Möbelrücken in der Mikrowelt

Internationales Forschungsteam unter Leitung Konstanzer Physiker entdeckt Zustand ultraniedriger Haftreibung bei der Drehung mikroskopischer Objekte auf kristallinen Oberflächen.
© Hal Gatewood, Unsplash

Ist Ihnen beim Möbelrücken schon einmal aufgefallen, dass sich schwere Gegenstände leichter verschieben lassen, wenn sie beim Anschieben gleichzeitig gedreht werden? Viele Menschen machen dies intuitiv richtig. Ein internationales Forschungsteam aus Konstanz, Triest und Mailand (Italien) hat dieses Phänomen – die Verringerung der Haftreibung durch gleichzeitige Drehung – nun auf mikroskopischer Ebene untersucht.

In ihrer aktuellen Studie in der Fachzeitschrift Physical Review X fanden die Forscher heraus, dass die Verringerung der Haftreibung eines mikroskopisch kleinen Objekts auf einer kristallinen Oberfläche durch sogenannte Moiré-Muster beschrieben werden kann. Diese treten auf, wenn sich periodische Muster überlagern. Basierend auf diesem Konzept sagen die Forschenden einen ungewöhnlichen Zustand vorher, in dem mikroskopische Objekte unter Aufwendung eines minimalen Drehmoments in Rotation versetzt werden können. Dies könnte zukünftig die Konstruktion von Mikromaschinen mit ultraniedriger Haftreibung gegen Rotation ermöglichen.

Objekte in Bewegung setzen
Um einen Gegenstand in Bewegung zu setzen, muss er angeschoben werden, damit seine Haftreibung mit der darunterliegenden Oberfläche überwunden wird. Das gilt auch dann, wenn die sich berührenden Oberflächen sehr glatt sind. Die tägliche Erfahrung lehrt uns, dass die Haftreibung deutlich geringer ist, wenn der Gegenstand nicht nur geschoben, sondern gleichzeitig gedreht wird. Obwohl sich Gelehrte, wie Leonardo da Vinci, bereits vor mehr als 500 Jahren mit Reibungsphänomenen beschäftigten, ist die Beziehung zwischen Haftreibungskräften und Drehmomenten auch heute nicht vollständig geklärt. Umso erstaunlicher, da die gut erforschte Reibung bei geradlinig fortschreitenden Bewegungen eines Körpers (Translationsreibung) und Rotationsbewegungen eines Körpers (Rotationsreibung) auf die gleiche Wechselwirkung zwischen einem Objekt und der darunterliegenden Oberfläche zurückzuführen sind.

Noch ein Stück rätselhafter ist die komplexe Beziehung zwischen statischer Translations- und Rotationsreibung auf mikroskopischen Skalen, wo flache Kontakte nur einige hundert bis einige tausend Atome umfassen.

„Derartige Mikrokontakte sind beispielsweise in winzigen mechanischen Bauelementen vorhanden – den sogenannten mikro-elektromechanischen Systemen (MEMS) – deren Verhalten von Reibungseffekten dominiert wird.“

Prof. Dr. Clemens Bechinger, Studienleiter und Professor für Experimentalphysik an der Universität Konstanz

Die Rotationsreibung und ihr Zusammenspiel mit der Translationsreibung bei solch kleinen Kontakten ist noch weitestgehend unerforscht, da es technisch sehr anspruchsvoll ist, gut kontrollierte Drehmomente auf mikroskopisch kleine, rotierende Objekte anzuwenden.

Moiré-Muster als Schlüssel zum Verständnis
In ihrer aktuellen Studie, die experimentelle und theoretische Ansätze vereint, haben die Forschenden aus Konstanz, Triest und Mailand nun diese technische Hürde überwunden und die Rotationsreibung sowie ihr Zusammenspiel mit der Translationsreibung bei mikroskopisch kleinen Kontaktflächen im Detail untersucht. „Wir haben für unsere Experimente kristalline Cluster aus mikrometergroßen, magnetischen Kügelchen erzeugt und dann mit einer strukturierten Oberfläche mit sich regelmäßig wiederholenden Vertiefungen in Kontakt gebracht“, beschreibt Dr. Xin Cao, einer der Hauptautoren der Studie und Humboldt Stipendiat in der Arbeitsgruppe von Clemens Bechinger, den Ausgangspunkt der Experimente. Er führt fort: „Diese Anordnung ahmt die Kontaktfläche zwischen zwei auf atomarer Ebene flachen Oberflächen nach.“

Die zweidimensionalen Cluster, deren Kontakt zur Oberfläche aus jeweils 10 bis 1000 kugelförmigen Partikeln bestand, wurden dann mithilfe eines hochkontrollierbaren, rotierenden Magnetfeldes in eine Drehbewegung versetzt. Das minimale Drehmoment, das erforderlich ist, um einen Cluster in Rotation zu versetzen, entspricht dabei der statischen Rotationsreibung, vergleichbar zur statischen Translationsreibung, welche die minimale Kraft zur Erzielung einer geradlinigen Bewegung des Clusters charakterisiert.

