Selbstheilender Kunststoff aus Konstanz

Ein Kunststoff, der sich selbst heilt und leicht recycelt werden kann: Vor nunmehr fast fünf Jahren stellten der Konstanzer Chemiker Prof. Dr. Helmut Cölfen und sein Team in der Fachzeitschrift Angewandte Chemie ihren neuen, bioinspirierten Kunststoff vor. Der „Mineral-Kunststoff“ ist von seinem Herstellungsverfahren bis hin zu seinen Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten innovativ und stößt auf großes Interesse seitens der Industrie. Wir sprechen daher erneut mit dem Wissenschaftler, um mehr über das Material zu erfahren und herauszufinden, welche Gemeinsamkeit es mit der Schale von Garnelen hat.

Kunststoffe sind in unserem Alltagsleben allgegenwärtig. Kaum ein Produkt kommt heute noch ohne „Plastik“ aus, was an der vergleichsweise günstigen Herstellung von Kunststoffen und ihrer guten Verarbeitbarkeit liegt. Diese Vorteile bringen jedoch auch Nachteile mit sich: Ein hoher Prozentsatz des weltweit produzierten Kunststoffs wird zu Wegwerfartikeln verarbeitet und aufgrund ihrer Langlebigkeit stellen Kunststoffabfälle in der Natur ein zunehmendes und globales ökologisches Problem dar. Der derzeitige Mineral-Kunststoff aus dem Labor von Helmut Cölfen an der Universität Konstanz zeichnet sich durch seine hohe Recycelbarkeit aus. Aktuelle Projekte der Arbeitsgruppe Cölfen und seiner KooperationspartnerInnen zielen darauf ab, den Abbau des Kunststoffs in der Natur zu beschleunigen oder ihn aus vollständig nachhaltigen Rohstoffen herzustellen.

Energieeffiziente Herstellung
Herkömmliche harte Kunststoffe fallen in zwei Kategorien, Thermoplaste und Duroplaste. Thermoplaste werden durch Erwärmung aufgeschmolzen und können anschließend in Form gebracht werden. Dieser Vorgang ist prinzipiell wiederholbar, wie zum Beispiel beim Recycling von Getränkeflaschen aus Polyethylenterephthalat (PET), aufgrund der benötigten Wärme jedoch energetisch kostspielig. Duroplaste, wie Harze, können hingegen nach ihrer finalen Aushärtung nicht mehr verformt werden. Sie sind deshalb kaum recycelbar.

Bereits in seiner Herstellung und Verarbeitung unterscheidet sich der neuartige Mineral-Kunststoff daher vollständig von diesen herkömmlichen Kunststoffen. „Die Herstellung unseres Kunststoffs ist anders als alles, was es bisher gab. Wir stellen ihn bei Raumtemperatur und in Wasser als Lösungsmittel her. Wenn Sie wollten, könnten Sie das zu Hause in einem Wasserglas und mit einem Löffel zum Rühren selbst machen“, erzählt Cölfen begeistert.

© Helmut Cölfen

Weiterführende Informationen zur Synthese des Mineral-Kunststoffs erhalten Sie in dem Begleitartikel "Die Chemie des Mineral-Kunstoffs".

Formbar wie Kaugummi, selbstheilend und einfach recycelbar
Bei seiner Herstellung in Wasser bildet der Mineral-Kunststoff aus seinen Grundzutaten – Polyacrylsäure, Kalziumchlorid und „Soda“ – ein sogenanntes Hydrogel, welches in Farbe und Konsistenz an gekautes Kaugummi erinnert: In dieser gequollenen Form ist der Kunststoff weiß und lässt sich durch Ziehen und Pressen beliebig in Form bringen. Im trockenen, ausgehärteten Zustand ist das Material hingegen transparent wie Glas, mehrfach härter als herkömmliches Acrylglas und dabei äußerst biegsam.

Während diese Eigenschaften an sich schon interessant sind, ist ein weiterer Clou, dass der Mineral-Kunststoff mithilfe von Wasser aus der festen Form zurück ins Hydrogel überführt werden kann. Ohne jeglichen Energieeinsatz lässt sich der Kunststoff daher beliebig umformen und anschließend neu aushärten, sprich recyceln. Außerdem kann der Kunststoff durch Säuren, wie Zitronensäure, vollständig aufgelöst und durch anschließendes Anheben des pH-Wertes mit Soda als neues Hydrogel generiert werden. Hinzu kommt, dass das Hydrogel selbstheilend ist.

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Schneidet man das Hydrogel an, verschließt sich der Schnitt innerhalb von wenigen Sekunden von selbst.

Wird es angeschnitten, bildet sich der Schnitt innerhalb von wenigen Sekunden zurück. „Stellen Sie sich vor, die Schutzfolie ihres Handybildschirms ist zerkratzt. Wäre sie aus Mineral-Kunststoff, könnten Sie einfach etwas Wasser auf den Kratzer geben. Der Kunststoff würde sich dann lokal in das selbstheilende Hydrogel umformen und die Kratzer würden sich von selbst wieder verschließen. Nach Trocknung hätten Sie dann eine heile Schutzfolie“, veranschaulicht Cölfen eine mögliche Anwendung. 

