Die Chemie des Mineral-Kunststoffs

Das neuartige Material aus dem Labor von Helmut Cölfen besteht aus nur vier Grundzutaten: Polyacrylsäure, Kalziumchlorid, Natriumkarbonat und Wasser. Bei richtiger Vermengung und Verarbeitung entsteht aus ihnen der Mineral-Kunststoff mit all seinen besonderen Eigenschaften. Im Folgenden schauen wir uns die chemische Zusammensetzung des Kunststoffes etwas genauer an.
© Helmut Cölfen, Schematische Darstellung der Synthese des Mineral-Kunststoffs

Langkettige Säuren als Basis
Der Hauptbestandteil des Mineral-Kunststoffes in seiner derzeitigen Form ist die Polyacrylsäure. Diese ist als Multitonnenprodukt käuflich erwerblich und kommt zum Beispiel als Wasserenthärter oder auch als sogenannter „Superabsorber“ in Einwegwindeln zum Einsatz. „Für die Kunststoffherstellung ist wichtig, dass es sich bei der Polyacrylsäure um ein sehr langes und kettenförmiges Molekül handelt“, erläutert Cölfen.

Wird Polyacrylsäure in Wasser gegeben, verliert sie einige ihrer zuvor gebundenen Wasserstoff-Ionen. ChemikerInnen sprechen dabei auch von einer „Deprotonierung“ der Säure. Da Wasserstoff-Ionen eine positive Ladung tragen, hat die Deprotonierung zur Folge, dass entlang der kettenförmigen Polyacrylsäure-Moleküle negative Ladungen zurückbleiben.

Kalzium-Ionen als „Bindemittel“
Gibt man nun zusätzlich Kalziumchlorid, die zweite Grundzutat des Mineral-Kunststoffs, ins Wasser, löst sich das Kalziumchlorid – vergleichbar mit Kochsalz in Wasser – in seine Bestandteile auf. Es entstehen dabei doppelt positiv geladene Kalzium-Ionen (Ca2+) und einfach negativ geladene Chloridionen (Cl-). In der wässrigen Lösung befinden sich folglich sowohl die mehrfach negativ geladenen Ketten der Polyacrylsäure als auch die doppelt positiv geladenen Kalzium-Ionen.

© Inka Reiter

„Weil sich entgegengesetzte elektrische Ladungen bekanntermaßen anziehen, lagern sich die Kalzium-Ionen an die negativ geladenen Polyacrylsäure-Ketten an.“

Prof. Dr. Helmut Cölfen

Da die Kalzium-Ionen gleich zwei positive Ladungen besitzen, können sie auch mit je zwei negativen Ladungen der Polyacrylsäure-Moleküle eine elektrostatische Bindung eingehen. Liegen diese auf unterschiedlichen Molekülketten, was in der Regel der Fall ist, werden über das Kalzium-Ion zwei der langkettigen Säure-Moleküle miteinander verbunden und es entsteht ein sogenannter Netzwerkpunkt. Waren es zuvor noch einzelne lineare Polyacrylsäure-Moleküle, die in der Lösung herumschwammen, entsteht so mit der Zeit ein komplexes Netzwerk. ChemikerInnen bezeichnen ein solches Netzwerk in wässriger Lösung auch als Hydrogel.

Das Mineral im „Mineral-Kunststoff“
Eine Erhöhung des pH-Wertes in der wässrigen Lösung durch Zugabe einer Base verstärkt die Deprotonierung der Polyacrylsäure und damit die Netzwerkbildung. „Je mehr negative Ladungen ich habe, desto mehr Netzwerkpunkte bilden sich mit den Kalzium-Ionen. Wenn ich in dem Glas mit der Lösung fleißig rühre, fällt bei steigendem pH-Wert daher irgendwann das weiße Hydrogel aus und klebt am Rührer fest“, verbildlicht Cölfen. Nach und nach bleiben so immer mehr kleine Hydrogel-Stückchen aneinander kleben und es entsteht ein weißer, kaugummiartiger Körper.

Als Base zur Erhöhung des pH-Wertes nutzen Cölfen und sein Team bei der Synthese die dritte Zutat ihres Mineral-Kunststoffs, Natriumkarbonat („Waschsoda“). Dieses bildet in wässriger Lösung Carbonat-Ionen (CO32-), die zusammen mit den Kalzium-Ionen schwer lösliches Kalziumkarbonat bilden können. Kalziumkarbonat ist ein typisches Mineral, das umgangssprachlich gerne als „Kalk“ bezeichnet wird. Der entstandene Kalk lagert sich in winzigen Partikeln in dem Hydrogel an und ist der Grund, warum das Material als „Mineral-Kunststoff“ bezeichnet wird.

Vom Aufbau zu den Eigenschaften
„Die Mineralpartikel in unserem Kunststoff sind sehr, sehr klein. Nur ein bis zwei Nanometer pro Partikel. Das ist im Vergleich zu einem Meter etwa die Größe eines Zuckerwürfels im Vergleich zur Erde“, veranschaulicht Cölfen die Größenordnung. Die geringe Größe der Partikel hat zur Folge, dass auf den Kunststoff fallendes Licht kaum mit diesen wechselwirkt. Das Material ist daher im ausgehärteten Zustand transparent. Trotz der geringen Größe verleihen die Mineraleinlagerungen dem Material jedoch seine ungewöhnliche Härte und Hitzeresistenz.

„Herkömmlicher Kunststoff besteht in der Regel ebenfalls aus langen Polymerketten. Diese können jedoch gegeneinander gleiten. Wenn ich an einem solchen Kunststoff kratze, dann verschiebe ich die Polymerketten gegeneinander und bekomme einen Kratzer.“

Prof. Dr. Helmut Cölfen

Befinden sich aber kleine Netzwerkpunkte im Material, welche die Polymerketten zusammenhalten und zusätzlich auch noch hart sind, dann ist es viel schwerer, die Polymerketten gegeneinander zu verschieben. Das Material wird daher kratzfest, hart und hitzeresistent. „Die Eigenschaften unseres Kunststoffs können also direkt aus seinem Aufbau verstanden werden“, resümiert Cölfen.

Dr. Daniel Schmidtke

Von Dr. Daniel Schmidtke - 10.05.2021

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