Tierbewegungsdaten auswerten – ohne Programmierkenntnisse
Dank hochentwickelter, kostengünstiger Tiersender ist es heute möglich, die Erforschung des Verhaltens von Wildtieren mit „Big Data“ voranzutreiben. Bislang konnten in diesem „goldenen Zeitalter des Tier-Trackings“ jedoch nur Menschen mit Erfahrung in Datenanalyse sinnvolle Erkenntnisse gewinnen. Ein neues System des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie (MPI-AB) und der Universität Konstanz ändert dies jetzt. Mit der Plattform MoveApps können WissenschaftlerInnen und WildtierschützerInnen die Bewegungsdaten von Tieren einfacher auswerten – ein Gerät und Browser genügen – und so reale Probleme lösen.
Das System ist mit der Datenbank Movebank verknüpft, in der Bewegungsdaten von weltweit über tausend Tierarten gespeichert sind. Movebank wurde vom MPI-AB entwickelt und wird von der Max Planck Computing and Data Facility (MPCDF) gehostet. Diese Tracking-Daten können in MoveApps übertragen werden, so dass die NutzerInnen der Daten komplexe Analysen durchführen und sie interpretieren können. Beispielsweise könnte ein Ranger so die Tiere im Park im Auge behalten und täglich eine Karte mit deren Aufenthaltsorten erstellen. Oder eine Naturschutzorganisation, die sich um gefährdete Arten kümmert, könnte eine Warnung erhalten, wenn eine plötzliche Häufung von GPS-Punkten den Tod eines Tiers andeutet.
© Corinne Kendall, North Caroline ZooEine Ansammlung an Geiern führt zu einer Häufung von GPS-Punkten.
Das Team hinter „MoveApps“ beschreibt in einem aktuellen Artikel im Journal Movement Ecology, wie die offene, serverlose Plattform einerseits ProgrammiererInnen mit andererseits DatenanwenderInnen, die Analysetools benötigen, zusammenbringt. Die von den ProgrammiererInnen entwickelten Tools sind auf der Plattform öffentlich zugänglich, können von NutzerInnen durchsucht und für Analysen verwendet werden – mit nur wenigen Klicks auf einer benutzerfreundlichen, webbasierten Oberfläche.
Das Ziel ist es, Big Data im Bereich Tiertracking für die Lösung relevanter Probleme einzusetzen, indem Bewegungsdaten schnell und einfach analysiert und gedeutet werden können.
„Man braucht keinen Abschluss in Datenwissenschaften, man muss nicht an einer Universität arbeiten, man braucht weder Softwarelizenz noch einen großen Computer", sagt die Erstautorin Andrea Kölzsch, Projektleiterin von MoveApps und Postdoktorandin am MPI-AB. „Man muss nur eine Fragestellung haben, die man mit den Tiertracking-Daten beantworten kann.“
Schnelle Reaktion durch Analyse nahezu in Echtzeit
Als der Zoo von North Carolina vor sieben Jahren begann, afrikanische Geier zu besendern und zu tracken, verbrachten die Mitarbeitenden des Zoos täglich Stunden damit, die GPS-Daten zu analysieren, um herauszufinden, ob sie nach den Vögeln sehen mussten. Weltweit ist der Rückgang von Vögeln bei den afrikanischen Geiern am gravierendsten, da die Tiere häufig mit Pestiziden belastete Kadaver fressen und daran sterben. Da ein vergifteter Kadaver innerhalb weniger Stunden mehr als hundert Geier töten kann, müssen TierschützerInnen schnell erkennen, wenn eine Häufung von GPS-Punkten besenderter Vögel eine Geiermahlzeit andeutet.
„Früher haben wir die GPS-Daten manuell in unser Tool eingegeben, die Vögel mittels Analyse gruppiert und dann selbst entschieden, ob es sich um eine echte Futtersituation handelte“, sagt Corinne Kendall vom North Carolina Zoo, die das Geierprojekt leitet. „Jeden Tag war das eine zweistündige Aufgabe.“
MoveApps hat diesen zweistündigen Aufwand in eine simple E-Mail verwandelt, die den Mitarbeitenden jeden Morgen automatisch zugestellt wird. Einmal am Tag werden die Daten der Geier-Sender automatisch an die Movebank geschickt und von dort aus in MoveApps übertragen, wo sie sofort analysiert werden. Die Mitarbeitenden erhalten eine E-Mail mit den Standorten von Ansammlungen der Vögel und können schnell darauf reagieren – nahezu in Echtzeit.
© Max-Planck-Instituts für VerhaltensbiologieMoveApps hat den manuellen Aufwand der MitarbeiterInnen des North Caroline Zoos automatisiert. Eine simple E-mail warnt die MitarbeiterInnen nun aufgrund der Daten, die in nahezu Echtzeit analysiert werden.
