Die Aushandlung Europas im Mittelmeerraum

Dr. Heinrich Hartmann erzählt in seinem Heisenberg-Projekt „Europäische Wissensnetzwerke und landwirtschaftliche Entwicklungskonzepte im Mittelmeerraum im 20. Jahrhundert“ die Geschichte Europas neu: aus der Perspektive seiner ländlichen Peripherien im Süden.
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Europa ist eine integrative Einheit, und Europa ist modern. So lauten zwei Narrative, die das Bild von Europa prägen. Der Historiker Dr. Heinrich Hartmann überprüft diese beiden europäischen Selbstverständnisse, indem er die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert aus der Perspektive dessen ländlicher Peripherien im Mittelmeerraum erzählt. Dazu formuliert er eine Hypothese: „Das Mittelmeergebiet hat als Entwicklungsgebiet Europas funktioniert. Entscheidend war jedoch, dass nicht zwischen einer nördlichen Mittelmeerregion, die zu Europa gehört, und einer südlichen, die eher zu Afrika und Asien gehört, unterschieden wurde.“ Dieses ganzheitliche Verständnis der Mittelmeerregion hat eine lange Tradition und reicht bis weit vor den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück.

„Noch bis in den frühen Nachkriegsjahrzehnten wird der Mittelmeerraum als geschlossener und zusammengehöriger Raum wahrgenommen, jedoch stark geprägt von Unterentwicklungsdiskursen“, sagt der Historiker Hartmann, der assoziiertes Mitglied der „Konstanzer Mittelmeer-Plattform“ ist, die die kulturwissenschaftliche Mittelmeerforschung an der Universität Konstanz bündelt. Tatsächlich war die Türkei bis in die 1970er Jahre Teil dieses Europas. Ebenso zählte Algerien dazu, zumindest während der französischen Kolonialherrschaft. „Wir wollen auch schauen, was für Erwartungen damit verbunden sind, wenn sich beispielsweise die Türkei mit der EU beschäftigt“, so Hartmann.

Wie sieht dieser Europabegriff aus, wenn man ihn offenlässt, wenn man berücksichtigt, wer dazugehören darf, wer nur partiell oder zeitweise? „Das Europa, das noch nicht mit der EWG oder gar EU deckungsgleich ist, wird gestaltet durch semi- oder kryptokoloniale Beziehungen, die viele Länder im Mittelmeerraum hatten. Dies auch durch Organisationen wie die Europäische Freihandelsassoziation, EFTA, oder die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, die sich in dieser Zeit bildeten und wesentlich von solchen Mental Maps, subjektiven Bildern einer Region, geprägt waren", so Heinrich Hartmann.

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„Es gibt viele überlappende Raumordnungen. Was dann als EWG herauskam, war nur eine mögliche Option.“

Dr. Heinrich Hartmann

In seinem Heisenberg-Projekt „Europäische Wissensnetzwerke und landwirtschaftliche Entwicklungskonzepte im Mittelmeerraum im 20. Jahrhundert“ geht der Privatdozent an der Professur für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz das Thema mit einem wissens- und wissenschaftshistorischen Ansatz an. „Wir schauen uns Netzwerke an, die sich langfristig etabliert haben, und versuchen über diese Netzwerke ein komplexes Verständnis von europäischen Grenzziehungen zu bekommen.“ Im Fokus steht der Zusammenhang zwischen der Modernisierung von Landwirtschaft und ländlichen Gesellschaftsformen.

Mit dem Thema knüpft Heinrich Hartmann an seine Habilitationsschrift an, in der er sich unter anderem mit deutschen Exilwissenschaftlern in der Türkei beschäftigt hat, die bereits in den 1920er Jahren und auch während des Nationalsozialismus dort tätig waren. „Sie hatten immer eine klare Vorstellung davon, wie die Türkei bzw. das Mittelmeergebiet als Ganzes als landwirtschaftlicher Reserveraum Europas zu funktionieren hat. Diese Leute sind bei der Gestaltung von Nachkriegseuropa sehr wichtig geworden.“ Waren also Unterentwicklung und Modernisierung auch innerhalb Europas wirkmächtige Wahrnehmungsmuster, die als Hintergrund für die Integrationspolitik im Mittelmeerraum zu verstehen sind?

„Ich werde außerdem untersuchen, inwieweit der Mittelmeerraum als Erbe kolonialer Entwicklungspraktiken funktioniert.“

Dr. Heinrich Hartmann

Er recherchiert in diesem Zusammenhang Karrierewege von Menschen, die in der mediterranen Entwicklungspolitik tätig waren: von Deutschen, die schon während des Nationalsozialismus als Migranten dorthin gegangen sind, auch von französischen und britischen Experten, die nach Ende der Kolonialzeit in der mediterranen Region ihre Politik weiterführten – Personen, die mit diesem Hintergrund in der EU-Administration Karriere machten. „Ich finde es besonders aufschlussreich, eine längere Chronologie ihrer Tradition in den Blick zu bekommen und zu schauen, was deren Konzepte sind oder woher sie ihren Einfluss haben.“ Dabei werden auch Zeitzeugen, so es sie noch gibt, zu Wort kommen.

