Risiken abschätzen und minimieren
Prof. Dr. Daniel Dietrich arbeitet, wie sein Kollege Prof. Dr. Marcel Leist, ebenfalls mit Organoiden, also künstlichen Organstrukturen. Er wünscht sich auch unter regulatorischen Gesichtspunkten eine noch stärkere Vernetzung von lokalen Expertisen auf diesem Gebiet. Dietrich ist Professor für Human- und Umwelttoxikologie an der Universität Konstanz, gewählter Experte des Europäischen Parlamentes für Risikoabschätzungen und Mitglied des SAM (Science Advice Mechanism der europäischen Kommission). Gemeinsam mit den Professoren Brunner, Leist und Amelio ist er am Konstanz Centre for Toxicology and Health Protection (KCTP) an der Universität Konstanz beteiligt, das künftig verschiedene toxikologische Forschungsansätze miteinander verbinden wird.
Ein wichtiger Aspekt der Toxikologie, mit dem sich Dietrich intensiv beschäftigt, ist die Gefährdung, die von natürlichen und künstlichen Substanzen auf den Menschen ausgeht. Dazu gehören Pflanzengifte, Cyanobakteriengifte, Pilz- bzw. Schimmelpilzgifte und andere Naturstofftoxine ebenso wie Weichmacher, die etwa in Kassenzetteln oder Plastikflaschen verarbeitet werden. „Ich interessiere mich nicht nur dafür, wie diese Gifte wirken, sondern insbesondere auch dafür, wie es zu einer Exposition kommt, wann und wie oft, in welchem Ausmaß und ob dies zu einem Risiko für den Einzelnen oder die breite Allgemeinheit führen kann“, erklärt der Toxikologe. Bei der Bewertung solcher Risiken ist es nicht nur wichtig, die Wirkung, die von der Substanz selbst ausgeht, korrekt einzuschätzen, sondern auch auf Politik- und Entscheidungsebene auf eine angemessene Regulierung hinzuwirken.
Ein praktisches Beispiel hierfür liefert Bisphenol A (BPA), eine chemische Verbindung aus der Gruppe der Diphenylmethan-Derivate, die in Plastikflaschen und Plastikspielzeug ebenso vorkommt wie in der Auskleidung von Konservendosen, Autoplastik und vielen weiteren aus Plastik bestehenden Gegenständen des täglichen Gebrauchs. BPA gilt in Fachkreisen als sogenannter endokriner Disruptor, als Stoff mit hormonähnlicher Wirkung. Diese Stoffe stehen im Verdacht, der Entstehung von Krankheiten wie Diabetes mellitus und Fettleibigkeit sowie zu Störungen der Schilddrüsenfunktion oder der kindlichen Entwicklung beizutragen.
„Das Problem mit BPA liegt nicht nur darin, dass es sich in hohen Konzentrationen schädlich auf den Menschen auswirken kann“, erklärt Dietrich. „Wir haben es gleichzeitig mit einer regulatorischen Problematik zu tun.“ Denn Bisphenol kommt auch in natürlicher Weise vor, beispielsweise in süßem Senf. Hierbei handelt es sich um Bisphenol-F, das dem BPA strukturell und in seiner hormonähnlichen Wirkung sehr ähnlich ist.
„Eine Frage, die ich mir als Toxikologe in diesem Zusammenhang stellen muss, lautet: Ist es gefährlicher, ein paar Mal die Woche Wurst mit Senf zu essen, als täglich Wasser aus Plastikflaschen zu trinken?“
Prof. Dr. Daniel Dietrich, Human and Environmental Toxicology
Beziehungsweise, warum regulieren wir die Exposition gegenüber BPA, nicht aber die von BPF, obwohl die tägliche Exposition in etwa ähnlich ist? Lapidar gefragt: Fokussieren wir den Blick auf eine Substanz, während wir die andere ignorieren, obwohl die Gesamtexposition schlussendlich das individuelle Risiko bestimmt?“
Um die toxische Wirkung von solchen Substanzen beim Menschen zu untersuchen, nutzt Daniel Dietrich sowohl in-silico- als auch in-vitro-Methoden, darunter auch künstliche Organstrukturen (siehe „Risikobewertung neu denken: Tierversuchsfrei und über Fachgrenzen hinaus“). „Das liegt daran, dass sich Umwelt- oder Naturstofftoxine sehr unterschiedlich auf Menschen und Tiere auswirken können und Tierversuche deshalb oft schlicht nicht ausreichen bzw. falsche Voraussagen liefern“, erklärt Dietrich.
„Tierversuche reichen nicht aus: Eine Ratte oder Maus ist kein Mensch.“
Prof. Dr. Daniel Dietrich, Human and Environmental Toxicology
So verhält es sich beispielsweise bei Giften wie Ochratoxin A und Cyanobakterientoxinen, wie das zu den zyklischen Peptidtoxinen gehörende Microcystin-LF. Beides sind natürlich vorkommende Toxine, die potenziell gesundheitsschädlich oder gar tödlich wirken können und denen Menschen ausgesetzt sein können, ohne dies überhaupt zu bemerken. Ochratoxin A ist ein von verschiedenen Schimmelpilzarten produziertes Gift, welches im Verdacht steht, beim Menschen Apoptose in der Nierenrinde und somit zu progredienten Nierenfibrosen und Nierentumoren beizutragen. Es kann bei der Reifung und Lagerung von Früchten, Getreide oder von Futtermitteln in höheren Mengen entstehen. Dementsprechend findet sich Ochratoxin A in Kaffee, Schnaps oder Wein, in Schweinefleisch, in Brot, in Früchten und in weiteren Nahrungsmitteln. „Der Fokus meiner Arbeit liegt darauf, als Teil der Risikoabschätzung zu etablieren, welche Mengen dieses Naturstofftoxins für den Menschen bzw. die menschlichen Nieren noch unbedenklich sind“, so Daniel Dietrich.
Hierbei geht es darum, anhand von Forschungsbefunden praktische Empfehlungen zu erarbeiten und die Praxis nachhaltig zu verbessern, um die entsprechenden Risiken zu minimieren: So wurde etwa beim Transport von Kaffee festgestellt, dass die seit Jahrhunderten etablierte Praxis, die Kaffeebohnen in Säcken zu transportieren, zu wesentlich geringeren Mengen an Ochratoxin A im Kaffee führt als beim Transport in großen Containern. „Das liegt daran, dass durch Schimmelpilz kontaminierte Säcke händisch aussortiert werden können, was beim Containertransport nicht möglich ist“, erklärt der Toxikologe. In den Containern kann sich der durch Kondenswasser begünstigte Schimmelpilz ungehindert ausbreiten. „Aufgrund von entsprechenden Tests können wir sagen, dass der Transport in Säcken maßgeblich dazu beiträgt, den Ochratoxin A Spiegel im Kaffee zu senken.“
Weiterlesen: Risikobewertung neu denken: tierversuchsfrei und über Fachgrenzen hinaus (Kapitel 10 von 10)
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