Bei ihren Untersuchungen stellten die Forschenden fest, dass das Zusammenspiel von Rotations- und Translationsreibung durch die Eigenschaften sogenannter Moiré-Muster verstanden werden kann. Diese entstehen, wenn sich zwei oder mehr periodische Strukturen überlagern. „Einen optischen Moiré-Effekt kann man zum Beispiel bei feinmaschigen Gardinen beobachten, wenn diese Falten werfen und sich einzelne Lagen der Gardine aufeinanderlegen“, erklärt Dr. Andrea Silva, zweiter Hauptautor der Studie und Physiker an der International School for Advanced Studies (SISSA) in Triest. „Die entstehenden Muster reagieren äußerst empfindlich auf kleinste Relativbewegungen und weisen übergeordnete geometrische Strukturen auf, die in den sich überlagernden Strukturen selbst nicht vorhanden sind.

https://youtu.be/Y7iayDEaUO0

Video eines Clusters, der einem konstanten Drehmoment ausgesetzt ist. Niederenergetische Punkte (dunkel gefärbte Bereiche) ordnen sich periodisch auf dem Cluster an und bilden das Moiré-Muster zweier sich berührender Gitter. Während der Rotation, insbesondere um θ = 0°, ändern sich die Bereiche mit niedriger Energie drastisch in Größe und Abstand. © AG Bechinger, Universität Konstanz

Der Vorteil der gleichzeitigen Drehung
Zu den Experimenten zurückkehrend verbildlicht Andrea Silva: „Sie können sich den Kontakt zwischen dem Cluster aus magnetischen Partikeln und dem Untergrund in Bereichen, in denen sich die Regelmäßigkeit in der Struktur des Clusters und die in der Struktur der darunterliegenden Fläche überlappen, in etwa wie Eier vorstellen, die in einem Eierkarton liegen.“ Ohne die Anwendung äußerer Kräfte oder Drehmomente ist dieser strukturelle Überlappungsbereich maximal, was bedeutet, dass sich eine Vielzahl an Partikeln des Clusters in die Vertiefungen der in Kontakt stehenden Oberfläche einpasst. Dies führt zu einer starken Haftreibung.

Wird der Cluster mit einer Kraft in eine bestimmte Richtung angestoßen, verschiebt sich der Überlappungsbereich zum Rand der Kontaktfläche und wird kleiner. Eine hohe Anzahl an Partikeln verbleibt jedoch in den Versenkungen des Substrats, sodass eine vergleichsweise große Kraft notwendig ist, um den Widerstand des Clusters gegen die Bewegung zu überwinden und den Cluster vom Substrat abzulösen. Wird der Cluster dagegen mit einem Drehmoment verdreht, kommt es zu einer symmetrischen Schrumpfung des Überlappungsbereichs. „Das macht es deutlich einfacher, den Cluster anzuschieben und in Bewegung zu versetzen, da der strukturelle Überlappungsbereich durch das aufgebrachte Drehmoment bereits deutlich verkleinert wurde“, erklärt Xin Cao den reduzierenden Effekt des gleichzeitigen Verdrehens und Schiebens auf die Haftreibung.

Eine erstaunliche Vorhersage
Basierend auf den Eigenschaften der beobachteten Moiré-Muster konnten die Physiker nicht nur erklären, warum eine zusätzliche Rotation das Verschieben mikroskopischer Objekte erleichtert, sondern sie konnten zusätzlich Vorhersagen über die Abhängigkeit der Haftreibung gegen Rotationen von der Clustergröße machen: Sobald letztere einen bestimmten Schwellenwert überschreitet, nimmt die Haftreibung gegen Rotationen stark ab, was bei sehr großen Clustern zu einer ultraniedrigen Haftreibung führt. „Solch ein reibungsarmer Zustand ist zum Beispiel für die Herstellung und Funktionsweise kleinster mechanischer Bauelemente – von der atomaren bis zur Mikroskala – von hoher Relevanz und bringt uns der Realisierung kleinerer und effizienterer Maschinen näher“, schließt Clemens Bechinger.

  • Originalpublikation: Xin Cao, Andrea Silva, Emanuele Panizon, Andrea Vanossi, Nicola Manini, Erio Tosatti, Clemens Bechinger (2022) Moiré-pattern evolution couples rotational and translational friction at crystalline interfaces. Physical Review X
  • Hinweis: Die Publikation wird am 15. Juni 2022 in der Fachzeitschrift Physical Review X erscheinen. Für ein Preprint des Artikels kontaktieren Sie bitte kum@uni-konstanz.de.
  • Prof. Dr. Clemens Bechinger ist Professor für Experimentalphysik am Fachbereich Physik der Universität Konstanz. Dr. Xin Cao ist Postdoc in der Arbeitsgruppe Bechinger und Humboldt Stipendiat.
  • Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Alexander von Humboldt-Stiftung, Europäischer Forschungsrat (ERC), italienisches Ministerium für Bildung, Universität und Forschung (MIUR)

Dr. Daniel Schmidtke

Von Dr. Daniel Schmidtke - 10.06.2022