Mineral-Schaumstoffe als feuerfestes Dämmmaterial
Ein weiterer entscheidender Unterschied zu Thermoplasten ist, dass der Mineral-Kunststoff unter Hitzeeinfluss nicht schmilzt. Im Gegenteil: Er wird bei Erwärmung härter. Erst ab etwa 400-450°C zersetzt sich der Kunststoff, wie jeder andere Kunststoff auch. Diese Hitzebeständigkeit sowie seine schlechte Brennbarkeit, die auf dem hohen Mineralanteil beruht, machen ihn als mögliches Dämmmaterial interessant. Hierfür ist es jedoch notwendig, den Kunststoff in eine leichtere Schaumstoffform zu überführen, was Cölfen und sein Team vor technische Herausforderungen stellte. „Ein Hydrogel ist zwar gut formbar, aber nicht gut aufzuschäumen. Wir konnten dieses Problem jedoch zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen von der Universität Stuttgart lösen“, schildert Cölfen.

Der vollständige Syntheseweg des Mineral-Kunststoffschaums wurde kürzlich durch Prof. Dr. Cosima Stubenrauch und ihren Doktoranden Philipp Menold vom Institut für Physikalische Chemie der Universität Stuttgart sowie von Helmut Cölfen in der Fachzeitschrift Materials Horizons veröffentlicht. „Das Geheimnis der Herstellung des Schaums liegt darin, den Kunststoff nicht in seiner Hydrogel-Form aufzuschäumen, sondern in einer flüssigen Vorstufe. Erst danach wird der entstandene Schaum in die Hydrogel-Form überführt und letztendlich zum Aushärten gebracht“, so Cölfen.

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Im Vergleich zu anderen Kunststoffen ist der Mineral-Kunststoff sehr schlecht brennbar.

Hohes Interesse seitens der Industrie
Cölfen und seine KooperationspartnerInnen meldeten den Mineral-Schaumstoff inzwischen gemeinsam zum Patent an und suchen derzeit nach Möglichkeiten für die Herstellung des Dämmstoffs im Industriemaßstab. Das Interesse an dem neuen Material von Seiten der Wirtschaft ist groß und kommt vor allem aus der Bau- und Fahrzeugindustrie, die den Dämmstoff zur Isolation von Gebäuden und Fahrzeugen verwenden wollen. Doch auch für das zweite Endprodukt, die massive Form des Kunststoffs, gibt es bereits erste Anfragen von Unternehmen.

Die Garnele als Ideengeberin
Die ursprüngliche Idee für den Mineral-Kunststoff hatte laut Cölfen einer seiner Postdocs, Dr. Shengton Sun. Dieser hat sich den Aufbau von Krabben- und Garnelenschalen genauer angeschaut und sich von diesen inspirieren lassen. „Genau wie wir in unserem Mineral-Kunststoff, lagern Garnelen winzige Partikel aus Kalziumcarbonat, sprich ‚Kalk‘, in ihren Chitinpanzern ein. Das macht ihre Schalen extrem hart, obwohl sie so dünn sind“, erläutert Cölfen die Idee von Herrn Sun. Da die Schale einer Garnele nicht mit dem Tier mitwachsen kann, müssen sich Garnelen ihr Leben lang häuten. Hier hat der Mineral-Kunststoff also aufgrund seiner Recycelbarkeit einen deutlichen Vorteil gegenüber dem natürlichen Vorbild.

Es gibt jedoch auch einen entscheidenden Nachteil: Im Gegensatz zu den Schalen der Krebstiere, die im Meer schnell und effektiv durch Bakterien abgebaut werden, sollte der Mineral-Kunststoff in seiner derzeitigen Form, genau wie andere Kunststoffe, nicht unkontrolliert in die Umwelt gelangen. „Trotz all der großartigen Eigenschaften und der Recycelbarkeit unseres Mineral-Kunststoffs ist die Polyacrylsäure als Bestandteil noch ein Wermutstropfen, da sie nicht gut biologisch abbaubar ist“, erklärt Cölfen.

Die Suche nach nachhaltigen Alternativen
In ihren aktuellen Projekten arbeiten Cölfen und sein Team daher mit Hochdruck an möglichen Alternativen. Sie erproben zum Beispiel die Herstellung eines Mineral-Kunststoffs unter Verwendung einer biologisch abbaubaren Polysäure anstelle von Polyacrylsäure. Einige dieser Polysäuren sind ebenfalls in industriellen Mengen erwerblich, basieren teils auf nachwachsenden Rohstoffen und sind vollständig durch Bakterien abbaubar. „Wenn es uns gelänge, die Polyacrylsäure in dem Mineral-Kunststoff durch ein natürliches Polymer zu ersetzen, hätten wir ein komplett nachhaltiges und biologisch abbaubares Material, das dennoch all die tollen Eigenschaften unseres jetzigen Mineral-Kunststoffs hätte“, schlussfolgert Cölfen.

Titelbild: Nachkolorierte elektronenmikroskopische Aufnahme des Mineral-Kunststoffschaums. © Helmut Cölfen

Dr. Daniel Schmidtke

Von Dr. Daniel Schmidtke - 10.05.2021

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Das neuartige Material aus dem Labor von Helmut Cölfen besteht aus nur vier Grundzutaten: Polyacrylsäure, Kalziumchlorid, Natriumkarbonat und Wasser.