Stress in der Tierwelt

Wie Stress zwischen Tieren übertragen wird, erforscht die Verhaltensökologin und Kollektivverhaltensforscherin Dr. Hanja Brandl vom Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour.
© Hanja Brandl

„Ich bin gestresst!“ Wir alle haben diesen Satz schon oft gesagt. Stress ist bei Menschen ein weit verbreitetes Phänomen. Er tritt auf, wenn wir in einer bedrohenden Situation sind oder uns überfordert fühlen, etwa zu viel Arbeit bewältigen müssen oder wenn uns akute Gefahr droht. Durch unser Verhalten und physiologische Veränderungen teilen wir anderen mit, dass wir gestresst sind. Somit kann Stress auch einen Informationsgehalt haben und in bestimmten Situationen sogar nützlich zum Überleben sein. Andererseits führt die massive Verbreitung von Stress, der sich von einem Individuum auf andere übertragen lässt, in Gruppen, etwa bei Massenpaniken, nicht selten zu gefährlichen Situationen.
 
Doch nicht nur wir Menschen, auch Tiere erleben und übertragen Stress, wie Kollektivverhaltensforscherin Dr. Hanja Brandl vom Exzellenzcluster Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour der Universität Konstanz erforscht. In einer jüngst im Journal Proceedings B erschienen Arbeit zeigt sie, dass die Übertragung von Stress ein Phänomen ist, das sich über verschiedene Spezies hinweg beobachten lässt. Die Studie wurde gemeinsam mit ihren Mitautoren Prof. Dr. Jens Pruessner, Professor für Neuropsychologie an der Universität Konstanz, und Prof. Dr. Damien Farine, Professor für Evolutionsbiologie an der Universität Zürich, verfasst.  

Stress ist evolutionär verankert
„Wiederholt konnte gezeigt werden, dass sich Stress von einem Menschen auf den anderen übertragen kann“, sagt Brandl. „Es wird dabei oft eine ähnlich starke physiologische Reaktion ausgelöst, obwohl man den Stress selber nie erfahren hat.“ Sie wollte daher wissen, was über Stress im Tierreich bekannt ist. Weil nahezu alle Tiere ein ausgeprägtes Sozialleben haben, war es für sie naheliegend, dass Stressübertragung auch in der Tierwelt stattfindet. Und tatsächlich fand Brandl die These in bisherigen Arbeiten, die sie für diese Studie auswertete, bestätigt: „Tierpartner können genauso unter Stress stehen wie der Freund, dem etwas Schlimmes wiederverfahren ist. Stress gilt als evolutionär tief verankert und läuft bei allen Wirbeltieren ähnlich ab“, lauten ihre Schlussfolgerungen.

Brandl will daher mit KollegInnen mit weiteren empirischen Studien an Vögeln, Mäusen und Menschen erforschen, welche Auswirkungen Stress auf die Gruppe hat, etwa abhängig von der Anzahl der Individuen, die vom Stress betroffen sind. Sie vermutet, dass genau dies eine zentrale Stellschraube für die Übertragung oder Abfederung von Stress ist. Denn Stress wird in Gruppen nicht nur verstärkt, er kann auch gemildert werden.

Stressfaktoren entschlüsseln, um Artenschutz zu stärken
Doch wann sind Tiere in der Natur gestresst? Zu nennen sind an erster Stelle natürlich vorkommende Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sind. Raubtiere zählen dazu. Wenn solche Faktoren häufiger als gewohnt auftreten, artet es in ungesunden Stress aus. Menschliche Einflüsse erhöhen die Stressfrequenzen: „Auch vermehrte Habitatveränderungen oder Lärm- und Lichtverschmutzungen haben Auswirkungen. Der Lebensraum der Tiere wird dadurch massiv eingeschränkt“, berichtet Brandl. Tiergruppen werden durch Bebauungen getrennt, Straßen müssen überquert bzw. der Lärm ausgehalten werden. Nicht selten schlafen Tiere direkt neben Straßenlaternen. „Tiere sind teilweise flexibel, sie können sich darauf durchaus einstellen“, sagt Brandl. Zudem reagiere jedes Individuum unterschiedlich sensibel auf die Stresssituationen: „Durch Stressübertragung können am Ende aber doch mehr Tiere Stress ausgesetzt sein, auch Gruppenmitglieder die sonst nicht direkt von der Störung betroffen wären. Und irgendwann bringt die Stressreaktion - die Anpassungen, die sonst helfen, Stressoren wie Fressfeinden besser zu entkommen - den Tieren keinen Überlebensvorteil mehr.“ Nicht nur die Gesundheit der Tiere ist dadurch gefährdet, auch das Sozialgefüge in Gruppen ändert sich. 

© Dr. Elisabeth Böker

Wenn wir wissen, wie die zugrundeliegenden Mechanismen ablaufen, und dabei auch die soziale Dynamik in Gruppen mehr berücksichtigen, können wir Tiere besser schützen.

Dr. Hanja Brandl

 
Auch uns Menschen werden die Erkenntnisse aus der Tierwelt von Nutzen sein, betont die Forscherin: „Wir haben die Schwierigkeit, dass wir am Menschen die Funktionalität von Gruppen unter Stress in natürlichen Szenarien nicht gut messen können.“ Daher führen sie nun ihre Studien durch, bei denen sie Tiere intensiv beobachten, die etwa gemeinsam die Futtersuche angehen, die Brut aufziehen oder ihre Bewegungen mit anderen synchronisieren, um in Zukunft auch auf die Stressübertragung bei Menschengruppen besser reagieren und helfen zu können.


 

Dr. Elisabeth Böker

Von Dr. Elisabeth Böker - 24.05.2022