Warum egoistisches Handeln zu einem fairen Gruppenzustand führen kann

Physiker des Exzellenzclusters Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour der Universität Konstanz belegen eine 50 Jahre bestehende Hypothese, warum egoistisches Verhalten zur Bildung von Herden führt.

„Wenn Individuen aus rein egoistischen Motiven handeln, kann dies überraschenderweise zu einer fairen Situation innerhalb der Gruppe führen“, sagt Physikprofessor Clemens Bechinger. Das zeigt eine neue Studie seiner Gruppe im Rahmen des Exzellenzclusters Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour (CASCB) der Universität Konstanz.

Mit Computersimulationen erforschten sie, wie Herdentiere die Gefahr eines tödlichen Angriffs durch ein Raubtier verringern können. Ausgangspunkt der Studie ist die Vermutung, dass sich Individuen in einer Herde so zu ihren Nachbarn positionieren, dass das eigene Angriffsrisiko auf Kosten der Nachbarn reduziert wird. Dieses von William D. Hamilton 1971 entwickelte Szenario wird als egoistische Herde bezeichnet. Die Ergebnisse erschienen im Journal of Theoretical Biology.

„Unsere Studie zeigt, dass das rein egoistische Agieren von Gruppenmitgliedern, Vorteile auf Kosten ihrer Nachbarn zu erzielen, zu einer durchaus realistischen Gruppendynamik führt und letztendlich eine faire Situation herstellt, bei der alle Gruppenmitglieder dem gleichen Risiko ausgesetzt sind.“

Clemens Bechinger

Die Entstehung von Tierherden ist nicht notwendigerweise das Resultat eines sozialen Miteinanders. Ein Beispiel sind Robben: Vereinzelt sind sie ein leichtes Fressen für Orcas oder Haie. In einer Gruppe lebt es sich deutlich besser, da dann die Gefahr für einen Angriff auf viele Individuen verteilt wird. Dabei ist es im Gruppeninneren am sichersten, da sich dort die Tiere auf kleinstem Raum drängen. Ein Angriff gilt dort eher einem Nachbarn als einem selbst. Am Rand der Gruppe, wo Nachbarn nur noch vereinzelt vorhanden sind, steigt das Risiko für einen Angriff dagegen an. Jede Robbe versucht daher einen der begehrten Plätze im Inneren zu bekommen.
 

Eine egoistische Motivation führt zu einer fairen Risikoverteilung

Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (Reinforcement Learning) haben Clemens Bechinger und Kollegen erforscht, wie Individuen ihre Positionen optimal ändern müssen, um die Abstände zu Nachbarn möglichst gering zu halten und ihre individuelle Gefahrenzone zu verringern. „Eine solche Strategie erhöht zwangsläufig das Angriffsrisikos der Nachbarn, daher lässt sich dies als ein egoistisches Motiv bezeichnen“, erklärt Veit-Lorenz Heute.

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In Übereinstimmung mit Hamiltons Vermutung beobachten die Physiker, dass sich die zunächst einzeln verstreuten Individuen zu einer dichten Herde zusammenziehen, da hierbei jedes einzelne Individuum offensichtlich seine Gefahrenzone verringern kann.

„Die Berücksichtigung von Reinforcement Learning für die Erforschung von Kollektiven ermöglicht eine Reihe neuer Möglichkeiten für das Verständnis von Tierverhalten. Es bietet eine elegante Möglichkeit, die Frage zu stellen, wie adaptive Verhaltensweisen in dem komplexen sozialen Kontext entstehen können, der für Schwärme und Herden charakteristisch ist.“

Iain Couzin

Überraschend ist allerdings, was geschieht, nachdem sich die Herde gebildet hat. Dann ist nämlich das zeitlich gemittelte Angriffsrisiko aller Individuen exakt gleich. Offensichtlich gelingt es Mitgliedern im Zentrum nicht, ihre günstige Position gegen Individuen, die vom ungünstigen Rand ins Innere drängen, zu verteidigen. „Das liegt an der permanenten Bewegung aller Gruppenmitglieder, die die ‚Verteidigung‘ einer optimalen Position innerhalb der Gruppe erheblich unmöglich macht“, sagt Samuel Monter, der ebenfalls an der Studie beteiligt ist. Als Resultat dieses fortwährenden Kampfs um die besten Positionen innerhalb der Gruppe beginnt diese, um ihren Schwerpunkt zu rotieren. Genau dies findet auch bei vielen Tierherden statt. „Unsere Studie zeigt, dass das rein egoistische Agieren von Gruppenmitgliedern, Vorteile auf Kosten ihrer Nachbarn zu erzielen, zu einer durchaus realistischen Gruppendynamik führt und letztendlich eine faire Situation herstellt, bei der alle Gruppenmitglieder dem gleichen Risiko ausgesetzt sind“, fasst Bechinger zusammen.

„Wir haben schon seit langem Wirbel in Tiergruppen beobachtet, und diese Arbeit gibt Aufschluss darüber, warum das so sein könnte“, fügt Iain Couzin, Sprecher des Exzellenzclusters CASCB und Professor für Biodiversität und Kollektivverhalten an der Universität Konstanz, hinzu. „Wenn jedes Individuum versucht, das Risiko zu verringern, indem es sich anderen nähert, aber auch für Kollisionen bestraft wird, entstehen auf natürliche Weise rotierende Wirbel, wie wir sie bei Fischschwärmen und sogar bei einigen Herdentieren beobachten.“

Beitrag im Journal of Theoretical Biology: DOI: 10.1016/j.jtbi.2023.111433

Titelbild: pixabay

Elisabeth Böker

Von Elisabeth Böker - 14.02.2023