Ungleichheit und Bildung heute

Axinja Hachfeld ist Juniorprofessorin für Unterrichtsforschung mit Schwerpunkt Heterogenität. Sie forscht zur Kompetenz und zu den Einstellungen von Lehrkräften, zu geschlechtsbezogenen Unterschieden im Bildungssystem und zu Diversität und Inklusion. Im Interview erklärt sie Ungleichheitsforschung zu Bildungsthemen und die Rolle des interdisziplinären Exzellenzclusters "The Politics of Inequality".

Warum ist Ungleichheitsforschung heute wichtig?

Axinja Hachfeld: Das ist sie immer! Wesen und Legitimation von Ungleichheiten treiben die Wissenschaft wie die Gesellschaft zu allen Zeiten um. In der Bildungsforschung ist die Untersuchung von Ungleichheit spätestens seit den 1960er Jahren zentral, parallel zu der Debatte um Bildung und Chancengleichheit. Auch die Universität Konstanz war damals schon treibende Kraft, Ralf Dahrendorf hat herkunftsbedingte Ungleichheiten in den Bildungschancen zum Forschungsschwerpunkt gemacht. Das Clusterthema Ungleichheit ist an der Universität zumindest in meinem Bereich also ein Dauerbrenner.

Aber wenn wir mal beim „heute“ im Unterschied zu früher bleiben…

… dann sieht man, dass über Ungleichheit wieder stärker geforscht und debattiert wird, auch in und durch soziale Medien. Ich denke, Ungleichheiten machen sich in allen Lebensbereichen bemerkbar. Ob es um Ursachen oder tragfähige Lösungen für die großen Herausforderungen geht, ob um Ressourcenverteilung gestritten wird oder um Teilhabe und Mitbestimmung: Es geht um Aspekte sozialer Ungleichheit.
Bei der Bildung rückt das Thema in regelmäßigen Abständen in den Fokus, wenn Ergebnisse aus internationalen Schulleistungsstudien veröffentlicht werden. Mich persönlich interessieren die Ergebnisungleichheiten in Bezug auf Bildung. Ungleichheit – zumal im Bildungssektor – wird übrigens nicht automatisch als Ungerechtigkeit wahrgenommen. Ob das passiert, liegt an unseren eigenen und gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen. Hier setzt dann auch unser Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ an.

„Das ist sie immer! Wesen und Legitimation von Ungleichheiten treiben die Wissenschaft wie die Gesellschaft zu allen Zeiten um.“

Axinja Hachfeld auf die Frage, warum Ungleichheitsforschung heute wichtig ist.

Wie sind Sie zur Ungleichheitsforschung gekommen?

Vor allem durch die Ergebnisse der ersten internationalen Schulleistungsstudien, der PISA-Schock und all das. Diese Studien zeigten, dass in Deutschland der soziale Gradient besonders ausgeprägt war, das ist die Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft eines Kindes. Als Psychologin hat mich besonders die Rolle der Lehrkräfte und ihrer professionellen Kompetenz interessiert; dazu zählen auch Überzeugungen, Werthaltungen und Motivation. In meiner Forschung beschäftige ich mich mit den migrationsbezogenen Einstellungen und Überzeugungen von Lehrkräften. Ich möchte wissen, wie sich Überzeugungen auf das Unterrichtsverhalten auswirken. Wir konnten zeigen, wie wichtig multikulturelle Überzeugungen sind, wenn es darum geht, individuell auf Kinder mit Migrationshintergrund einzugehen – Lehrkräfte, die eher auf Gemeinsamkeiten als auf Ungleichheiten schauen, sind dazu weniger in der Lage.

Der Exzellenzcluster arbeitet ja sehr interdisziplinär. Wie sehen Sie den Stellenwert interdisziplinärer Forschung im Kontext von Ungleichheit?

Bildungsforschung ist immer interdisziplinär, das Fach definiert sich über den Untersuchungsgegenstand und verwendet sehr unterschiedliche Ansätze. Bei komplexen Themen sind verschiedene Blickwinkel nicht nur Bereicherung, sondern Voraussetzung, um sie zu begreifen. Bei Ungleichheit gibt es nicht nur verschiedene Dimensionen, sondern die Dimensionen beeinflussen einander gegenseitig. Denken wir nur mal an die Wechselwirkungen zwischen sozioökonomischen Status, Herkunft, Sprache, Geschlecht usw. Der Werkzeugkasten einer einzelnen Fachdisziplin reicht nicht aus, um Ungleichheit in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität zu begreifen. Attraktiv am Cluster ist, dass wir uns nicht nur verschiedener Werkzeugkästen bedienen können, sondern durch unsere interdisziplinäre Arbeitsweise auch neue Ansätze entwickeln werden.

Axinja Hachfeld ist Juniorprofessorin für Unterrichtsforschung mit Schwerpunkt Heterogenität an der Universität Konstanz und vertritt dort zurzeit die Professur für Erziehungswissenschaft – eine Brückenprofessur zwischen der Universität Konstanz und der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Außerdem ist sie Mitglied des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“.

Welche Rolle spielt die Ungleichheitsforschung, wie sie im Cluster betrieben wird, in Ihren eigenen Forschungsinteressen?

Besonders interessant finde ich am Cluster, dass es nicht nur einfach ganz allgemein um Ungleichheit und Gerechtigkeit geht. Die Verschränkung der Forschungsbereiche Wahrnehmung, Partizipation und Politischem Handeln spricht mich sehr an. Für mich persönlich ist besonders die Frage, wie Ungleichheit wahrgenommen wird, zentral.

Bei Ungleichheit stellt sich immer die Frage: Ungleichheit von was? Nehmen wir zum Beispiel die Trennung der Kinder im Anschluss an die vierte Klasse in unserem Schulsystem. Als Psychologin ist für mich interessant, wie die Lehrkräfte, die Eltern und die Kinder selbst diese Trennung und ihre Legitimation wahrnehmen. Wie beeinflusst das Ungleichheits- und Gerechtigkeitsempfinden der Lehrkräfte ihre Förderstrategien, ihre Übergangsempfehlungen und ihre Kommunikation mit den Eltern?
Die Mechanismen zu identifizieren, die bei der Wahrnehmung von Ungleichheit greifen, das ist für mich speziell das Interessanteste am Forschungsprogramm des Clusters. Ich glaube, für die Universität Konstanz insgesamt ist der Cluster extrem wichtig: So eine gemeinsame Struktur vereint Forschende aus den verschiedenen Fachbereichen, das macht es viel einfacher und zielführender, unsere Expertisen zu vereinen. Erst dann kann man gemeinsam Antworten auf Fragen finden, die für unsere Gesellschaft ja wirklich hochrelevant sind.

 

 

Paul Töbelmann

Von Paul Töbelmann - 31.10.2019