Wie alle Tools der Open-Source-Plattform MoveApps kann auch dieses Analysetool für Tieransammlungen von jedermann kostenlos genutzt werden. NaturschützerInnen, die ähnliche Problemstellungen haben, tun das bereits. Zudem ist MoveApps nahtlos mit „Earth Ranger“ verbunden, einer Software zur Datenvisualisierung und -analyse in Echtzeit, die von Schutzgebietspersonal, ÖkologInnen und BiologInnen in mehr als 50 Ländern genutzt wird. Dadurch erweiterte sich der Wirkungskreis von MoveApps erheblich und es wurde Teil einer operativen Schnittstelle zum Schutz von Wildtieren und ihren Lebensräumen
Kendall erklärt: „MoveApps hat nicht nur die Analyse unserer Tracking-Daten verbessert, sondern auch Echtzeit-Untersuchungen über das Verhalten und den Schutz von Geiern ermöglicht. Systeme wie MoveApps werden eine wichtige Ergänzung bei der Nutzung von Telemetriedaten für reale Anwendungen sein.“
Nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Analyse
MoveApps besteht aus analytischen Modulen, sogenannten Apps, die auf Tracking-Daten zugreifen und diese analysieren. Wie Legosteine können sie zu Analyseabläufen zusammengeklickt werden. Ein Analyseablauf könnte zum Beispiel aus einem Block zum Zeichnen der Daten, einem Block zum Bereinigen der Daten und einem Block zur Visualisierung auf einer Karte bestehen.
„Technisch gesehen sind die Analysen, die man erstellen kann, unbegrenzt“
Kamran Safi, Gruppenleiter am Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie
Die meisten Apps sind in R programmiert, der von vielen BewegungsökologInnen bevorzugten Software, da sie Open-Source-Code für die Analyse komplexer Datensätze über das Tierverhalten bietet. R war jedoch für einige DatenanwenderInnen ein großes Hindernis bei der Analyse ihrer Daten, da es Programmierkenntnisse erfordert. „Die meisten Forschungs- oder Umweltschutzgruppen haben, wenn überhaupt, nur einen einzigen Datenwissenschaftler im Team. Diese Person ist typischerweise ständig überlastet, und das macht die Datenanalyse sehr langsam", sagt Kölzsch.
Mit MoveApps müssen DatenanwenderInnen nicht selbst programmieren, da sie die richtige Person für die Entwicklung von benötigten Tools erreichen können. Diese Tools stehen dann wiederum der gesamten Gemeinschaft zur Verfügung. Sobald eine App im System ist, können NutzerInnen sie einfach mit einem Click auswählen und verwenden. Und da die Programmierung Open-Source ist, kann die Gemeinschaft wiederum zur Verbesserung des Codes beitragen.
Zudem können die Arbeitsabläufe veröffentlicht werden, was den Programmierenden Anerkennung verschafft und wirklich reproduzierbare Analysen ermöglicht.
„Die Veröffentlichung des Software-Quellcodes und seiner Dokumentation, zusammen mit den Daten in Movebank, schließt eine Lücke darin, Forschungsergebnisse transparent und reproduzierbar zu machen", sagt Mitautor Gabriel Schneider vom Kommunikations-, Informations-, Medienzentrum (KIM) der Universität Konstanz, der sich für den offenen Code von MoveApps verantwortlich zeichnet. „Indem wir jeden Arbeitsablauf mit umfangreichen Metadaten beschreiben, sind NutzerInnen in der Lage, ihn auch künftig zu verstehen und zu nutzen."
Cloud-native Computing-Architektur
Laut den Autoren ist MoveApps die umfassendste, nachhaltigste und sicherste Plattform für die Analyse von Tierbewegungen, unter anderem dank seiner serverlosen, Cloud-nativen Computing-Architektur. Alle Daten werden auf einer Cloud-basierten Infrastruktur gespeichert und analysiert. So können leistungsstarke Analysen in Sekundenschnelle durchgeführt werden, ohne dass die NutzerInnen einen schnellen Computer benötigen.
„MoveApps weist den Weg in eine demokratischere, emanzipiertere und kreativere Zukunft, in der die Wissenschaft allen offensteht, unabhängig davon, ob sie sich die notwendige Hard- und Software leisten können“, sagt Kölzsch.
In der Cloud werden Apps als unabhängige Container implementiert, wodurch sie effizienter ausgeführt werden können und das Risiko minimiert wird, dass sich ein Fehler in einem Container auf andere im Workflow auswirkt. MoveApps wird derzeit in der MPCDF High Performance Computing (HPC) Cloud gehostet und ist für alle NutzerInnen kostenlos.
MoveApps wurde für Flexibilität entwickelt: Wenn die Nachfrage in der Zukunft steigt oder der Bedarf an schnellerer Verarbeitung von Workflows dringlicher wird, kann MoveApps sowohl innerhalb des MPCDF wachsen als auch potenziell auf öffentliche Clouds zurückgreifen, die von kommerziellen Partnern angeboten werden.
„Durch die Entkopplung von MoveApps von der statischen Infrastruktur haben wir das System so aufgebaut, dass es effizient und langfristig skalierbar ist“, sagt Brian Standley, der das Projekt am MPCDF unterstützt.
Publikation: Andrea Kölzsch, Sarah C. Davidson, Dominik Gauggel, Clemens Hahn, Julian Hirt, Roland Kays, Ilona Lang, Ashley Lohr, Benedict Russell, Anne K. Scharf, Gabriel Schneider, Candace M. Vinciguerra, Martin Wikelski, Kamran Safi (2022) MoveApps - a serverless no-code analysis platform for animal tracking data. Movement Ecology (DOI: 10.1186/s40462-022-00327-4)