Zeit des Aufbruchs
Ein frischer Wind ist in den Konstanzer Kulturwissenschaften zu spüren. Wer derzeit mit Forschenden aus den Kulturwissenschaften ins Gespräch kommt, wird die feine Mischung aus Faszination und Pioniergeist kaum übersehen können. Ja, es ist eine besondere Zeit für die Konstanzer Kulturwissenschaften. „Eine Zeit des Aufbruchs, eine Phase der Neufindung“, schildert Prof. Dr. Christina Wald, Sprecherin des Zentrums für kulturwissenschaftliche Forschung (ZKF) an der Universität Konstanz. Neue Ideen zirkulieren, neue Projekte werden angeschoben, neue Forschungsverbünde werden geschmiedet. Doch was sind die Hintergründe für diese Zeit des Aufbruchs?
Der aktuelle Neubeginn wird vom Rückenwind einer Hochphase der Konstanzer Kulturwissenschaften vorangetragen: Von 2006 bis 2019 hatte der Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ die kulturwissenschaftliche Forschung an der Universität Konstanz zu einer neuen Höhe geführt. Der im Rahmen der Exzellenzinitiative geförderte Cluster erforschte die Prozesse von Integration und Desintegration auf allen sozialen Ebenen. Er bündelte die kulturwissenschaftlichen Forschungsaktivitäten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen, schuf damit eine gemeinsame Plattform der kulturwissenschaftlichen Expertise und bildete ein Zentrum im übergreifenden Konstanzer Forschungsschwerpunkt der Kulturwissenschaften.
Diese interdisziplinäre Arbeit wird nun nach Beendigung des Exzellenzclusters in neue inhaltliche Richtungen geführt. Die Forschenden des Clusters sowie der weiteren kulturwissenschaftlichen Forschungsbereiche der Universität Konstanz haben die Übergangszeit des auslaufenden Clusters genutzt, um neue Ideen zu entwickeln und neue Projekte anzuschieben. Gleich mehrere hochkarätige Förderprojekte wurden binnen dieses Übergangsjahres eingeworben und resultieren in der Gründung neuer kulturwissenschaftlicher Forschungsverbünde. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie inhaltlich eng zusammenarbeiten, sich in der Tradition des Exzellenzclusters verstehen und seine Forschung aufgreifen, aber seine Thematik inhaltlich weiterentwickeln. Prozesse der Integration und Desintegration sind nach wie vor zentrale Fragestellungen, doch sie werden erweitert durch neue Forschungsperspektiven: Unter anderem zur Migration von Personen, Ideen und ästhetischen Formen, zur gesellschaftlichen Selbstbeschreibung und ihren unterschiedlichen Auftritts- und Repräsentationskulturen sowie zu Erinnerungsorten und -kulturen.
Die neuen kulturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und -verbünde an der Universität Konstanz:
Das Zentrum für kulturwissenschaftliche Forschung (ZKF) wurde 2019 als Plattform für kulturwissenschaftliche Fragestellungen und den wissenschaftlichen Austausch eingerichtet. Hauptanliegen des Zentrums: Die Konstanzer Forschung im Bereich Kulturwissenschaften zu bündeln und weiterzuentwickeln, neue gemeinschaftliche Forschungsprojekte anzuschieben, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern und die internationale Zusammenarbeit weiter voranzutreiben. Damit knüpft das Zentrum für kulturwissenschaftliche Forschung an die Arbeit des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an.
In enger Anbindung an das ZKF forschen Konstanzer Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler im Rahmen des Dr. K. H. Eberle-Forschungszentrums „Kulturen Europas in einer multipolaren Welt“ zu politischen Entwürfen jenseits des Eurozentrismus. Zentrale Fragestellung ist dabei, wie angesichts von globalem Bedeutungsverlust und fortbestehender Vorbild- und Modellfunktion Europas neue Perspektiven auf die Vielfalt kultureller Dynamiken in Europa entwickelt werden können.
Jüngst im März 2020 bewilligte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Förderung des neuen Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) mit einem Teilinstitut an der Universität Konstanz. Das Forschungsinstitut ist ein Verbund aus elf Hochschul- und Forschungsinstituten in Deutschland mit insgesamt mehr als 100 beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die am Konstanzer Teilinstitut beteiligten Forschenden werden sich im Rahmen begrifflicher Grundlagenarbeit insbesondere der Frage widmen, welche Schlüsselbegriffe den gesellschaftlichen Zusammenhalt prägen und mit welchen identitätsstiftenden „Narrativen“ diese in Deutschland vermittelt werden. Ferner untersuchen sie den rechtlichen Wandel von Zugehörigkeit vor dem Hintergrund von Migration und Integration sowie den Einfluss der veränderten medialen Infrastrukturen und globalen Transformationserfahrungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Die Frage nach den kulturellen Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenhaltes wird ferner im Forschungsvorhaben „Gemeinsinn. Was ihn bedroht und was wir für ihn tun können“ aufgegriffen, das jüngst mit dem Dr. K. H. Eberle-Preis 2020 ausgezeichnet wurde. Das Projekt beschäftigt sich insbesondere mit der Frage, wie die Zivilgesellschaft mit der zunehmenden Gefahr durch Gruppierungen umgehen sollte, die sich nicht als Teil einer solidarischen Gemeinschaft verstehen.
Ebenfalls 2020 gab die NOMIS-Foundation die Förderung der Konstanzer Forschungsgruppe „Traveling Forms“ bekannt. Forschende aus der Literaturwissenschaft und Ethnologie untersuchen darin gemeinsam mit externen Fellows, wie kulturelle Formen über räumliche, zeitliche, kulturelle und soziale Grenzen hinweg „reisen“ und weitergegeben werden. Ein Beispiel hierfür ist die Wanderung von literarischen Gattungen durch unterschiedliche Überlieferungsformen und Publikationswege. Die Sprecherin der Forschungsgruppe Prof. Dr. Juliane Vogel wurde 2020 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2020 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ausgezeichnet und wird eine Leibniz-Preis-Forschungsgruppe zu Form und Poetik am ZKF ansiedeln.
Die neuen kulturwissenschaftlichen Projekte stehen ferner in engem Austausch mit bestehenden Forschungsverbünden, darunter das an der Schnittstelle zwischen Kunstwissenschaft und Kunsttechnologie forschende Graduiertenkolleg „Rahmenwechsel“, die medienwissenschaftlich ausgerichtete Forschungsgruppe FOR 2252 „Mediale Teilhabe“, die Forschungsgruppe FOR 2111 „Questions at the Interfaces“ im Bereich Linguistik sowie das Balzan-Projekt „Die Erinnerung in der Stadt rekonstruieren“.
Mit den genannten, eng vernetzten Forschungsverbünden sind die Konstanzer Kulturwissenschaften sehr gut aufgestellt. Die Planung ihrer Zukunft ist damit aber noch längst nicht abgeschlossen. Weitere kulturwissenschaftliche Forschungsinitiativen sind gegenwärtig in Vorbereitung und stehen kurz vor der Gründung. Es bleibt auch in Zukunft vielfältig in den Konstanzer Kulturwissenschaften.