Schneckengehäuse zum Fischfang: Wie Delfine sich Jagdtechniken aneignen
Eine Studie der Universität Zürich unter Leitung der Konstanzer Biologin Dr. Sonja Wild (Exzellenzcluster Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour der Universität Konstanz) weist erstmalig nach, dass Delfine ihre Techniken zum Beutefang auch außerhalb der Beziehung zwischen Mutter und Kalb untereinander weitergeben und erlernen. Ihr kulturelles Verhalten ist demnach jenem von Menschenaffen ähnlicher als bisher gedacht. „Diese Ergebnisse sind ziemlich überraschend, da Delfine normalerweise die Jagdstrategien ihrer Mütter übernehmen. Unsere Ergebnisse zeigen jedoch, dass Delfine durchaus in der Lage und im Falle des Shellings auch motiviert sind, neue Jagdtechniken außerhalb der Beziehung zwischen Mutter und Kalb zu erlernen. Das trägt zum Verständnis bei, wie sich Delfine durch Verhaltensveränderung an variierende Umweltbedingungen anpassen können“, erklärt Sonja Wild. Die Studie wurde im Rahmen des Promotionsprojekts von Sonja Wild an der University of Leeds (Großbritannien) durchgeführt. Die Forschungsergebnisse wurden am 25. Juni 2020 in der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlicht.
Die Jagdtechnik „Shelling“
Die Delfine in Shark Bay in Westaustralien sind Forschenden wohlbekannt und werden seit über 35 Jahren intensiv erforscht. Mitte der 1990er-Jahre haben Forschende die ersten Fälle eines außergewöhnlichen Verhaltens dokumentiert, doch erst 2007 zeigte eine Fotoserie, dass es sich dabei um eine Jagdtechnik handelt, welche heute als „Shelling“ bezeichnet wird.
Shelling ist eine Technik, die Delfine anwenden, wenn sich ihre Beute in großen leeren Gehäusen riesiger Meeresschnecken versteckt. „Sie benutzen ihren Schnabel, um die Schneckengehäuse an die Oberfläche zu bringen, und schütten dann das nun in der Falle sitzende Essen in ihren Mund – wie die letzten Chips ganz unten in der Packung“, schildert Sonja Wild.
https://youtu.be/4mfLifOgedw
Soziales Lernen
In der Regel werden Techniken zur Nahrungssuche in Shark Bay von den Delfinmüttern an ihren Nachwuchs weitergegeben – was Forschende als „vertikales soziales Lernen“ bezeichnen. Diese Weitergabe von einer Generation an die nächste galt bisher als der einzige Weg, auf dem Delfine Techniken zur Nahrungssuche erlernen.
Die nun in der Zeitschrift Current Biology veröffentlichte Studie zeigt jedoch, dass manche Delfine in der Shark Bay diese Art der Nahrungssuche außerhalb der Beziehung zwischen Mutter und Kalb erlernt haben. Es wird angenommen, dass diese Delfine ihre Artgenossen innerhalb ihrer sozialen Gruppe beim Shelling beobachtet und dann die Technik selbst übernommen haben – was Forschende als „horizontales soziales Lernen“ bezeichnen, also Lernen innerhalb von Generationen.
Diese Erkenntnisse liefern den ersten quantitativen Beweis für eine horizontale Weitergabe einer Jagdtaktik bei Zahnwalen und ergänzen somit bereits bestehende Hinweise auf kulturelle Ähnlichkeiten zwischen Delfinen und Menschenaffen. Schimpansen, Gorillas und natürlich auch Menschen besitzen ebenfalls ein breites Spektrum an sozial erlernten Techniken zur Nahrungssuche.
Die Studie wurde im Rahmen des Promotionsprojekts von Dr. Sonja Wild an der University of Leeds (Großbritannien) durchgeführt. Sonja Wild ist zwischenzeitlich am Exzellenzcluster Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour der Universität Konstanz tätig.
Durchführung der Studie
Das internationale Forschungsteam unter der Leitung von Professor Michael Krützen vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich führte die Studie zwischen 2007 und 2018 im westlichen Golf von Shark Bay durch. Von einem Boot aus beobachteten sie Delfine (Indopazifische Große Tümmler) und dokumentierten, wie sich das Shelling-Verhalten in der Population ausbreitete. Das Team kombinierte Verhaltens-, Umwelt- und genetische Daten, um die Ausbreitung des Shelling zu dokumentieren. Die Ergebnisse zeigen auf, dass dieses Jagdverhalten durch soziales Lernen von Artgenossen innerhalb sozialer Gruppen weitergegeben wird.
Aus über 5.200 Begegnungen mit Delfingruppen identifizierten sie mehr als 1.000 verschiedene Individuen. Insgesamt wurden 42 Beobachtungen vom Shelling-Verhalten dokumentiert, die von 19 verschiedenen Delfinen durchgeführt wurden. Obwohl das Shelling eher selten zu sein scheint, dürfte sowohl die Zahl der Shelling-Ereignisse als auch der Individuen, die diese Jagdtechnik anwenden, in Wirklichkeit viel höher sein, da dieses Jagdverhalten jeweils nur wenige Augenblicke andauert und daher nicht in allen Fällen beobachtet werden kann.
Originalpublikation: Sonja Wild, William J.E. Hoppitt, Simon J. Allen, Michael Krützen. Integrating genetic, environmental and social networks to reveal transmission path-ways of a dolphin foraging innovation. Current Biology. 25 June 2020. DOI: 10.1016/j.cub.2020.05.069
Die Forschung wurde gefördert durch den Schweizerischen Nationalfond zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Seaworld Research & Rescue Foundation Australia, National Geographic Society, A.H. Schultz Stiftung, Claraz-Schenkung, Julius-Klaus Stiftung and W.V. Scott Foundation, sowie die Universitäten Zürich und Leeds.