protest-Anführer durch Erhängen töten und andere ins Gefängnis werfen. Weitere Aufstände und Unruhen im Nigerdelta waren die Folge.“

Olusegun Stephen Titus

Wie kommt jetzt die Musik ins Spiel? MusikerInnen sind ebenso Opfer der Rohstoff-Ausbeutung und resultierenden Umweltverschmutzung. „Die Künstler wollen ein globales Bewusstsein für die Probleme in Nigeria schaffen, sie wollen die Musik als Protestmittel einsetzen“, erklärt Titus. „Aber auch Sängerinnen und Sänger waren nicht vor Strafverfolgung sicher. Einer der berühmtesten, der Begründer des Afro-Beat Fela Anikulapo Kuti, wurde mehrmals angegriffen und eingesperrt, weil er über Korruption und den Diebstahl von Ölgeldern sang.“

Die Macht der Musik
Dennoch, so der Ökomusikwissenschaftler, entfachte diese Musik große Wirkung, allein indem sie sehr viele Menschen erreichte. Einige KünstlerInnen wie die Sängerin Nneka Lucia Egbuna und Ubrei-Joe Jeru traten im Rahmen der Proteste auf, andere Proteste wie Occupy Nigeria 2012 und ENDSARS 2019 wurden gleich als Konzerte organisiert, die Tausende besuchten. Daraufhin verbot die nigerianische Regierung regierungskritische Lieder, auch zum Thema Ökozid, in den Medien. Dass sich die Musik über das Internet weiterverbreitete, konnte sie aber nicht verhindern. Als Strategie, um gehört zu werden, spielen MusikerInnen, welche beispielsweise die traditionelle Koromuu Musik der Ogoni aufführen, nicht nur diese auf Hochzeiten oder Beerdigungen, sondern auch Lieder über Ölverschmutzung.

„Genau wie Dichtung, Schauspiel und Tanz-Performance kann Musik als Waffe fungieren und zum Kampf gegen die Umweltverschmutzung aufrufen.“

Olusegun Stephen Titus

erklärt Titus und singt eine Melodie von Nneka Lucia Egbuna: „They are taking our oils always, I will no longer be silent.“ In seiner Forschung, die verschiedene Genres wie Pop, Afro-Beat, Reggae, Blues, Folk und Gospels abdeckt, charakterisiert der Ökomusikologe unter anderem die akustische Ausgestaltung der verschiedenen Lieder: „Einige Musikinstrumente werden verwendet, um klagende Laute zu erzeugen und so das Klagen der Menschen oder geschundenen Wälder, Fische oder Vögel zu imitieren. Dissonanzen drücken oft Hoffnungslosigkeit aus, schwere und donnernde Klänge können Chaos wiedergeben.“

© Olusegun Stephen Titus

Eine Naturkatastrophe löste sein persönliches ökologisches Engagement aus: Die nigerianische Stadt Ibadan, wo er in Musik promovierte, wurde im August 2011 von einer Flutkatastrophe heimgesucht, bei der 102 Menschen starben und 600 weitere obdachlos wurden. „Ich wäre fast ertrunken“, erzählt er, „und dass ich wie durch ein Wunder überlebte, verstand ich als Zeichen, mich der Ökomusikologie zuzuwenden. Seitdem versuche ich, die Bevölkerung und die politischen Entscheider darüber aufzuklären, wie wichtig die Umwelt für das Überleben von uns allen ist.“
 

„Wenn es den Bäumen gut geht, geht es auch den Vögeln gut“.
Titus betreibt ethnografische Feldforschung; er führt Interviews mit MusikerInnen und besucht Gemeinden, um herauszufinden, welche Emotionen die Musik dort hervorruft und wie sie ökologische Probleme vermitteln kann. Die meisten der von ihm untersuchten Lieder behandeln ähnliche Themen – den Verlust von Lebensraum, das Aussterben von Tieren und Pflanzen, die andauernde Armut der Menschen und die fortschreitende Umweltverschmutzung, welche die Gesundheit der Menschen zerstört. „Traditionell haben die Nigerianer eine Art indigenes ökologisches Wissen, das sie auch in Musik und Gesängen ausdrücken“, so der Wissenschaftler. „In meiner Muttersprache Yoruba sagt man ‚Irorun igi ni irorun Eye‘: Wenn es den Bäumen gut geht, geht es auch den Vögeln gut. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn du andere schlecht behandelst, wirst du selbst leiden. Menschen und andere Lebewesen, wie Vögel und Pflanzen, brauchen sich gegenseitig. An dieses Wissen können die nigerianischen Menschen gut anknüpfen.“

Bessere Politik durch Musik?
„Ich denke, dass das Umweltbewusstsein in der Politik noch nicht wie erhofft gereift ist“, schätzt Titus. 

„Immerhin hat man die Forderungen in einigen Liedern aus dem Nigerdelta, ganz besonders in denen von Ubrei-Joe Jeru und Nneka Lucia Egbun, beantwortet, indem man ein politisches Konzept zur Umweltsäuberung ausgearbeitet hat. Aber die Umsetzung hat noch nicht begonnen, das ganze Thema von Umweltsanierung und Aufräumen läuft immer noch auf eine reine politische Absichtserklärung hinaus.“

Olusegun Stephen Titus

Er resümiert, dass die meisten positiven politischen Maßnahmen – wenn überhaupt – nur kurzfristig waren oder nur wenigen Menschen zugutekamen: „Manchmal spendierte die Regierung etwas Geld, um einigen Jugendlichen im Nigerdelta zu helfen, vor allem den lautstarken und militanteren. Aber langfristig ging alles weiter wie zuvor. Eine andere Strategie bestand darin, Demonstrierende an Universitäten im Ausland zu schicken, um sie außer Landes zu bringen. Dies bot jedoch zumindest einigen jungen Menschen eine Zukunftsperspektive.“ Titus weiß, dass dies eine langfristige Mission sein wird, gibt aber die Hoffnung nicht auf. Und er hat begonnen, selbst (Öko-)Musik zu komponieren.

https://www.youtube.com/watch?v=Z3QEEwBvp7Q
© Christine von Nell

Ursprünglich an der Obafemi Awolowo University (Ile-Ife, Nigeria), kam Olusegun Stephen Titus im April 2023 mit einem Stipendium der Humboldt-Stiftung an die Universität Konstanz in die Fachgruppe Anglistik/Amerikanistik. Titus ist ein Pionier der Ökomusikologie in Afrika und vollendet derzeit sein Buch "Ecomusicology: the Politics of Oil, Extractive Infrastructure, Forced Migration, Displacement and Music Activism in the Niger Delta of Nigeria". Darin zeichnet Titus die Entwicklung der afrikanischen Musik im Zusammenhang mit dem ökologischen und sozialen Verfall in einigen afrikanischen Ländern wie Nigeria, Südafrika, Niger, Sambia, Sudan und Ghana nach. Im Jahr 2021 gründete er die African Ecomusicology Society.
 

Titelbild: Öl-Förderung im Niger Delta, Foto: Sara Leigh Lewis; no changes made; license: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en

 

Marion Voigtmann

Von Marion Voigtmann - 21.08.2023