Zelltod durch Strahlen- und Chemotherapie – zwei Seiten einer Medaille

Abgesehen vom chirurgischen Eingriff, der insbesondere in frühen Stadien der Krebsentwicklung erfolgreich sein kann, sieht die Krebstherapie weitere Möglichkeiten der Behandlung vor, darunter auch die Strahlen- und Chemotherapie.
© National Cancer Institute, Unsplash

„Der Ansatz, Krebs mit Bestrahlung oder Chemotherapeutika zu bekämpfen, ist schon älter und basiert eigentlich auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum“, so der Konstanzer Toxikologe Prof. Dr. Alexander Bürkle. Mittels energiereicher Strahlung bzw. bestimmter chemischer Stoffe werden idealerweise nur die Tumorzellen so unter Stress gesetzt, dass massive DNA-Schädigungen auftreten, die wiederum im Tod der entarteten Zellen resultieren.

Einige Tumorarten lassen sich so zwar komplett zerstören, die Problematik der Nebenwirkungen bleibt jedoch bestehen. Von einem tieferen Verständnis des Zelltodes und der Verwendung neuer Erkenntnisse in der Tumortherapie verspricht man sich daher langfristig Erleichterung für Patientinnen und Patienten, die während und nach der Therapie häufig an starken Begleiterscheinungen wie Haarausfall, Haut-, Leber- und Nierenproblemen oder auch Nervenschädigungen leiden.

So interessieren sich die Konstanzer Toxikologen insbesondere für die biochemischen Mechanismen, die beim Tod von Tumorzellen in Gang gesetzt werden, und dafür, wie sich diese von den Mechanismen unterscheiden, die beim Tod von normalen Zellen ablaufen. Dazu sagt Thomas Brunner, Professor für Biochemische Pharmakologie am Fachbereich Biologie:

„Wenn es hier einen Unterschied gibt, und wenn wir diesen Unterschied verstehen können, können wir hoffentlich künftig gezielt bei der Bekämpfung von Tumorzellen ansetzen, ohne gleichzeitig gesundes Gewebe zu zerstören und Folgeschäden in Kauf nehmen zu müssen.“

Prof. Dr. Alexander Bürkle

Zu den bekanntesten Folgeschäden bei der Strahlen- oder Chemotherapie gehören Haarausfall und Taubheitsgefühle in Finger- und Zehenspitzen. Diese treten auf, wenn Zytostatika – Substanzen, die die Entwicklung und Vermehrung von schnell wachsenden Zellen hemmen – oder Strahlen normale Zellen treffen und diese unbeabsichtigt schädigen. Die Anatomie der betroffenen Zelle ist entscheidend. „Bestimmte Zytostatika wie Vincaalkaloide stören das Skelett der Zelle, so dass diese keine Teilung mehr durchlaufen kann“, erklärt Bürkle.

Jede lebende Zelle besitzt durch ihr internes Zytoskelett eine gewisse Struktur, die durch innere Verstrebungen zustande kommt. Wenn Zellen sich auf die Teilung vorbereiten, kommt es unter Nutzung des Zytoskeletts zu einem geordneten Auseinanderweichen der Chromosomen. Werden jedoch Zytostatika eingesetzt, kann sich diese innere Struktur der Zelle nicht ausbilden und die Chromosomen können nicht ordnungsgemäß aufgeteilt werden – die Zelle stirbt. Dies betrifft besonders oft Hautzellen, die unter anderem auch das Haarwachstum bewerkstelligen, sowie Knochenmarkszellen und Darmzellen.

Das Zytoskelett bildet außerdem die sogenannten „Autobahnen des Zelltransports“. „Die Fortsätze von Nervenzellen werden beispielsweise bis zu einem Meter lang und durchziehen den gesamten Körper“, so Bürkle weiter. „Man kann sich das zelluläre Transportsystem wie die Schienen einer Bahn als langfädige, hochgeordnete Strukturen vorstellen, entlang derer sich Organellen und Stoffe innerhalb der Zelle in die eine oder andere Richtung bewegen.“ Die Störung des Zelltransports durch Chemotherapie wirkt sich vor allem bei besonders großen Zellen aus, wie den Nervenzellen, die vom Rückenmark zu Fingern und Zehen führen. Es kommt dadurch bei der Chemotherapie zu einem besonderen Zelltodvorgang, der nur den elektrisch leitenden Zellausläufer, nicht aber den Zellkörper betrifft. „Die Patientinnen und Patienten erfahren diese Beeinträchtigungen als Missempfindungen oder Taubheitsgefühle“, führt Bürkle aus.

Beim Verständnis der negativen Auswirkungen von Strahlung und chemischen Substanzen auf den Menschen und die Umwelt hakt die Toxikologie ein:

„Wir versuchen, mittels grundlagenwissenschaftlicher Beobachtung und gezielter Experimente diese Phänomene zu dokumentieren und zu verstehen, um letztlich Aussagen darüber machen zu können, welche Effekte bei welcher Dosis von Strahlen oder chemischen Substanzen auftreten.“

Prof. Dr. Alexander Bürkle

Dabei genügt es jedoch nicht, nur den Zelltod allein in den Blick zu nehmen. Denn auch im sogenannten  subtoxischen Bereich, der nicht unbedingt zum Tod der Zelle führt, können unter Umständen schon durch geringe Einwirkungen von Strahlen oder Medikamenten sehr subtile Veränderungen am Erbgut entstehen, ohne dass die Zellen selbst beeinträchtigt werden. „Diese sogenannte Mutagenese ist nicht zu unterschätzen“, erklärt Bürkle, denn gerade diese Veränderungen können zur Krebsentstehung beitragen (siehe „Zelltod und Zellalterung in der Tumorbiologie).
 
Als Grundlagenforscher interessiert er sich folglich insbesondere dafür, wie bestimmte Zytostatika – aber auch chemische Substanzen aus der Industrie oder Umwelt – zwar nicht unbedingt den Zelltod herbeiführen, aber dennoch mutagen wirken und somit ein hohes Krebsrisiko mit sich bringen. So hat die AG Bürkle einen Laborprototypen entwickelt, der bestimmte Schädigungen der DNA, die durch subtoxische Konzentrationen bestimmter Substanzen zustande kommen und zu einer sogenannten „Verrostung“ oder Oxidation der DNA führen können, quantitativ und automatisiert misst. Damit ist – im Rahmen eines Promotionsprojekts der Landesgraduiertenschule InViTe – ein neuartiges Testprotokoll entstanden, mit dem sich unter anderem neue Substanzen, wie sie in der Industrie entwickelt werden, auf schädigende Effekte testen lassen.

Weiterlesen: Zellreparatur als Alternative zum Zelltod (Kapitel 5 von 10)
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Tullia Giersberg

Von Tullia Giersberg - 03.08.2022

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