Ziel 4: Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern
Weltweit betrachtet hat der Anteil der Kinder, die zumindest eine Primarschule besuchen, in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. In unseren westlichen Demokratien denken wir bei dem UN-Ziel eines inklusiven und fairen Bildungssystems freilich weniger daran, ob Kinder überhaupt in die Schule gehen. Im Zentrum der Diskussion steht eher die Frage, wie gut es den jeweiligen Bildungssystemen gelingt, Kindern mit unterschiedlichen – sozialen, sprachlichen, gesundheitlichen etc. – Voraussetzungen die gleichen Chancen zum Erwerb der wichtigen Ressource Bildung zu bieten.
Im Vergleich der OECD-Länder wird Deutschland hier häufig eine eher schlechte Note gegeben. Die empirische Bildungsforschung zeigt, dass vor allem das elterliche Bildungsniveau einen starken Einfluss auf den Bildungserfolg der Kinder hat. Dies spiegelt teilweise wider, dass unser Bildungssystem Kinder früh sortiert und spätere, „nachholende“ Aufstiege auch am ehesten privilegierten Schülerinnen und Schülern gelingen. Eine wichtige Rolle spielt aber auch die Tatsache, dass viele Kinder in Deutschland nur halbtags in die Schule gehen. Dies begrenzt die Möglichkeiten in der Schule, die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder auszugleichen. Institutionelle und soziokulturelle Faktoren – in diesem Fall eine verbreitete Skepsis gegenüber einer zeitlich ausgedehnten „Fremdbetreuung“ – spielen hier zusammen. Dass die Chancen nicht gleich verteilt sind, wissen oder spüren die Kinder natürlich und nehmen Ungleichheiten wahr. Zur Wahrnehmung von Ungleichheit unter Schulpflichten haben wir gerade am Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ ein Projekt aufgelegt.
Wie stark sich soziokulturelle Unterschiede in der Betreuung auswirken, wird sich außerdem wohl bald anhand eines natürlichen Experiments untersuchen lassen. Während der Corona-Pandemie fiel wochenlang die Schule aus, und viele Kinder wurden zu Hause unterrichtet. Analog zum „summer setback“ – dem vor allem für Nordamerika gut untersuchten Sachverhalt, dass sich während der langen Sommerferien Bildungsungleichheiten verstärken – werden wir in Deutschland vermutlich einen „Corona setback“ beobachten können. Akademikerkinder werden – unterrichtet von ihren bekanntermaßen bildungsehrgeizigen Eltern – kaum längerfristige Nachteile erfahren. In Familien, in denen die Eltern diese Rolle nicht übernehmen können, drohen die Kinder leistungsmäßig zurückzufallen. Die egalisierende Rolle des Bildungssystems sollte also bei aller Kritik nicht übersehen werden.
Bei dem Ziel eines inklusiven und fairen Bildungssystems geht es allerdings nicht nur um Bildung im engeren Sinne. In Bildungseinrichtungen treffen sich im Idealfall Kinder aus ökonomisch und kulturell ganz unterschiedliche Familien. In einer inklusiven Schule bieten sich viele Möglichkeiten, Kontakte über die eigenen sozialen Kreise hinaus aufzubauen, mit anderen Meinungen, Sorgen und Gewohnheiten in Kontakt zu kommen und dadurch Verständnis für und Solidarität mit anderen zu entwickeln. Für die Fähigkeit von Gesellschaften, gemeinsam Probleme und Konflikte zu lösen, ist dies von essentieller Bedeutung.
Prof. Dr. Claudia Diehl ist Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz und Co-Sprecherin des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“. Ihre Forschungsinteressen gelten neben soziokulturellen Einflüssen auf den Bildungserfolg von SchülerInnen den Themen Migration, Diskriminierung und Integration von Zuwanderern. Claudia Diehl ist Mitglied im Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Zurzeit hat sie den Hannah-Arendt-Gastlehrstuhl an der University of Toronto (Kanada) inne.
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