Die Fragestellungen werden im Heisenberg-Projekt in zwei Teilprojekten geklärt: Das Teilprojekt „Die Soziologie der ländlichen Moderne“ untersucht in einem wissenschaftshistorischen Ansatz, wie die soziologischen Umschreibungen der ländlichen Gebiete im Mittelmeerraum funktionieren, wie versucht wird, Dörfer neu zu beschreiben und anhand konkreter Pläne zu gestalten, immer in Absetzung dessen, was sich soziologisch in Zentraleuropa vollzieht. Zu jener Zeit hatte der Topos mediterraner Unterentwicklung – als Antipode des industrialisierten Nordeuropas – einen festen Platz im Kanon soziologischer Forschung.

Die Frage der Definition von Rückständigkeit wurde auch zu einer Frage der Technik und der Methoden, mit denen sie angegangen wurde. Ein wichtiger Untersuchungsstrang wird insbesondere die Geschichte der Soziologie und Ethnologie sein, die ihre Methoden teilweise aus kolonialem Hintergrund heraus entwickelt haben und sie jetzt auf den Mittelmeerraum anwenden.


Das zweite Teilprojekt beleuchtet unter der Überschrift „Beratung als transnationale Kulturtechnik im ländlichen Kontext“ die Geschichte des ländlichen Beratungswesens in verschiedenen mediterranen Regionen. Beispielsweise entstanden in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in der Türkei, in Tunesien und Spanien landwirtschaftliche Musterbetriebe, in denen sich von deutscher Seite zahlreiche ehemalige Exilwissenschaftler engagierten. So wurde versucht, das Genossenschaftswesen einzuführen, wie man auch neue Züchtungen – bekannt sind die Weizenzüchtungen –, aber auch die Züchtung von neuen Tierrassen ausprobierte.

Mit in Betracht gezogen wird dabei immer auch der Austausch zwischen dem Mittelmeerraum und Westeuropa, die Neuverhandlung von Modernisierungskonzepten. In Wahrheit nämlich war die Wissensvermittlung keine Einbahnstraße, wenn die Experten aus dem Norden auf Menschen stießen, die gleichfalls bewährtes Wissen zu bieten hatten. Das Projekt wirft damit einen neuen Blick auf die Geschichte ländlicher Gesellschaften und Wirtschaftsformen, die lange nur aus der verengten Perspektive der Nationalgeschichte betrachtet wurden.

Der Untersuchungszeitraum des Heisenberg-Projekts endet in den 1970er Jahren, als die europäische Integrationspolitik Hochkonjunktur hatte. Da ist der Prozess der Abgrenzung des südeuropäischen Mittelmeerraums von den nordafrikanischen und asiatischen Teilen beendet. Diese Abgrenzung hat Folgen bis heute. Gerade in der Türkei sieht der Historiker Hartmann, der ein Jahr lang in dem Land lebte, ein aufschlussreiches Beispiel, wie aus einer wirtschaftlichen Gemeinschaft durch „kulturalistische Überstülpungen“ Gegensätze werden. Es kamen plötzlich Zuschreibungen wie die einer grundsätzlichen Differenz zwischen islamischem und christlichem Kulturraum auf. „In den 50er Jahren wäre es niemandem eingefallen, so zu argumentieren“, sagt Heinrich Hartmann.

Das Heisenberg-Projekt „Europäische Wissensnetzwerke und landwirtschaftliche Entwicklungskonzepte im Mittelmeerraum im 20. Jahrhundert“ an der Universität Konstanz wird seit dem Wintersemester 2021/2022 durch das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Der Förderungszeitraum ist maximal fünf Jahre. Es handelt sich um ein internationales Kooperationsprojekt, das auch eine umfangreiche interne Zusammenarbeit im Fachbereich Geschichte und Soziologie sowie im weiteren Umfeld der Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Konstanz einschließt.

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Heinrich Hartmann konzentriert sich in seiner Forschung auf Themen der europäischen Geschichte in ihrer globalen und transnationalen Vernetzung. In den vergangenen zehn Jahren setzte er sich verstärkt mit Fragen ländlicher Modernisierung auseinander und untersuchte dabei die Verbindung zwischen europäischen Projekten „innerer Kolonisierung“ und den internationalen Modernisierungspolitiken im 20. Jahrhundert. Die Frage ländlicher Bevölkerungen und ihrer Regulierung spielte dabei eine besonders wichtige Rolle. In seiner Habilitationsschrift beschäftigt er sich mit dem Einfluss internationaler Experten auf die ländliche Entwicklungspolitik in der Türkei im 20. Jahrhundert. Das daraus hervorgegangene Buch „Eigensinnige Musterschüler“ ist 2020 open access erschienen.

Dr. Maria Schorpp

Von Dr. Maria Schorpp - 20.01.2022