„Per Sie“ mit sich selbst?
Menschen reden gern mit sich selbst. Wir tun das eigentlich dauernd: Wir reden laut vor uns hin, während wir überlegen. Wir behaupten, was wir schon wissen. Manchmal befehlen wir uns sogar selbst. Mit besonderer Vorliebe aber stellen wir uns selbst Fragen: „Wo habe ich bloß den Autoschlüssel?“
Eine Frage wie diese scheint zunächst eine wunderliche Angewohnheit zu sein: Wir stellen eine Frage, auf die wir gar nicht erst eine Antwort erwarten. Wir wissen die Antwort ja bereits – oder wir wissen zumindest, dass wir die Antwort nicht kennen, wie im Fall des verlorenen Autoschlüssels.
Eine echte Frage fordert eine Antwort ein, so kennen wir das. Eine Frage hingegen, die nicht nach einer Antwort verlangt, ist eine sprachliche Besonderheit. Sprachliche Phänomene wie diese erforscht die Konstanzer Linguistin Prof. Dr. Regine Eckardt im Rahmen der Forschungsgruppe FOR 2111 „Questions at the Interfaces“ – mit einem besonderen Blick auf selbstgestellte Fragen.
Selbst-adressierte Fragen
Solche selbst-adressierten Fragen sind nicht nur allgegenwärtig, sondern für uns sogar so wichtig, dass viele Sprachen dafür eigene Satzformen haben. Zum Beispiel im Deutschen: „Wie es wohl meiner Tante geht?“ Das Verb wandert hier ans Ende des Satzes und das Wörtchen „wohl“ kommt hinzu. Für Muttersprachler wird klar: Hier ist keine Antwort gefordert, sondern der Satz drückt eher ein „sich wundern“ des Sprechers aus.
Besonders häufig wählen wir diese Satzform übrigens, wenn wir im Beisein von anderen mit uns selbst reden. Wir sprechen dann mit uns selbst, aber irgendwie doch zugleich mit anderen. Es ist eine Frage an sich selbst, die jedoch eine soziale Aufgabe erfüllt und jemanden miteinbezieht. „Wir signalisieren dem Gegenüber durch dieses Sprachmuster: Ich glaube nicht, dass du die Antwort auf diese Frage weißt. Ich fordere dich auch nicht auf, zu antworten. Aber es würde mich interessieren, was die Antwort ist“, erklärt Regine Eckardt.
„Oft ist die Frage der Auftakt zu gemeinsamen Spekulationen. Beide Sprecher tragen bei, was sie für wahrscheinlich oder relevant halten. Die Bezeichnung ‚conjectural question‘ – in etwa ‚Vermutungsfrage‘ – trifft diese Absicht ganz gut. Der Sprecher lädt ein, Vermutungen zum Thema auszutauschen.“
- Prof. Dr. Regine Eckardt, Professorin für Allgemeine und Germanistische Linguistik
Höflich zu sich selbst
Diese soziale Dimension der Selbstanrede tritt in anderen Sprachen noch deutlicher zutage, zum Beispiel im Japanischen und Koreanischen. Beide Sprachen besitzen eine Höflichkeitsform, mit der Personen angesprochen werden, die als höhergestellt erachtet werden. „Im Japanischen wird Höflichkeit am Verb markiert; es kommt eine Silbe mehr dazu, wenn die Äußerung sich an jemand Höhergestelltes wendet“, schildert Regine Eckardt.
Erstaunlicherweise kommt diese Höflichkeitsform in manchen Fällen auch bei selbst-adressierten Fragen zum Einsatz. Die Sprecherinnen und Sprecher sind dann sozusagen „höflich zu sich selbst“ – so als würden wir uns im Deutschen selbst „siezen“.
Ein Beispiel für selbst-adressierte Fragen im Japanischen mit und ohne Höflichkeitsform: Selbst-adressierte Fragen werden bevorzugt mit dem Zusatz "daroo" gebildet. Die Höflichkeitsform "desyoo" kommt zum Einsatz, wenn eine zweite Person anwesend ist.
Auf den ersten Blick scheint dies erneut widersprüchlich zu sein: Wir können uns ja kaum als höhergestellt gegenüber uns selbst betrachten. Untersuchen wir den Kontext solcher Sätze jedoch näher, so ergibt diese Sprachform durchaus Sinn: Die höfliche Selbstanrede wird in beiden Sprachen vor allem dann gewählt, wenn die Frage an sich selbst in Gegenwart anderer Menschen ausgesprochen wird. „Die Sprecherin muss sich in Gegenwart einer weiteren Person befinden, die höflich adressiert wird. Wir deuten das so, dass das Japanische eine Extraform von Fragen hat, um sich in Gegenwart von Dritten zu wundern, Neugier zu zeigen oder Interesse an einer Frage zu signalisieren“, so Eckardt.
Selbstgespräch mit sozialer Funktion
Erneut handelt es sich um eine selbst-adressierte Frage, die eine soziale Funktion erfüllt: Wir reden mit uns selbst, markieren durch die Höflichkeitsform aber, dass wir andere Menschen in unser Selbstgespräch miteinbeziehen und an ihrer Meinung interessiert sind.
„Die Höflichkeitsform scheint den Angeredeten sprachlich sichtbar zu machen — eventuell ein verstecktes ‚Hallo Sie!‘. Die Äußerung verpflichtet weitere Anwesende nicht zu einer Reaktion, aber sie würdigt ihre Gegenwart.“
- Prof. Dr. Regine Eckardt, Professorin für Allgemeine und Germanistische Linguistik
Murakami als Datenquelle
„Überraschenderweise können gerade ostasiatische Sprachen uns helfen, das an-sich-gerichtete Sprechen – im Allgemeinen und auch im Deutschen – besser zu verstehen“, schildert Eckardt. „Wir nutzen Romane von Haruki Murakami als Datenquelle – ein Autor, dessen Protagonisten besonders häufig mit sich selbst sprechen. Die Romane sind im Original auf Japanisch geschrieben, es gibt sie aber auch in deutscher und vielen anderen Übersetzungen.“ Der Vorteil ist: Die Übersetzer übernehmen die wesentlichen Faktoren und Begleitumstände der Rede vom Japanischen in die jeweils andere Sprache. Die Sprachwissenschaftler kennen also den Kontext der Rede und können die feinen sprachlichen Nuancen und Untertöne in ihre Analysen miteinbeziehen. Eine ideale Grundlage, um die Umsetzung desselben Phänomens in mehreren Sprachen zu erforschen.
Mit wem außer uns selbst reden wir also noch, wenn wir uns selbst fragen? „An sich selbst gerichtete Fragen sind eigentlich ‚Vermutungsfragen‘, die sich sehr wohl – und mit sehr spezifischen Absichten – an andere richten lassen“, zieht Regine Eckardt ihr Fazit.
Zur Person:
Prof. Dr. Regine Eckardt ist Professorin für Allgemeine und Germanistische Linguistik an der Universität Konstanz. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe FOR 2111 „Questions at the Interfaces“. Die Forschungsgruppe untersucht sprachliche Phänomene rund um Fragesätze, mit einem besonderen Fokus auf nicht-kanonische Frageformen wie rhetorische Fragen, Suggestivfragen, Echofragen sowie selbst-adressierte Fragen.